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1 Brief an Tante Auguste
ОглавлениеLiebe Tante Auguste,
du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, zu wissen, dass du und Onkel Franz leben. Ich hoffe sehr, dass euch dieser Brief erreicht, obwohl ihr in der russischen Zone lebt. Hoffentlich geht es euch den Umständen entsprechend gut?!
Fünf Jahre nach Kriegende ist Mutti noch immer manchmal ganz niedergeschlagen, aber ich persönlich habe wieder so viel Lebenswille und auch immer nur die gute Seite von allen Dingen gesehen. Ob ich darum bis heute so viel Glück gehabt habe?
Aber nun sollt ihr zunächst eine klare Schilderung unserer Flucht bekommen. Somit könnt ihr euch eher in unsere Situation hineinversetzen und verstehen, warum wir in Kiel gelandet sind.
Bevor ich mit meiner Schilderung starte, möchte ich dich, Tante Auguste, dann bitten, so bald wie möglich zu antworten. Vor allem möchte ich Näheres über möglichst viele mir bekannte Personen erfahren, von denen du weißt, wo und wie sie leben.
Nun zur Flucht:
Also damals in der bewussten Nacht, als auch die Stadt Neustrelitz den Räumungsbefehl erhielt, fuhren Elfrida (meine kleine Schwester, wie du immer sagtest, ist jetzt ein ganzes Stück größer als ich) und ich mit einem kleinen deutschen Schwimmer bis Waren. Mutti saß in einem Personenauto mit all unseren uns wichtigen Sachen. Schon nach wenigen Kilometern hatte das Personenauto Panne, der Draht hatte sich mit einem Vorderrad verwickelt. Mein letztes Hab und Gut hatte ich im Geiste schon aufgegeben. Warum sollte man sich auch um Dinge sorgen? Viel wichtiger war uns das Baby. Wir hatten es uns gleich zu Beginn der Flucht zur Aufgabe gemacht, es lebend durch den Krieg zu bekommen. Mutti hätte es nicht mitgenommen. Du weißt ja, warum. Stell dir vor, das arme kleine Baby wäre in der Wohnung geblieben und die Russen wären gekommen. Eine ganz, ganz schreckliche Vorstellung. Wie grausam Mutti war!
Na ja, weiter zu meiner Schilderung: Plötzlich trudelte eine große Zugmaschine vor uns den Abhang herunter. Dabei wurden einige Menschen breit gedrückt und wir verloren Mutti aus den Augen, sie blieb irgendwo auf der Chaussee zurück. Ich hatte große Angst, dass ihr etwas passiert sein könnte. Natürlich entstand eine Verkehrsstockung, denn die Maschine sollte wieder fahrbereit gemacht werden.
Bald ging unsere Fahrt weiter gen Waren. Wo Mutti geblieben war, wussten wir nicht. Die Straßen waren übervoll von Menschen. Frauen, Kinder, Menschen, Menschen. Alles lief vor den Russen davon. Niemals werde ich den Anblick aller der Verwundeten vergessen, die fast nackend ohne Brot vor der Front her humpelten. Manche hatte keine Schuhe mehr. An einem langen Zug KZ-Gefangener ging die Fahrt vorbei.
Die kleinen Schwimmer waren gut. Wir fuhren durch alle Gräben durch. Kein Pferdefuhrwerk, von denen eines hinter den anderen fuhr, konnte unsere Fahrt hindern. Immer in das dichteste Gewühl hinein mit uns und jedes Mal sicher wieder heraus.
Damals habe ich sofort erkannt, was diese Flucht für uns bedeutete. Dass es um Sein oder Nichtsein ging. Elfrida und ich haben gelacht, gesungen und gescherzt. Den am Straßenrand liegenden Soldaten haben wir gewinkt. Oh, hier konnte ein einziges gutes Wort ein ganzes Menschenleben retten. Wir waren ja die Jugend, die sorglose.
Und nach einer gewissen Wartezeit trudelte dann der bewusste Personenwagen in Waren ein. Waren selbst war vor lauter Menschen nicht zu sehen. Wir trafen auf Frau Lüder und gingen ins nächste Haus, wo wir auch noch etwas zu essen bekamen. Und das Wichtigste war, wir bekamen auch Milch für das Baby. Frau Lüder wollte Erkundigungen über ihre Mutter einziehen und ging auf die Straße. Wir haben sie von dem Zeitpunkt nie wieder gesehen. Nachdem wir uns satt gegessen hatten, gingen wir wieder auf die Straße. Das Warten auf der Straße wurde für uns mit dem Kinderwagen auf alle Fälle zwecklos. Also, Lori nimmt Koffer und Eimer und meinen mir so heißgeliebte Stoffaffen und dann mit Elfrida und Baby auf zum Bahnhof! Der letzte Güterzug nach Lübeck war fort. Aber warte,- hier wird noch ein Personenzug zusammengestellt. Wohin bringt er uns?
