Читать книгу Eleonore - Der verlorene Kampf - Cosima Cos - Страница 6
4 Bekanntschaft mit Lutz Gronau
ОглавлениеEleonore saß in ihrem Sessel, öffnete die Augen und schaute auf die Standuhr an der Wand. Sie tickte regelmäßig wie ein Herzschlag. Ab und zu vergaß sie sie aufzuziehen und merkte es erst, wenn das Ticken nicht mehr zu hören war. Wie schön war doch ihre Arbeit. Sie war Lehrerin mit Leib und Seele. Schade, dass die Kinder am Sonntag schulfrei hatten. Gerne hätte sie jeden Tag in der Woche unterrichtet, auch sonntags. Aber gut, sie langweilte sich ja nicht, sondern widmete sich an den freien Tagen intensiv ihren wissenschaftlichen Arbeiten.
Das besonders Interessante war, dass ihre Schüler ein Alter von fünf bis 15 Jahren umfasste. Und alle wurden in diesem einen Klassenraum unterrichtet. Ach, sie liebte ihren Beruf und war so glücklich, ihn ausüben zu können, und dann auch noch ohne einen direkten Vorgesetzten zu haben. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Sie fühlte sich frei!
Wenn nicht immer diese sturen, verstockten, konservativen Eltern der Schüler ihre Ideen in Frage stellten! Aber das kannte sie ja bereits aus der Gaardener Schule. Auch schon zuvor im Praktikum in Rüfrade und Rönne war sie auf solche Eltern gestoßen. An allen Schulen hatte sie ihre Erfahrungen mit den konservativen Eltern gesammelt. In Rüfrade hatte sie sich als junge Praktikantin noch nicht so viele Gedanken darum gemacht und in Rönne musste sie sich nicht so engagieren, denn dort gab es den routinierten Lehrer Herrn Siekse, der schon seit 1920 die Schule leitete. Eleonore hatte sich wunderbar mit ihm verstanden und als Englischlehrerin war sie eine gute Ergänzung für ihn. Hätte man ihr früher gesagt, sie würde irgendwann mit ihrer eigenen Schule in Wittenberg glücklich werden, hätte sie es nie geglaubt.
Manchmal allerdings wünschte sie sich, ein Mann zu sein. Männer hatten es in der Gesellschaft sehr viel einfacher. Sie durften alles, Frauen nur heiraten, Kinder gebären und großziehen, hinter dem Herd stehen und den Mund halten. Aber Eleonore gab so schnell nicht auf. Sie stritt für eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleichberechtigt waren. Sie wollte für die Rechte der Frauen kämpfen. Dass sie schon einen kleinen Schritt dafür geschaffen hatte, zeigte ihre Stellung als junge Dorfschulleiterin.
Natürlich nutzte sie damals ihren weiblichen Charme, um dem Ziel, als Frau eine Schule zu leiten, näher zu kommen. Aber auf der anderen Seite haben ihr die ausgesprochen guten Schul- und Studienabschlüsse zu dieser Stellung verholfen. Sie würde als Englischlehrerin sagen: fifty to fifty, Charme und Fleiß. Hätte sie damals nicht einen so guten Kontakt zu einem Ex-Studienkollegen gehabt, der im Kultusministerium tätig war, hätte man sie an dieser Wittenberger Dorfschule wohl nicht eingestellt. Immer wieder hatte sie die Erfahrung gemacht, wie leicht sich Männer von den weiblichen Reizen unbemerkt einfangen und beeinflussen ließen.
