Читать книгу Eleonore - Der verlorene Kampf - Cosima Cos - Страница 8
6 Besuch bei den Eltern
ОглавлениеAnna kuschelte immer noch mit Rusty. Eleonore schaute den Flur der Wohnung entlang. Ihre Mutter war in der Küche verschwunden und hatte sie im Flur stehen lassen. Der Flur war ein langer, schmaler Schlauch, an dessen Stirnseite die Küche lag. Gleich hinter dem Eingang befand sich rechts das Elternschlafzimmer mit einer kleinen Dachluke. Neben dem Schlafzimmer war das Wohnzimmer. Es hatte wie das Schlafzimmer auch nur eine kleine Dachluke. Selten schien hier die Sonne hinein. Anna schlief im Ehebett, da die Wohnung nirgends Platz für ein Kinderbett bot. Der Vater nächtigte, damit er durch sein Schnarchen nicht alle wach hielt, meistens im Wohnzimmer auf dem Sofa.
„Kommt!“, rief Anna ganz aufgeregt und nahm Eleonore an die Hand und Rusty am Halsband.
„Mutti kocht gerade Grütze. Wir haben gestern von den Nachbarn ganz viele Kirschen geschenkt bekommen. Letzten Sommer hatten die in ihrem Schrebergarten so viele Kirschen, dass sie sie gar nicht alle essen konnten und dann haben sie alle eingefroren. Und nun kam Frau Hubert gestern und hat uns eine ganze Schüssel voll geschenkt. Toll nicht? Und jetzt macht Mutti Kirschgrütze. Die magst du doch auch so gerne wie ich, oder?“, Anna schaute Eleonore fragend an.
„Ja, ich liebe Grütze, das stimmt“, antwortete sie und beide gingen mit Rusty in die Küche.
Ihre Mutter rührte die Grütze gerade mit einem Holzlöffel in einem großen Topf um. Sie hielt inne, als sie Eleonore sah und lächelte ihr zu. Die Tochter empfand dieses Lächeln als unangenehm. Sie liebte ihre Mutter nicht mehr und glaubte auch nicht, dass es umgekehrt der Fall war. Alwines Lächeln wirkte auf Lori unehrlich und herzlos.
„Ach, Eleonore-Schatz. Wie schön, dass du einmal wieder da bist. Ich freue mich so...“, seufzte sie.
Eleonores Vater Hermann schien nicht zu Hause zu sein, er war entweder arbeiten oder, was am Wochenende wahrscheinlicher war, in einer Kneipe. Die Ehe von Eleonores Eltern hatte sich auf das Notwendigste reduziert. Er kam zum Essen und zum Schlafen und brachte monatlich soviel Geld nach Hause, dass Anna und seine Frau knapp überleben konnten. Den Rest ließ er in den Kneipen am Hafen.
Eleonore und Anna setzten sich auf die Küchenbank, während Rusty sich darunter legte und einrollte. Ihre Mutter wandte sich vom Herd ab und fragte Eleonore:
„Wie geht es dir in Wittenberg?“
„Großartig, Mutti. Alle Leute sind nett und die Kinder sehr lernwillig. Du kannst mich ja bald einmal besuchen kommen.“
„Ja, das werde ich machen“, sagte ihre Mutter mit einem Tonfall, der Eleonore verriet, dass sie es sicher nie tun würde. Ihre Mutter war mittlerweile so bedrückt, dass sie die Wohnung kaum noch verließ. Ohne viel Umwege fragte Eleonore:
„Warum hast du mich angerufen?“
Ihre Mutter verharrte beim Rühren der Grütze, klopfte den Löffel am Rand des Topfes ab, legte ihn quer darüber und drehte sich stöhnend zu Eleonore um. Lange schaute sie die Tochter an und sagte schließlich:
„Mir geht es nicht so gut. Ich kann mich kaum um die Hausarbeit kümmern und auch um Anna nicht. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Du bist doch meine Tochter und musst dich auch um mich, deine alte Mutter kümmern! Ich möchte, dass du wieder bei uns wohnst, damit du mir helfen kannst!“
