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5 Fahrt zu den Eltern

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Herr Gronau war ein bedächtiger Fahrer. Er fuhr langsam und gemütlich die Landstraße entlang. Das gefiel Eleonore.

„Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut“, sagte sie.

„Was?“, fragte er erstaunt nach.

„Dass Sie mit so einem Sportwagen so gemach fahren können.“

„Ich habe schließlich Frau und Kind und möchte noch länger Ehemann und Vater sein. Man hört heute immer öfter von Autounfällen, die aus Unvernunft passieren. Mein Schwiegervater verstarb unglücklicherweise vor kurzem bei einem Autounfall. Gerade im letzten Spiegel gab es zum Thema steigender Autounfälle einen interessanten Artikel. In Schleswig-Holstein waren in den Nachkriegsjahren die Zulassungen beschränkt. In diesen Jahren lag auf 100 Kilometern Basalt durchschnittlich pro Kilometer und Jahr nur ein Auto im Straßengraben“, dabei betonte er das Wort „nur“ ironisch. „Jetzt sind die Kraftfahrzeugzulassungen stark angestiegen und 1949 gab es allein auf der Bundesstraße 4 zwischen Kiel und Hamburg 301 Unfälle. Das heißt, jetzt sind es auf dieser Strecke schon allein über drei Unfälle pro Kilometer.“

Die statistischen Auswertungen interessierten Eleonore gerade nicht so sehr, aber sie war ziemlich verblüfft, zu erfahren, dass Herr Gronau verheiratet war. Das hätte sie sich eigentlich denken können, dass so ein gutaussehender Mann bereits vergeben war. Nun schaute sie auf seine Hände und sah auch den Ehering an der rechten Hand. Um ihre Verblüffung zu vertuschen, fragte sie:

„Lassen Sie mich raten: Bei so vielen Zahlen, die Sie im Kopf haben, können Sie nur Mathematiklehrer sein?“

„Ja, richtig! Außerdem unterrichte ich auch Sport.“

Herr Gronau informierte Eleonore noch über einige Details des pädagogischen Konzepts an seiner Schule in Preetz. Dann stellte er fest:

„Schauen Sie! Wir erreichen gerade Kiel. Sehen Sie da vorn das Ortsschild?“

Mit der rechten Hand zeigte er auf das gelbe Schild. Eleonore schaute in die gezeigte Richtung und wunderte sich, schon in Kiel angekommen zu sein und wie kurz ihr die Strecke diesmal vorkam. Herr Gronau bog kurz hinter dem Ortsschild rechts in Richtung Kiel-Gaarden ab und schaute Eleonore fragend an.

„Da vorne bitte, links geht es in die Ostlandstraße und gleich am Anfang rechts wohnen meine Eltern“, gab Eleonore dem Fahrer Anweisung. Herr Gronau bog um die Ecke und fuhr langsam weiter.

„Das zweite Haus dort ist es“, fügte sie zaghaft hinzu. Jedes Mal fühlte sie sich sehr unwohl, wenn sie sich ihrer alten Heimat näherte. Lutz Gronau hielt vor dem angezeigten Haus. Eleonore und Rusty stiegen aus. Eleonore schaute sich um und hielt die noch offene Wagentür fest. Vor ihr stand ein großes Mehrfamilienhaus mit vier Stockwerken und einer eintönigen Fassade, die nicht sehr ansprechend aussah. Roter Klinker, dreckige, marode Fensterscheiben, sie hätten alle dringend einen Anstrich nötig, Müll vor der Haustür und kein Baum in Sicht. Das eine oder andere Fenster war zugeklebt, weil die Scheiben zerbrochen waren! Einige Klinker fehlten in dem Mauerwerk. Hier gab es nichts Anziehendes anzusehen, alles war sehr trostlos, grau und beklemmend.

Man sah fünf Eingangstüren zu diesem großen Wohnblock. Sie befanden sich in gleichmäßigen Abständen und unterschieden sich optisch in nichts. Eleonore war es schon passiert, dass sie aus Versehen in den falschen Eingang gegangen war. Erneut wunderte sie sich darüber, wie die kleinen Kinder immer wieder ihren eigenen Hauseingang fanden, zumal dies nicht das einzige Mietshaus war, sondern sich ein Wohnblock an den nächsten reihte.