Wieder einmal wurde Eleonore sich des Vorteils bewusst, dass sie neben ihrer Intelligenz auch noch sehr gut aussah. Sie gestand sich selbst ein, dass sie eine ausgesprochen schöne weibliche schlanke Figur hatte und ihre Größe von 1,70 m half ihr, sehr sicher auftreten zu können. Ihr Gesicht zeigte arische Züge, auf die sie sehr stolz war. Mit ihren großen grau-blauen Augen, der schmalen langen Nase und den vollen roten Lippen erregte sie überall Aufmerksamkeit. Ihre unglaublich dicken, braunen Locken hingen aufreizend auf den Schultern oder waren souverän zu einem Zopf geflochten, der oft zur rechten Seite nach vorne hing. Ihre aufrechte Haltung gab dem Ganzen etwas unglaublich Selbstsicheres und Majestätisches. Mit anderen Worten: so viel Weiblichkeit und Charme konnte ein Mann kaum widerstehen. Das alles gekoppelt mit ihrer Intelligenz, machte es ihr schon mehrfach möglich, Ziele zu erreichen, die man auf dem Papier für unmöglich gehalten hätte.
Ihre Freundin Elli fragte sie damals einmal, ob sie nicht die Männer zu stark ausnutzte? Aber Eleonore lachte und fand das nicht. Sie meinte, dass es genau anders herum lief und die Männer die Frauen viel zu sehr ausnutzten, noch schlimmer: dass die Männer die Frauen meistens nur benutzten, um für Augenblicke glücklich zu sein.
Jetzt zwang sich Eleonore aber doch, in die Gegenwart zurückzukehren. Es war 11 Uhr. Sie hatte sich so sehr auf das Buch gefreut, welches sie gerade las. Es war ihr von einer Studienkollegin empfohlen worden. Einige von Eleonores revolutionären Gedanken wurden in dem Buch erwähnt und sie freute sich schon darauf, in ihren Ansichten bestätigt zu werden.
Doch nun das Telefonat! Wenn sie es sich überlegte, hatte ihre Mutter diesmal irgendwie merkwürdig am Telefon geklungen, es war nicht so wie immer. Etwas Beunruhigendes lag in ihren Worten. Und was hatte ihre Mutter sagen wollen als das Gespräch unterbrochen wurde? Eleonore spürte plötzlich, dass sie zu ihren Eltern musste. Irgendetwas stimmte nicht. Jetzt machte sie sich große Sorgen um die kleine Schwester. Auf einmal erschlug sie förmlich ihr schlechtes Gewissen. Wie hatte sie nur ihre Schwester allein bei ihrer Mutter lassen können? Wie konnte sie nur so herzlos sein und sich sagen, dass sie endlich ihr eigenes Leben führen wollte? Sie entsann sich, wie krank Anna als Kleinkind einmal war. Sie hatte die Masern und anschließend eine Lungenentzündung, die ihr fast das Leben nahm. Alle hatten sie schon für tot erklärt. Wie durch ein Wunder überlebte sie. Keiner weiß bis heute, wie das möglich war, denn ihr ganzer Körper war bereits blau und das Herz kaum noch zu hören. Wahrscheinlich war es ein Wunder gewesen.
Eleonore konnte nicht fassen, dass sie das Gefühl der Verpflichtung nicht losließ! Sie fühlte sich für ihre Schwester verantwortlich. Und das, obwohl ihre Mutter endlich die gesamte Verantwortung für Anna übernehmen sollte. Anna war doch das Kind ihrer Mutter! Warum um alles in der Welt konnte diese denn keine echten Muttergefühle für die Kleine entwickeln? Die arme Anna konnte doch nichts für das, was ihr in den Kriegswirren an Schrecklichem widerfahren war! Eleonore war sehr wütend auf ihre Mutter. Sie würde jetzt nach Kiel fahren und ihr die Meinung direkt ins Gesicht sagen! Eine unaussprechliche Wut packte sie. Doch plötzlich hielt sie inne. Wie konnte sie ihrer Mutter die Meinung ins Gesicht sagen, ohne ihr Geheimnis zu lüften? Niemand ahnte ja, was sie wusste. Na ja, ihr würden schon noch die passenden Worte einfallen, ohne die Wahrheit erwähnen zu müssen. Sie war ja sonst auch nicht auf den Kopf gefallen.