Eleonore traute ihren Ohren nicht. Das durfte doch nicht wahr sein, was ihre Mutter dort vorschlug! Oder war es sogar ein erpresserischer Befehl? Ihr fehlten zunächst die richtigen Worte. Aber dann packte sie die Wut und sie erwiderte entrüstet und ungehalten:
„Mutti! Was hast du denn für viele Arbeit? Den ganzen Tag hast du Zeit! Ich bin nicht mehr für dich verantwortlich und du nicht für mich. Mein neuer Heimatort ist ein Traum, für den ich schwer gekämpft habe und den ich für nichts auf der Welt aufgeben werde.“
Eleonore schaute ihre Mutter hart und gefühllos an. Plötzlich erschrak sich Eleonore und ihr wurde am ganzen Körper heiß. Der Mutter erging es genau so. Sie vernahmen beide gleichzeitig einen Brandgeruch, genau den, der zu Kriegszeiten nach den Bombenangriffen noch wochenlang in ihren Nasen blieb. Eleonore riss ihre Augen weit auf und schaute hektisch um sich. Sie rief:
„Feuer! Es brennt irgendwo!“
Ihre Mutter schaute als erste erschrocken zum Herd und sah, woher der Brandgeruch kam. Sie rief entsetzt:
„Oh, nein! Meine Grütze!“
Die Grütze war übergekocht und hatte sich mit den Gasflammen vereint. Ihre Mutter stellte den Gasherd aus, riss den Topf vom Herd und stellte ihn ins Waschbecken. Mit dem Putzlappen erstickte sie die Flammen auf dem Herd und wendete sich der Grütze besorgt zu. Nach kurzem vorsichtigen Umrühren stellte sie beruhigt fest:
„Gott sei Dank, es ist noch nicht alles verbrannt.“
Den Topf stellte sie nun zum Abkühlen auf den Steinfußboden und begann mit einem Lappen den heißen Herd zu säubern. Eleonore hatte sich beruhigt und hingesetzt. Sie schaute ihrer Mutter bei der Arbeit zu, half ihr aber bewusst nicht. Anna nahm nun Eleonores Hand und sagte leise zu ihr:
„Ich mag es nicht, wenn ihr streitet. Bitte nicht mehr streiten.“
„Entschuldige, Anna“, flüsterte sie der Kleinen schuldbewusst ins Ohr und versprach:
„Ich werde mich jetzt nicht mehr mit Mutti streiten.“
Um sie zu besänftigen, nahm Eleonore nun doch einen Lappen und half ihrer Mutter, den Herd zu reinigen. Eleonore sah dabei auch, wie wenig effektiv Alwine am Herd putzte.
Nachdem alles gesäubert und die Brandspuren beseitigt waren, setzte sich Eleonore wieder zu Anna auf die Eckbank an den Tisch, der schon gedeckt war. Dort standen drei tiefe Teller mit Löffel und für jeden ein Glas Wasser. Eine Glaskaraffe mit Milch war zusätzlich mitten auf dem Tisch und in einer Porzellanschüssel lag Zwieback, den man hier immer zur Grütze aß. Jetzt ärgerte sich Eleonore, dass sie nicht ein paar schöne Blümchen aus dem Schulgarten mitgebracht hatte. Ein paar Blumen auf dem Tisch hätten die triste graue Küche gleich viel fröhlicher aussehen lassen.
Eleonore liebte besonders heiße Grütze und hätte sich normalerweise richtig darauf gefreut, aber nachdem ihre Mutter ihr das Anliegen des Anrufs offenbart hatte und sie dazu immer noch den Brandgeruch in der Nase spürte, war ihr der Appetit vergangen. Um des Friedens Willen und vor allem Annas wegen aß sie dennoch ihre Grütze. Sie saßen alle drei wortlos da und löffelten ihr Essen. Anna schaute abwechselnd zur Mutter und zur Schwester und war froh, dass keiner mehr stritt. Darüber schien sie zu vergessen, richtig zu essen. Sie aß sehr langsam und sehr wenig. Als Eleonore ihren Teller geleert hatte, war der von Anna fast noch so voll wie zu Beginn.