Zwei Landstationen hinter Waren, dann steht er eisenfest. Erst zwölf Stunden. Allmählich wird es kalt, man bekommt Hunger. Dann stehen wir noch zwölf Stunden. Man wird ungnädig und müde. Nach wiederum zwölf Stunden ist die Lage schon kritisch. Wie der Zug so 48 Stunden steht, wird er aufgelöst. Du, in dem Augenblick habe ich gar nicht gedacht. Mein Gehirn war völlig taub. Aber warte, auf einem anderen Gleise steht ein sonderbar geschlossener D-Zug. Posten gehen unentwegt auf und ab.
Gerade überlege ich, was das wohl für ein Zug ist, sehe ich Mutti, wie sie mit einer fremden Frau am D-Zug spricht. Ich laufe hin und umarme sie herzlich. Wir freuen uns unsagbar. Schnell erkenne ich Muttis Gedanken und beginne ein Gespräch mit einem der Wachposten. Mutti spricht weiterhin mit der fremden Frau über die Sachlage. Die freundliche Frau war ein Spitzel und den Zug, der Zug selbst der Führerzug (die Befehlsstelle wurde damals verlegt) und dem Spitzel war Familie Müller sympathisch, so dass wir heimlich auf eigene Lebensgefahr in dem geschlossenen Zug einsteigen durften. Wie der Posten mir erzählte, saßen wir in einem Wagen, der in England gebaut, einer ungarischen Prinzessin zum Geburtstag geschenkt wurde und nun der deutschen Wehrmacht gehörte. Jedenfalls war der Zug leer und die Leute auf der Straße wiesen mit Fingern auf uns.
Nach Möglichkeit durften wir uns nicht am Fenster sehen lassen. Nachts, heimlich, fuhren wir immer. Wohin? Wie lange? Wir waren nicht dumm. Heute kann ich mit Sicherheit schreiben: Der einzige uns unsympathische Mensch im Zug, ein Zivilist, war Himmler. Schließlich kamen wir nach Schwerin, wo wir aussteigen mussten. Nach dem anfänglichen Glücksgefühl außer Vati die gesamte Familie vereint zu sehen, näherten wir uns einem Tiefpunkt.
Liebe Tante Auguste, hier in Schwerin habe ich das erste Mal den Kopf hängen lassen. Wir kamen nicht weiter. Kein Zug fuhr mehr. Nichts zu essen gab es. Das Baby schrie schon gar nicht mehr. Es wurde auch immer apathischer. Doch das war mir egal! Mein einziger Gedanke war Hitler. Es war das Letzte, woran ich glauben konnte und an irgend etwas muss man sich doch klammern. Meine Mundharmonika hat mir auch viel geholfen.
Nach zwei schrecklich Nerven aufreizenden Tagen konnten wir schließlich Schwerin verlassen. Ein Lazarettzug nahm uns mit. Wir wurden von einem Viehwagen in den anderen geschickt, um endlich irgendwo für die drei kommenden Tage zu bleiben. Sie wurden die bisher schwersten der Flucht. Mit einem großen Schritt konnte man auf einen Steigbügel steigen und mit einem abermaligen Beinausreißen gelangte man in das Innere des dunklen Wagons. Links stand ein Blockwagen, der einer schwangeren Frau mit ihren fünf Kindern gehörte. Weiter zurück stand noch ein hoch bebauter Wagen. Auf allem Gepäck wiederum lag mein Affe. Das Ganze schloss und gipfelte in meiner Persönlichkeit. Um eine Verbindung zur übrigen Welt herzustellen, streckte ich einen Arm aus. Mit diesem Arm hielt ich drei Tage und Nächte den an der Decke hängenden Kinderwagen mit dem Kind. Mutti war nicht mehr ansprechbar, sie wirkte geistig abwesend. Sie lag auf dem noch nicht beschriebenen Teil des Fußbodens, welcher von Menschenmassen belagert wurde. Die Stimmung war eine gereizte, überspannte, wie ich sie früher oder später nie mehr fand.
In Lübeck hatte ich einen Herzfehler und konnte nicht sprechen. Wochenlang hat mir die Lunge nicht gehorcht. Woher sollten wir wissen: Lübeck ist eine freie Stadt! Englische Truppen stehen auf dem Hauptbahnhof! Schwerster Bombenangriff auf Kiel! Hitler in Berlin untergegangen! U.s.w., u.s.w. - Wir ließen unsere Koffer bei einem Ehepaar, was seine Heimat in Lübeck wiederfand. Dann stiegen wir ohne Gepäck in einen Transportzug. Er brachte uns aus Lübeck. Kaum 14 Kilometer hinter der Stadt kamen die englischen Flieger und beschossen uns und wir standen und sahen in den herrlichen blauen Himmel.