Eleonore erhob sich energisch aus ihrem Sessel. Vor Erregung wusste sie im Moment nicht, wohin mit ihrer Wut. Eben schien die Welt noch in Ordnung, doch nun zerstörte die Mutter schon wieder ihre innere Ruhe. Sie ging aus dem Wohnzimmer, blieb aber in der Tür stehen und atmete mehrere Male tief durch. Eben hatte sie wirklich noch geglaubt, mit sich im Reinen zu sein - und nun das.
Sie schaute sich um. Ihre Wohnung war wunderschön. Alles war so kuschelig und friedlich. Die kleine Küche links direkt neben dem Bad lud zum Verweilen ein. Neben dem Gasherd an der Tür stand die Spüle. Gegenüber befand sich ein roter Küchenschrank, bestehend aus einem Hänge- und einem Unterschrank. Sie selbst hatte ihn rot angemalt und war sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Der Hängeschrank hatte unten mehrere Glasschubladen, in denen sie Mehl, Zucker, Salz, Reis und Nudeln aufhob. Der kleine Holztisch mit den vier schmalen Küchenstühlen aus Eichenholz passte genau in die Mitte des kleinen Raumes. Die Möbel waren noch Überbleibsel vom Vorgänger. Die schneeweiße Baumwolltischdecke auf dem Küchentisch war allerdings ihre eigene. Noch heute morgen hatte Eleonore auf dem Feld hinter der Schule Mohn- und Kornblumen gepflückt und sie in einer Glasvase auf den Tisch gestellt. Auch für das Wohnzimmer hatte sie Blumen mitgebracht, es waren wunderschöne Bauernrosen aus dem Schulgarten.
Eleonores langer, schmaler Flur war recht dunkel. Das lag an der dunklen, massiven Anrichte aus Eichenholz an der rechten Wand. Hatte man aber den dunklen Flur passiert und an der Stirnseite das Wohnzimmer erreicht, wurde man dort vom hellen Licht überrascht. Das Zimmer war im Verhältnis zum langen Flur nicht sehr groß, hatte aber einen Erker mit drei großen Fenstern. Eleonore hatte hier Platz für ein grünes Sofa, einen ausladenden grünen Ohrensessel, einen kleinen runden Couchtisch, eine Kommode und ein Bücherregal. Den Sessel, die Couch und Kommode hatte sie vom Vormieter übernehmen können. Alle anderen Möbelstücke erwarb sie gebraucht von Nachbarn oder Freunden. Ihr Zustand war nicht gerade der beste, aber, wer konnte es sich schon leisten, sofort sämtliche Möbel neu zu kaufen. Und außerdem restaurierte Eleonore in der Freizeit gerne ihre Möbel. So hatte sie es auch geschafft, den Sessel neu zu beziehen. Sicher hätte es der Fachmann besser hinbekommen, aber sie war mit ihrem Ergebnis außerordentlich zufrieden.
Auf einem kleinen, wackeligen Beistelltisch im Erker stand ihr Röhrenradio. Gerne genoss Eleonore den Luxus, Radio zu hören. Sie legte sich dann auf das Sofa, schloss die Augen und tauchte in die Welt der Musik ein. Sie liebte es auch, sich Hörspiele anzuhören. Jeden Sonntag um 14 Uhr gab es spannende Geschichten, die so herrlich aufregend vorgelesen wurden.
Schaute Eleonore aus den Wohnzimmerfenstern, sah sie den kleinen Schulgarten, der direkt an das Schulgebäude grenzte. Diesen Garten hatte Eleonore mit ihren Schülern mit viel Hingabe selbst angelegt und gestaltet. Er war recht pflegeleicht und die Wasserversorgung war ganzjährig durch Schüler garantiert. Beide, Schüler und Lehrerin, freuten sich schon jetzt auf den Sommer, denn dann kamen die im letzten Jahr angepflanzten Blumen und Sträucher erst richtig zur Geltung. Hinter dem Schulgarten lag eine große Wiese, die am Waldrand endete. Jetzt im Frühling blühte auf der Wiese so viel Löwenzahn, dass man manchmal von seinem Gelb geblendet wurde. Bei so vielen blühenden gelben Blüten konnte der Laie denken, es handelte sich um ein großes Rapsfeld. Eleonore wusste den Überfluss an Löwenzahn optimal zu nutzen. Sie hatte mit ihren Schülern erst letzte Woche jede Menge Löwenzahnhonig zubereitet. Das begeisterte ausnahmsweise nicht nur die Schüler, sondern auch deren Eltern, denn die Schüler durften ihren Honig mit nach Hause nehmen.