„Anna, nun iss doch einmal!“, forderte Eleonore sie auf und wandte sich ihrer Mutter zu:
„Anna scheint das Essen ja nicht zu mögen, aber ich fand es sehr lecker, Mutti. Vielen Dank.“
„Doch, ich mag das Essen!“, protestiert Anna lautstark und nahm gleich demonstrativ einen großen Löffel voll Grütze und schob ihn in den Mund. Eleonores Mutter schaute zu, schien aber mit den Gedanken abwesend zu sein. Jetzt, dachte Eleonore, wäre der richtige Zeitpunkt gekommen, um das Gespräch auf Anna zu lenken und sie begann ohne Umschweife:
„Mutti, ihr müsst unbedingt etwas ändern. Anna muss hier raus, hier wird sie eingehen. Und dir geht es auch nicht besser, das sehe ich doch. Ihr werdet immer blasser und kränker. Ihr müsst schauen, ob ihr aufs Land ziehen könnt. Gerade gestern hörte ich, dass in Elmschenhagen einige Wohnungen für Flüchtlinge bereitgestellt wurden. Rundherum gibt es dort viel Wald und wunderschöne Wiesen und Felder. Wäre das nicht etwas für euch? Vati müsste sich nur darum kümmern.“
„Du weißt doch, dass der Vater dafür keine Zeit hat. Und ich schaffe das nicht alleine.“
„Mutti, es geht hier um das Leben deiner Tochter. Du weißt, wie krank sie war, damals mit der Lungenentzündung. Wenn ihr nichts unternehmt, wird sie bald wieder krank. Sie sieht nicht gut aus und ist auch viel zu dünn. Schau sie dir doch an, nur noch Haut und Knochen. Ihr Gesicht ist nicht nur weiß, es ist ja fast grau. Da kannst du dich doch nicht hinstellen und sagen, du schaffst es nicht!“, antwortete Eleonore erbost. Fast resigniert fügte sie hinzu: „Was aus dir wird, ist nicht so wichtig, aber Anna muss es besser haben. Du bist alt genug, um auf dich selber zu achten und zu wissen, was gut und schlecht für dich ist. Aber nun übernimm doch endlich einmal Verantwortung für dein Kind. Wenn du das nicht schaffst, sorge ich dafür, dass Anna woanders hinkommt.“
Völlig unerwartet stand Eleonores Mutter so heftig auf, dass der Stuhl beinahe hintenüber gefallen wäre. Anna zuckte erschrocken zusammen. Die Grütze fiel mit einem Ruck von ihrem Löffel auf den Teller. Die Mutter war nun richtig aufgebracht und bekam sogar Farbe im Gesicht. Sie antwortete entrüstet:
„Das könnte dir so passen. Mir vorzuschreiben, wie ich mit meinem Kind umzugehen habe und wo es hin soll! Was fällt dir ein, in diesem Tonfall mit mir zu reden! Du glaubst wohl, du kannst dir als Lehrerin alles erlauben? Du bildest dir ein, etwas Besseres zu sein und willst mir sagen, wie ich mich um mein Kind zu kümmern habe! Nein, ich lasse mir nicht einreden, dass ich mich nicht um mein Kind kümmern kann!“
„Man könnte meinen, du liebst sie überhaupt nicht!“, konterte Eleonore. Sogleich bereute sie das Gesagte, da Anna sie völlig entsetzt anschaute. Ihre Mutter zeigte jetzt mit dem Finger zur Tür und befahl:
„Ich will so etwas nie wieder von dir hören. Geh und komme so schnell nicht wieder! So eine Frechheit uns vorschreiben zu wollen, was wir mit unserer Anna zu tun und zu lassen haben!“
Eleonore stand wortlos auf, gab Anna einen Kuss auf die Wange, drückte sie und flüsterte dabei in ihr Ohr:
„Entschuldige. Nun haben wir uns doch wieder gestritten. Aber ich kann nicht anders. Ich liebe dich und möchte, dass es dir gut geht. Ich werde dafür sorgen, dass du an diesem Ort nicht länger bleibst, sondern dorthin kommst, wo es so schön ist, wie bei mir. Alles wird gut. Vertrau mir!“
Anna schaute sie mit großen verwunderten Augen an. Als Eleonore gleich darauf die Wohnung mit Rusty verließ, hörte sie Annas lautes Weinen, das ihr noch lange in den Ohren blieb. Ihr war bewusst, dass die Mutter Anna nicht trösten, sondern ihr befehlen würde, sich in die Ecke zu stellen, bis sie still wäre.
Erbost und deprimiert schritt Eleonore auf die Straße. Im Laufe ihrer Unterhaltung mit Herrn Gronau hatte er erwähnt, sein Bruder würde hier um die Ecke wohnen. Unschlüssig blieb sie auf der Straße stehen und überlegte, welche Ecke er gemeint haben könnte. Sie entschied sich, rechts entlang zu gehen und bei der nächsten Straße wieder rechts abzubiegen. Und tatsächlich stand dort sein Wagen. Eleonore konnte es nicht glauben, so viel Glück zu haben, den Wagen gleich beim ersten Anlauf zu finden. Sie wusste allerdings nicht, wo ihr alter Kollege wohnte. Darüber hinaus hatte sie auch keine Lust nach dem Streit von eben, mit irgendjemandem zu plaudern. Danach war ihr gar nicht zumute. Kurz entschlossen überlegte sie, Herrn Gronau eine Nachricht unter den Scheibenwischer seines Auto zu klemmen. Sie nahm aus ihrem Rucksack Zettel und Stift und schrieb:
Sehr geehrter Herr Gronau,
noch einmal vielen Dank für die Hinfahrt. Unerwarteterweise musste ich leider früher zurück. Sie brauchen also nicht auf mich zu warten.