Während sie sich noch an die Wagentür klammerte und Rusty freudig um sie herum lief, schaute sie nach oben zum vierten Stock, wo ihre Eltern mit Anna lebten. Nichts Einladendes gab es an diesem Haus, nichts. Alles war trist und deprimierend. Vor ihren Augen sah sie die Wohnung ihrer Eltern. Es war eine sehr dunkle Dachgeschosswohnung mit wenigen kleinen Fenstern. Schon beim Betreten verbreitete sie eine bedrückende Stimmung. Weder eine Pflanze, noch Gardinen gab es, was das Ganze etwas wohnlicher und netter hätte aussehen lassen. Die Toilette war auf halber Höhe im Treppenhaus und man teilte sie sich mit drei anderen Bewohnern der zwei anderen Wohnungen im gleichen Stockwerk. Das WC konnte nicht beheizt werden und war im Winter öfter zugefroren. Es stank darin erbärmlich. Eleonore war so froh, dieser Wohngegend entkommen zu sein. Schon damals während des Praktikums in Rönne fühlte sie sich in dem kleinen gemütlichen Zimmer über der dortigen Dorfschule wesentlich wohler als hier. Ihr kleines Zimmer hatte sie sich immer heimelig hergerichtet. Aber am meisten genoss sie die Natur um Rönne. Aber auch ihr kleines Zimmer, welches sie sich später in Elmschenhagen gemietet hatte, war hundertmal heimeliger, als diese kalte Wohnung hier in Gaarden.

Und wie schön wohnte sie jetzt in Wittenberg in dem hübschen alten Schulgebäude, das sie für sich alleine hatte! Es war dort großartig. Dazu die weiten Wiesen ringsherum und die herrlichen Wälder! Durch nichts waren sie zu ersetzen. Sie liebte die Klänge der Natur, den Wind, die Vögel, das Rauschen der Blätter, das Zirpen der Grillen.

Eleonore schaute zum Himmel empor. Hier sah man nicht einmal richtig die Wolken. Wie liebte sie es, den Wolken zu folgen und sie am Horizont verschwinden zu sehen. Hier in dieser Gegend konnte man nur ein kleines Stück davon erblicken. Überall sah man nur Dächer und den Qualm aus den Schornsteinen, wenn es kälter wurde.

Anna und Eleonores Lieblingsspiel konnten sie hier nie spielen. Dazu legten sie nämlich sich auf eine Wiese, schauten lange in den Himmel und beobachteten die Wolken. Wer als erstes eine Figur oder irgendetwas Fantasievolles darin erkannte, durfte eine Geschichte erzählen. Er konnte so lange erzählen, bis der Himmel keine passenden Bilder mehr für die Geschichte hergab. Für jedes Wolkenbild in der Geschichte gab es dann einen Punkt. Erst wenn kein Bild mehr passte, durfte der andere weiter erzählen. Für dieses Spiel eignete sich ein windiger Tag mit vielen Wolken. Hier in Kiel-Gaarden zwischen den Wohnblocks blieb einem gar nicht genug Zeit, über eine Geschichte nachzudenken, da die Wolken so schnell aus dem Blickfeld verschwanden und man die nächste Wolke gar nicht früh genug sah, um sie geschickt in der Geschichte unterzubringen.

Schlagartig packte Eleonore großes Mitleid für Anna. Hier gab es weit und breit keine Wälder, Wiesen oder Seen, Kinder mussten auf der Straße spielen. Sie saßen zum Teil auf den schmutzigen Bürgersteigen und schauten dem vorbeifahrenden Verkehr nach. Einige Kinder spielten Fußball auf der Straße. Immer, wenn ein Auto kam, mussten sie ihr Spiel unterbrechen und das war nicht selten. Das hier noch kein Kind totgefahren wurde, wunderte Eleonore immer wieder.

Abrupt wurde sie sich bewusst, dass sie schon länger auf dem Gehweg stand, die Autotür von Herrn Gronaus Wagen noch in der Hand. Sie erschrak und schaute zu ihm ins Auto. Herr Gronau hatte sie die ganze Zeit beobachtet und spürte ihre Bedrückung. Er hatte gewartet, bis sie aus ihrer Gedankenwelt zurückkam. Sie war rot angelaufen und schämte sich, ihn solange warten gelassen zu haben und sagte schnell:

„Oh, Entschuldigung, Herr Gronau! Ich wollte sie nicht so lange warten lassen. Es tut mir so leid, sie hier so lange stehen gelassen zu haben.“

Sie versuchte zu erklären:

„Mich überkommt in dieser Wohngegend immer Traurigkeit. Ich vergaß mich gerade eben. Wenn ich hier ankomme, habe ich jedes Mal das Gefühl, in einem schwarzen Loch gelandet zu sein. Schauen Sie doch nur die Kinder, die hier an und auf der Straße spielen! Sie haben keinen richtigen Platz zum Spielen. Und wie erbärmlich ihre Kleidung ist, manche besitzen ja nicht einmal Schuhe. Es gibt hier auch keinen Baum oder etwas Grünes. Wahrscheinlich kennen sie nicht einmal einen Regenwurm. Irgendwie sehen die Kinder hier alle trostlos aus, sie lachen kaum und sind lange nicht so fröhlich, wie meine Kinder in Wittenberg.“ Ihr kamen die Tränen und sie schämte sich vor Herrn Gronau, der zu trösten versuchte:

„Ja, das stimmt. Auch in Preetz scheinen mir die Kinder glücklicher. Aber wir können die Lage hier nicht ändern!“

Dann aber überkam Eleonore auf einmal ein Glücksgefühl. Es war wie ein Blitz. Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Lage ändern könnte! Ja, richtig, genau sie, sie könnte die Lage zumindest für eine Familie mit einem Kind ändern. Nämlich für ihre Eltern und ihre Schwester Anna! Warum war sie nicht schon vorher darauf gekommen? Wie hatte sie es bisher überhaupt dulden können, ihre Schwester hier groß werden zu lassen? Auf einmal wusste sie, was ihre Berufung war: sie musste ihre Eltern und vor allem ihre Schwester aus diesem Milieu holen! Sie mussten woanders hinziehen. Eleonore lächelte auf einmal, schaute Herrn Gronau siegesgewiss an und sagte mit großer Überzeugung:

„Doch, man kann etwas tun und ich werde etwas ändern! Sie werden sehen!“

Sie bedankte sich nun eilig bei Herrn Gronau für die Mitnahme und die nette Unterhaltung während der Fahrt und verabschiedete sich.

„Wann fahren Sie denn wieder nach Hause? Ich könnte Sie sonst heute Abend wieder mitnehmen?“, bot Herr Gronau an.

„Das würden Sie tun?“, fragte Eleonore völlig überrascht von so viel Freundlichkeit. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie sich über die Rückfahrt gar keine Gedanken gemacht hatte. Sehr wahrscheinlich fuhr heute auch kein Bus von Kiel nach Wittenberg.

„Aber ja!“, antwortete Herr Gronau und lächelte Eleonore an.

„Gerne nehme ich Ihr Angebot an“, antwortete sie schnell entschlossen und verabredete sich mit ihm für acht Uhr abends am gleichen Ort. Sie bat Herrn Gronau seinem Bruder schöne Grüße von ihr auszurichten, ehe sie dem Wegfahrenden noch hinterherwinkte und ging anschließend ohne Zögern zum Hauseingang der Eltern und klingelte bei Hermann Müller. Jedes Mal wunderte sie sich, dass an der Klingelanlage ausgerechnet bei dem Klingelknopf ihrer Eltern der Name am deutlichsten zu lesen war! Und das gerade bei Leuten, die so gut wie nie Besuch bekamen. Sie hatten weder Freunde noch Bekannte. Die einzige Besucherin der Eltern war sie selbst. Kurz nachdem sie die Klingel betätigt hatte, summte es an der Eingangstür und sie konnte die Tür zum Treppenhaus öffnen. Eigentlich erstaunlich, dass so ein zerfallenes Haus mit dem Luxus dieser Klingel ausgestattet war!

Im Treppenhaus überkam sie wieder ein so grausam, beklemmendes Gefühl. Überall bröckelte die Farbe von den Wänden. Die Treppe im Treppenhaus war abgenutzt, an vielen Stellen abgeschlagen und ausgetreten. Vor den Türen standen Schuhe und Krempel, zum Teil auch kaputte Gegenstände und Müll. Die meisten Schuhe waren schmutzig, porös, ohne Schnürsenkel oder mit abgelaufenen Sohlen. Gerümpel wurde hier wohl so entsorgt, dass man es ins Treppenhaus legte und dort vergaß. Es war dunkel und roch muffig, dreckig, abgestanden und nach Urin. Hinter einer Tür hörte Eleonore ein Kind weinen, hinter einer anderen rief ein Mann laut nach seinem Bier. Im dritten Stock klopfte ein weinendes Kind verzweifelt an die Tür und ihm wurde nicht geöffnet. Endlich im vierten Stock angekommen, war Eleonore etwas außer Atem und verharrte einen Moment vor der Tür ihrer Eltern, um nicht völlig abgehetzt und atemlos vor ihrer Mutter zu erscheinen. Als sich ihr Pulsschlag normalisiert hatte, klingelte sie an der Wohnungstür. Sie hörte schnelle Schritte auf dem Flur hinter der Tür und eine Kinderstimme rufen:

„Das ist sie, das ist sie! Juhu, Eleonore kommt. Eleonore, Lori...“, abrupt brach die Stimme ab und die Wohnungstür wurde so plötzlich aufgerissen, dass Rusty nervös bellte und Eleonore bei dem plötzlichen Lärm erschrak und einen Satz nach hinten machte. Doch im nächsten Moment hatte sie sich gefangen und strahlte über das ganze Gesicht. Sie breitete ihre Arme aus und ihre kleine Schwester Anna sprang ihr an den Hals. Eleonore küsste und drückte sie innig. Die kleinen, extrem dünnen Ärmchen umarmten Eleonore und klammerten sich an ihr fest. Wie liebten sie sich beide! Und jetzt, da Eleonore den Entschluss gefasst hatte, vor allem Anna und wenn möglich auch ihre Eltern mit allen Mitteln aus diesem Elend zu holen, konnte sie ihre ganze Liebe auf Anna übertragen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, nach diesem Besuch nach Hause zu gehen und ein kleines, trauriges, weinendes Kind zurückzulassen.

„Lori, Lori, da bist du ja endlich!“, rief Anna. „Ich habe schon so lange auf dich gewartet. Wo wohnst du denn jetzt? Keiner singt mir mehr etwas vor und erzählt mir Geschichten! Oh wie schön, dass du wieder da bist!“

„Ja, Anna, ich freue mich auch sehr, dich wieder zu sehen. Du bist ja schon wieder ein Stückchen gewachsen. Und deine blonden Zöpfe sind die längsten und schönsten, die ich kenne!“, antwortete Eleonore.

Sie drehte sich mit Anna auf dem Arm, was bei dem Fliegengewicht kein Problem war und drückte sie fest an sich. Rusty freute sich ebenfalls und sprang bellend an beiden hoch. Eleonore gab ihr einen innigen Kuss auf die Wange. Dann setzte sie Anna wieder auf dem Boden ab. Rusty leckte der Kleinen das Gesicht ab, was sie aber gar nicht störte. Im Gegenteil, Anna lachte herzlich dabei und kuschelte ausgiebig mit dem Hund. In der Zwischenzeit war Eleonores Mutter an der Tür erschienen. Sie trug wie immer über ihrem Kleid eine weiße Schürze. Eigentlich war ihre Mutter immer mit einer Schürze bekleidet, weil sie entweder kochte oder etwas säuberte. Und bei diesen Tätigkeiten trug man nun einmal eine Schürze. Sie hatte scheinbar wieder etwas abgenommen und sah im Gesicht grau aus. Ihre trüben Augen schauten traurig drein. Sie hatte die Haare streng zurück gebürstet und zu einem Dutt gebunden, auch wie immer.

„Eleonore, wie schön, dass du da bist. Ich hatte so eine Sehnsucht nach dir. Du fehlst mir so sehr!“

Während sie dies sagte, umarmte ihre Mutter sie. Eleonore wusste sofort, warum sie ihr fehlte. Jetzt musste ihre Mutter sich nämlich selbst um das Kochen, Putzen, Wäschewaschen, Einkaufen und nebenbei auch noch um Anna kümmern. Es gab keine Eleonore oder Elfrida mehr, die ihr halfen.

Eleonore hatte kein Mitleid mit ihrer Mutter oder ihrem Vater. Aber ihr Mitleid mit der kleinen Schwester war grenzenlos. Die Kleine wuchs nicht nur in diesem trostlosen, dunklen, kalten Loch auf, sondern hatte auch noch Eltern, die sie ablehnten und sich kein bisschen für sie interessierten. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Eleonore musste die Eltern überzeugen, diese Wohngegend zu verlassen, sie durften hier nicht länger bleiben. Ihr Vater würde von sich nichts unternehmen, dieser Lage zu entkommen, denn er war zu selten zu Hause, als dass ihn hier irgendetwas störte. Meistens kam er sehr spät in der Nacht angetrunken nach Hause, warf sich auf sein Lager und ging früh morgens wieder zur Arbeit. Das Wochenende verbrachte er in irgendwelchen Kneipen mit seinen Kollegen oder Kumpanen. Die Familie würde letztendlich völlig zerbrechen und ihre kleine Schwester jämmerlich zu Grunde gehen, wenn Eleonore jetzt nicht die Initiative ergriff und etwas Entscheidendes änderte.

Eleonore - Der verlorene Kampf

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