Aus dem Wohnzimmer gelangte man in das Schlafzimmer. Eleonore hatte sich auf Anhieb in dieses kuschelige Zimmer verliebt. Der Vormieter hatte sich ein ca. 1m breites Bett hinein gezimmert. Links neben dem Bett war ein schmaler Durchgang, ein Schrank passte aber nicht mehr in dieses Zimmerchen. Das störte Eleonore nicht, denn sie hatte ja im Flur und im Wohnzimmer genug Platz für ihre Kleidungsstücke. Ihr Bett war zwar etwas größer als ein normales Bett, eine zweite erwachsene Person konnte darin allerdings wohl kaum schlafen. Aber so schnell würde sie sowieso ihr Bett mit keinem anderen Menschen teilen wollen. Ihr Wunsch war es, zunächst alleine zu sein. Die Erfahrungen hatten ihr gezeigt, dass es sich ohne Mann besser lebte. Manchmal überlegte sie auch, ob sie vielleicht für immer ohne Mann bleiben sollte. Aber da sie sich in Zukunft auf alle Fälle eigene Kinder wünschte, würde ein Leben ohne Mann nicht vorstellbar sein.
Ach, was liebte sie ihr neues Zuhause. Hier fühlte sie sich seit ihrem Einzug vor einem Monat so richtig wohl. Endlich Abstand zu allem. Zu allem? Nicht ganz,- es blieben noch ihre Eltern und Anna. Und nun musste sie kurzfristig zu ihnen. Den Gefallen könnte sie ihnen einmal tun. Sie würde dort nur bis zum Abend bleiben und dann wieder mit dem Bus zurückfahren. Nächstes Wochenende könnte sie sich in die Arbeit stürzen und mit ihrer Examensarbeit weiter machen. Es überkam sie auch ein unbändiges Verlangen, Anna wieder zu sehen. Sie musste sehen, wie es ihr ging. Ihre kleine Schwester vermisste sie sicherlich schon sehr.
Eleonore ging in die Küche, öffnete den Küchenschrank und nahm eine Kaffeedose heraus. Sie nahm den Deckel der Dose ab und sah zufrieden hinein. Dort deponierte sie ihr erspartes Geld. Es war zur Zeit genug zum Leben drin. Sie nahm 10 Mark heraus und steckte sie in ihr Portemonnaie, das auf dem Küchentisch lag. Anschließend griff sie nach ihrem Rucksack, packte das gerade gelesene Buch und ihr Portemonnaie hinein, zog sich den langen beigen Baumwollmantel an, den sie in der Küche über einer Stuhllehne geworfen hatte, griff nach der Hundeleine, rief Rusty und verließ mit ihm die Wohnung. Sie schloss ihre Wohnungstür zweimal ab, ebenso die große Haupttür der Schule.
Dann standen sie und Rusty auf dem Schulhof. Sie inhalierte die herrliche Luft und spürte schnell, dass ihr Mantel zu warm war. Sie zog ihn aus und hielt ihn über dem linken Arm. Anschließend schwang sie ihren Rucksack auf den Rücken und ging los. Rusty war furchtbar aufgeregt. Scheinbar wusste er, dass sie jetzt etwas Größeres vorhatten, denn Frauchen hatte seine Leine genommen und auch den Rucksack dabei. Eleonore schaute zu Rusty und spürte die Aufregung des Hundes. Sie bückte sich und streichelte ihn liebevoll. Dann erhob sie sich wieder, schaute sich kurz um und freute sich, dass es hier von Wittenberg aus eine Buslinie nach Kiel gab. Sie erinnerte sich wieder an die langen Spaziergänge von Elmschenhagen nach Gaarden. Von Wittenberg nach Gaarden war es zwar sehr viel weiter, aber das Wetter würde heute für eine Wanderroute nach Kiel mitspielen. Es war windstill, die Sonne schien bei strahlend blauem Himmel und schaffte es, die Erde auf knapp 20 Grad zu erwärmen.