Mit freundlichen Grüßen
Eleonore Müller
Sie hatte sich entschlossen, den vierstündigen Fußmarsch anzutreten. Das war nichts im Vergleich zur Flucht von damals. Sie musste weder Kälte noch Hunger leiden, sie hatte gute Schuhe zum Laufen an, die Sonne schien und sie musste nicht um ihr Leben bangen. Rusty sprang fröhlich neben ihr her, denn er schien zu ahnen, dass es jetzt viel zu laufen gäbe.
Wirklich kamen sie ganze vier Stunden später ausgeglichen zu Hause an. Sie waren phasenweise der Hauptstraße gefolgt, teilweise kürzten sie den Weg über Wiesen und Felder ab, immer den Hauptverkehrsweg im Auge behaltend. Ach, was fühlte sich Elenore gut nach diesem Marsch. Was für ein herrliches Zuhause sie doch hatte. Wenn das Ganze nur nicht diesen bitteren Beigeschmack hätte, der durch die Gedanken an Anna entstand. Sie hatte gerade die Tür aufgeschlossen und wollte hineingehen, als es hinter ihr hupte. Sie drehte sich um und erkannte Herrn Gronau in seinem schicken schwarzen Wagen. Er winkte ihr lächelnd zu. Rusty bellte und näherte sich ihm zögerlich. Herr Gronau stieg aus dem Auto, bückte sich und schlug mit den Händen auf seine Oberschenkel. Daraufhin lief Rusty zu ihm, ließ sich schwanzwedelnd streicheln und legte sich prompt auf den Rücken, in der Hoffnung, nun ausgiebig am Bauch gekrault zu werden. Herr Gronau musste darüber lachen und bemerkte:
„Der weiß wohl auch, was gut ist?“
Nach einer herzlichen Streicheleinheit für Rusty wendete er sich Eleonore zu und stellte fest:
„Das ist ja unerhört, dass Sie ohne mich losgegangen sind. Zu gerne hätte ich sie begleitet und wäre mitgelaufen. Meinen Wagen hätte mir mein Bruder nachgebracht und sich sogar gefreut, einmal mit dem Luxusauto fahren zu dürfen. Das nächste Mal sagen Sie ja wohl hoffentlich vorher Bescheid?“
Er war auf sie zugegangen und fragte:
„Haben Sie denn Ihren Vorsatz verwirklichen können, Ihrer Familie zu helfen?“
„Nein, leider noch nicht.“
„Was genau möchten Sie denn ändern? Entschuldigen Sie, das geht mich schon wieder nichts an“, stellte Herr Gronau nun fest. Komisch, sie beide waren schon nach so kurzer Zeit unglaublich vertraut miteinander.
„Nein, nein, Sie dürfen das ruhig fragen. Es tut mir gut, mit jemandem darüber reden zu können. Ich werde meinem Vater demnächst nach Feierabend einen Überraschungsbesuch abstatten und mit ihm sehr ernsthaft reden. Es ist schließlich seine Frau und sein Kind und es ist, Gott verdammt, seine Aufgabe, sich um seine Familie zu kümmern! Und wenn alles nicht hilft, werde ich alles versuchen, um Anna zu einer schöneren Kindheit zu verhelfen. Es darf nicht sein, dass sie allen Lebenswillen verliert. Sie war doch erst vor einiger Zeit schwer krank. Ein viertel Jahr lag sie mit Lungenentzündung im Krankenhaus und alle dachten, sie stirbt. Damals kam mein Vater heulend an, weil es Anna so schlecht ging. Das habe ich sowieso nie verstanden. Er empfindet doch sonst auch nicht viel für sie.“
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihre Schwester hierher zu holen?“, schlug Herr Gronau vorsichtig vor.
Eleonore schaute ihn an, als hätte er sich in einen Außerirdischen verwandelt. Ungläubig fragte sie:
„Wie, wie meinen Sie das?“
„Ach nein, vergessen Sie es. Entschuldigung, dass ich mich schon wieder einmische. Es steht mir einfach nicht zu“, entschuldigte er sich.