Wohin sollten wir? War das nun das Ende? Die Lokomotive wurde durch Bombenabwurf zerschlagen. Was tun? Familie Müller haut ab! Per Kompass wird der Zug erst einmal in schnurgerader Richtung verlassen. Und zwar nicht, wie es viele machten, zur Straße, sondern auf die Felder. Der Affe, ach er war zu schwer! Im Graben lag er besser.
Auf unserer Flucht entdeckte man uns öfter. Mutti musste zum Beispiel einmal in einem kleinen Fluss stehen bleiben, weil sie sonst von Kugeln getroffen wäre. Aber im Großen gesehen hatten wir Glück. Plötzlich standen wir vor einer Hütte. Wir gehen hinein und werfen uns todmüde auf das Heu. Unser Kind war nackend und vom Draht blutig gerissen. Mein Gehirn war völlig taub. Auf dem Zuge hatte ich vom Tode Hitlers gelesen. Nun wusste ich, dass eine Wendung kam, kommen musste. Ich habe geweint, sehr sogar. Dann dachte ich plötzlich ganz anders: Hitler ist tot und das ist gut. Er erlebt das Schwere, was nun kommen muss, nicht mehr, das wirst du alles tragen müssen; aber du hast für ihn gelebt und wirst es können. Seine Idee geht verloren, er ist für dich eingereiht in die Reihe der vielen Helden unserer Geschichte, die gelebt haben und untergegangen sind. Seine Zeit ist vorüber und du bist jung, du musst dich der kommenden Zeit anschließen, um leben zu können.
Liebe Tante Auguste, Du kennst mich und weißt, dass mir das Herz oft geblutet hat; aber meine eigenen Gedanken haben mich über die schwerste folgende Zeit hinweggebracht. Ich bin oft stundenlang allein spazieren gegangen. Ich habe gesehen, wie das Korn gewachsen ist, habe im Haus mitgeholfen, habe Kühe gehütet. - Was kümmert mich die übrige Welt, wenn ich selbst nicht mit mir einig bin?
In der folgenden Nacht holte ich mein Hab aus dem Graben und einige Tage später konnte ich fast alles vom Zug holen, weil das Lübecker Ehepaar es für uns bewacht hatte. (Nie werde ich den Leuten das danken können.) Dann wohnten wir fünf Wochen im Kuhstall. Zehn Tage nach der Kapitulation wussten wir noch nichts vom Kriegsende. Nur, dass Vati in Kiel war, das wussten wir von einer Verwandten (Schwester Onkel Ottos), die auch da wohnte, welche ich aber gar nicht vorher kannte!! Als Mutti erfuhr, dass Vati lebte, ging es mit ihrer Verfassung langsam bergauf. Später bot uns eine Frau ein Zimmerchen an. Dann kamen die ersten Engländer. Sie waren für mich „Der Feind“. Eines Abends überfiel mich starkes Fieber, da wandten wir uns an die Tommies, der Not gehorchend. Ich bekam von den Sanitätern deutsche Bayertabletten. Ein Blick ihm mitten ins Gesicht, dann war die Scheu überwunden und ich habe das erst Mal Englisch gesprochen.
Und jetzt? Ja, jetzt lebe ich alleine in Wittenberg und arbeite hier als Schuldirektorin. Meine Ausbildung konnte ich nach der Flucht in Kiel beenden. Dort habe ich dann auch fünf Jahre an einer Schule als Lehrerin gearbeitet und nun habe ich meine eigene Schule. Das ist unglaublich schön. Mutti, Vati, Anna wohnen in Kiel-Gaarden. Sie haben dort eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung. Anna geht es gut. Sie ist jetzt fünf Jahre alt. Nur leider fehlt Mutti das richtige Verhältnis zu ihr. Du weißt schon warum! Vati hat wieder Arbeit als Schweißer auf der Werft gefunden und alle müssen nicht hungern. Elfrida arbeitete als Haushälterin in einem wohlhabenden Haushalt. Jetzt hat sie Kiel verlassen und wohnt in Stuttgart, um dort in einem Krankenhaus tätig zu sein.
Ihr glaubt gar nicht, wie gut es mir tat, euch diese Zeilen geschrieben zu haben. Es ist, als ob ich endlich einen Schlussstrich unter meine Vergangenheit ziehen könnte. Ein unglaublich befreiendes Gefühl.
Ach, was wäre es schön, wenn wir uns sehen könnten. Vielleicht ist es ja bald einmal möglich. Ich hoffe innigst, dass es euch gut geht.
Alles, alles Liebe
Eure Lori