Andererseits gab es in diesem Ort zum Glück eine von der Schule in fünf Minuten Fußmarsch zur erreichende Haltestelle, Eleonore und Rusty konnten also gemütlich mit dem Bus fahren. Das Dorf war mit seinen 250 Einwohnern sehr klein. Dennoch gab es einen Marktplatz, der jeden Samstag mit bunten Ständen der Bauern aus der Umgebung besetzt wurde und viele Käufer anlockte.
Eleonore leinte Rusty an und ging mit ihm die kleine Anhöhe hinauf, hinter der die Bushaltestelle lag. Sie freute sich wie immer auf den Blick von der Spitze dieses Hügels, da man von dort das ganze Dorf überblicken konnte. Gerade waren sie oben angelangt, als sie von einem langsam fahrenden Auto überholt wurden. Da es im gesamten Dorf keine Wege für Fußgänger gab, mussten man immer auf der Straße gehen. Das war aber kein Problem, denn die wenigen Autos, die diesen Ort passierten, fuhren sehr langsam. Die Straße war aufgrund der Kriegsschäden noch in einem schlechten Zustand und ließ hohe Geschwindigkeiten zudem nicht zu.
Während Eleonore weiterging, überkam sie wieder die Erinnerung an die Flucht aus Gotenhafen. Wie sie jetzt ihren Rucksack bequem auf dem Rücken trug, waren ihre Gedanken bei Anna, die sie damals tagelang auf der Flucht im Arm hielt. Die Schwester auf dem Rücken zu tragen, wäre viel angenehmer gewesen. Das gab es doch nicht! Schon wieder holte sie die Vergangenheit ein! Zwar hatte ihr der Brief geholfen, diese Zeit besser zu sortieren, aber ob dieses ständige „Überrolltwerden“ von der Vergangenheit jemals aufhören würde? Konnte man nicht irgendwann einmal sorglos in der Gegenwart leben, ohne ständig den Ballast der Vergangenheit mit sich herumzuschleppen?
Eleonore versank trotz Widerwillen während des Gehens in die alten Zeiten. Die Bilder der Flucht zogen an ihr vorbei, die vielen Toten und die Menschen, die verzweifelt am Wegrand weinten, Kinder, die nach ihren Eltern schrien. Und dann die Kälte, die maßlose Kälte! Sie erinnerte sich an eine Frau, deren Baby gerade drei Tagen vor der Flucht an Mumps verstorben war. Diese Frau rettete Anna das Leben, indem sie sie stillte. Sie hatte es nicht mit ansehen können, wie schrecklich ausgemergelt und schwach die Kleine war und wollte nicht noch ein Baby sterben sehen. Anna hatte als Baby nicht mehr die Kraft zum Schreien. Dass die Frau soviel Mitleid trotz des eigenen großen Verlustes aufzubringen vermochte, war unfassbar. Man stelle sich vor, diese arme Frau trug noch Milch, die für ihr eigenes Baby bestimmt war. Und nun bekam ein völlig fremdes Kind diese Milch zum Überleben. Die Dankbarkeit gegenüber dieser unbekannten Frau würde Eleonore niemals im Leben vergessen. Bis nach Lübeck fuhren sie damals gemeinsam, dann verloren sie sich bei einem Bombenalarm aus den Augen.