„Doch, doch,“ hielt Eleonore dagegen, „Ihre Idee kam nur so überraschend. Daran habe ich noch nie gedacht. Ich habe meiner Mutter nur gedroht, dass ich alles tun werde, damit es Anna bald besser haben wird. Sie war daraufhin sehr aufgebracht und warf mir vor, ich würde mich in ihr Leben einmischen und sie für unfähig halten, sich um ihr Kind zu kümmern. Stimmt ja auch!“, musste Eleonore nun nachdenklich hinzufügen. Herr Gronau überlegte kurz, schaute sie auf einmal fröhlich an und schlug vor:
„Übrigens würde ich Ihnen gerne das Du anbieten. Wir haben ja immerhin den gleichen Beruf, unsere Verwandtschaft wohnt im gleichen Ort und Sie wohnen in meinem Heimatort, wo sich jeder Einwohner mit dem anderen duzt.“
Er schaute sie fragend an und fuhr fort:
„Ich heiße mit Vornamen Lutz.“
Eleonore war sich nicht ganz sicher, ob das Du nicht zu früh wäre, willigte aber mit leichtem Zögern ein:
„Eigentlich sind Sie ja jetzt gar kein Einwohner mehr von Wittenberg. Aber gut: ich heiße Eleonore. Aber ich mag diesen Namen nicht so gerne. Lieber wäre mir, Sie würden mich Lore oder Lori nennen. Aber bitte nicht Elli!“
„Gut Elli, dann werde ich Sie, nein, Entschuldigung, dich jetzt immer Lori nennen.“
Eleonore musste über so viel Unverfrorenheit lächeln. Sie schaute sich Lutz noch einmal genauer an. Er war wirklich ein unglaublich gut aussehender Mann. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie jemals einem so hübschen Mann begegnet wäre. Nein! Seine weißen Zähne im braun gebrannten Gesicht leuchteten wie Diamanten, wenn er lachte. Die blonden Haare waren gerade etwas windverweht zerzaust. Er hatte die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt und man sah seine Muskeln. Die graue Stoffhose saß an den Oberschenkeln etwas zu eng, was ihn aber unglaublich erotisch aussehen ließ. Eleonore merkte auf einmal, dass sie ihn ein wenig zu lange gemustert hatte und fragte aus Verlegenheit:
„Möchten Sie, du, noch auf einen Tee oder Kaffee hineinkommen?“
Lutz überlegte nicht lange und antwortete ohne Zögern:
„Ja, sehr gerne. So einer sympathischen, netten Dame kann man ja keinen Wunsch abschlagen.“
Eleonore holte Luft und fand diese Antwort schon wieder etwas übertrieben, sie passte aber zu seinem Verhalten, man konnte ihm irgendwie nicht böse sein. Als sie die Schule betraten, blieben sie am „Lehrerzimmer“ stehen, die Tür stand offen und Lutz schaute hinein. Begeistert rief er:
„Das haben... hast du ja toll eingerichtet! Großartig! Was für eine geniale Idee! Das ist dein Reich?“
„Ja, eigentlich ja, aber meine Schüler dürfen diesen Raum auch gelegentlich nutzen, um sich zwischendurch zu erholen. Oder wenn einmal wieder ein Zappelphilipp gar nicht mehr stillhalten kann, darf er sich hier aufhalten. Natürlich schaue ich dann zwischendurch regelmäßig nach, ob alles in Ordnung ist. Vereinzelt schicke ich auch einen anderen Schüler zur Kontrolle, nur der kommt dann oft nicht zurück. Alle lieben diesen Raum.“
„Fantastisch! Das müsste man an meiner Schule auch einführen“, äußerte sich Lutz entzückt.
„Leider sehen das die Eltern nicht ganz so euphorisch wie du“, gab Eleonore daraufhin von sich.
Lutz schaute sie fragend an.
„Naja“, klärte Eleonore ihn auf, „sie möchten, dass ihre Kinder möglichst schnell viel lernen, damit sie danach gleich wieder zu Hause helfen können.“
„Mmh“, überlegte Lutz, „das stimmt natürlich. Gerade hier auf dem Land ist es noch etwas anderes als in der Stadt. Hier müssen alle bei der Ernte, beim Melken und bei der Tierfütterung mithelfen.“
Sie unterhielten sich noch bis spät in die Nacht. Dann verabschiedete sich Lutz mit der Frage, ob sie sich wiedersehen würden. Beide einigten sich auf ein Picknick in naher Zukunft und ihnen war dabei nicht ganz wohl zumute, da Lutz ein verheirateter Mann war. Aber es musste ja nicht gleich ein Verhältnis werden, sondern könnte sich ja auch zu einer netten Bekanntschaft unter Kollegen entwickeln.