Noch ganz in Gedanken war Eleonore mit Rusty an der Bushaltestelle des Ortes angelangt. Der Bus fuhr von hier täglich dreimal. Sie setzte sich auf die Bank bei der Haltestelle und wartete. Nach kurzer Zeit beobachtete Eleonore, wie ein junger Mann das Haus gegenüber verließ und in den auf der Auffahrt stehenden schwarzen Ford stieg. Sie kannte diesen Mann nicht, meinte aber doch, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. In der Haustür stand ein älteres Ehepaar und winkte dem Fahrer zum Abschied zu. Der Wagen fuhr langsam an der Haltestelle vorbei und Eleonore sah, wie der Fahrer sie interessiert musterte. Sie verfolgte ihn mit den Augen. Plötzlich hielt der Wagen an, fuhr langsam rückwärts und hielt direkt neben ihr. Eleonore dachte, er hätte etwas vergessen und wäre deshalb zurückgefahren, aber er hatte bereits sein Fenster heruntergekurbelt und schaute sie erneut an. Breit grinsend fragte er:
„Hallo, wo wollen Sie denn hin?“
„Was geht Sie das an?“, konterte Eleonore empört und schlecht gelaunt. Das Grinsen des Fahrers empfand sie zusätzlich als Unverschämtheit und die Frage stand ihm als fremdem Menschen überhaupt nicht zu. Wo hatte dieser Lümmel denn Benehmen gelernt! Er hätte noch einmal zu ihr in die Schule gemusst, um richtiges Benehmen zu lernen. Unbeirrt von Eleonores pampiger Antwort, antwortete der Mann hinter dem Steuer:
„Eigentlich nichts, aber falls Sie vorhatten, mit dem Bus zu fahren, weiß ich zufällig, dass hier sonntags keiner fährt, nur wochentags hat man die Möglichkeit. Glauben Sie mir! Ich bin hier groß geworden und besuche regelmäßig meine Eltern. Sehen Sie?“
Er zeigte auf das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite und erklärte:
„Dort wohnen meine Eltern. Das ist mein Elternhaus, in dem ich 20 Jahre lebte.“
Eleonore schaute zu dem Haus hinüber und sah, wie das ältere Ehepaar noch an der Haustür stand und verwundert ihrem Sohn hinterherschaute. Er winkte den Eltern noch einmal zu. Eleonore nahm den immer noch amüsiert grinsenden Mann genauer ins Visier. Er war groß, blond, schlank, ein sehr gut aussehender Mann. Genauer gesagt, er sah verdammt gut aus, genau ihr Geschmack. Auf einmal kam ihr das Grinsen gar nicht mehr frech, sondern eher sympathisch vor und so antwortete sie etwas gezähmter:
„Ich wollte eigentlich nach Kiel, nach Kiel-Gaarden.“
Überrascht antwortete er:
„So ein Zufall. Ich fahre zufällig genau nach Kiel-Gaarden. Da kann ich Sie ja mitnehmen, wenn Sie so mutig sind, mit einem fremden Mann mitzufahren. Ich bin wahrscheinlich heute für Sie die letzte Chance, um nach Kiel zu kommen. Ansonsten müssten Sie zu Fuß gehen oder ein Fahrrad nehmen. Das sähe für Ihre Schüler sicher sehr vorbildlich aus, aber vielleicht möchten Sie mit mir Vorlieb nehmen und etwas weniger schweißtreibend nach Kiel gelangen?“
Eleonore blieb kurz die Luft weg vor so viel Selbstbewusstsein. Er schien sie als Lehrerin zu kennen. Vielleicht hatten seine Eltern bereits von ihr erzählt? Die Anwesenheit einer neuen Lehrerin in einem so kleinen Dorf sprach sich schnell herum. Eleonore dachte nur kurz nach und kam zu dem Entschluss, das Angebot anzunehmen. Sie wollte unbedingt nach Kiel, um endlich einmal und letztendlich Klartext mit ihren Eltern zu reden. Außerdem erinnerte sie sich jetzt, wo sie diesen Mann gesehen hatte. Ja, jetzt fiel es ihr ein: er hatte schon ab und zu auf dem Markt hinter dem Gemüsestand gestanden. Sein gutes Aussehen war ihr schon mehrfach aufgefallen, aber jetzt wirkte er noch viel attraktiver. Wahrscheinlich half er auf dem Markt manchmal seinen Eltern beim Verkauf.
„Okay, Sie haben mich überzeugt. Ich fahre mit“, gab sie ihm nun zu verstehen.
Erfreut sprang der Mann aus dem Auto, lief herum und öffnete die Beifahrertür, klappte die Lehne des Beifahrersitzes nach vorne und bat Rusty auf der Rücksitzbank, die mit einer Decke abgedeckt war, Platz zu nehmen. Rusty sprang ohne Zögern hinein und machte es sich bequem. Eleonore musste lachen. Jetzt klappte der gut aussehende Mann die Lehne wieder vorsichtig zurück, um Rusty nicht zu erschrecken, verbeugte sich vor Eleonore, schwang seinen Arm einladend Richtung Beifahrersitz und sagte gewandt zu ihr:
„Es ist mir eine Ehre, eine so hübsche Frau und dazu noch die Leiterin der Wittenberger Dorfschule zu befördern.“
Trotz dieses aufgeblasenen Komplimentes fühlte sie sich geschmeichelt, lachte und stieg beschwingt ein. Der Mann nahm ihr zuvor noch ihren Rucksack ab und legte ihn auf den Rücksitz zu Rusty. Es war ein äußerst gepflegter Wagen mit herrlichen, weißen Ledersitzen. Das Lenkrad sowie alle Armaturen waren aus einem dunklen edlen Holz und es blitzte und glänzte alles im Auto. Auf Anhieb fühlte sie sich in dieser Luxuslimousine wohl. Der hübsche Mann eilte um das Auto, winkte seinen Eltern noch einmal zu, nahm auf dem Fahrersitz Platz und los ging es.
„Da habe ich ja Glück gehabt, dass Sie anhielten und mir trotz meiner etwas ungehaltenen Antwort anboten, mitzufahren“, begann Eleonore die Unterhaltung.
„Ja, und ich habe erst ein Glück, mit der Leiterin unserer Dorfschule persönlich fahren zu dürfen.“
„Ein bisschen merkwürdig ist es schon, mit einem fremden Mann zu fahren“, stellte Eleonore nun fest.
„Ich hoffe, ich war Ihnen nicht zu aufdringlich? Ich gehöre eigentlich nicht zu den Männern, die so draufgängerisch sind. Das mag ich nämlich auch nicht, denn es ist den Frauen gegenüber respektlos.“
Er schaute kurz zu ihr, überlegte und setzte dann fort:
„Als ich Sie eben so alleine sah, wirkten Sie auf mich sehr angespannt. Da dachte ich mir, wenn Sie jetzt auch noch bemerken, dass der Bus nicht fährt, wären Sie so richtig am Boden zerstört. Eine Art Intuition meinerseits sorgte dafür, dass ich anhielt. Manchmal habe ich so etwas und dann ist es wie ein Zwang, das zu tun, was mir der Kopf befiehlt. Das Erstaunlichste daran ist, dass ich mich in den Situationen noch nie getäuscht habe. Es ist immer wie ein Wink Gottes.“
Eleonore konnte es sich nicht verkneifen, ironisch zu fragen:
„Und da haben Sie sich heute gedacht, machen Sie doch einmal etwas Selbstloses, damit Sie in der Kirche nicht beichten müssen?“
Der Mann schmunzelte und entgegnete:
„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Ich gehe nicht in die Kirche, bin allerdings Mitglied, da ich sonst meinen Beruf nicht ausüben könnte. Ich bin eigentlich nicht religiös, sondern überzeugter Agnostiker.“
Mittlerweile fuhren sie langsam die Dorfstraße herunter. Eleonore schaute ihn fragend an. Er begann zu erklären:
„Agnostizismus ist eine Weltanschauung. Sie hebt die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens hervor. Auf die Frage, ob es einen Gott gibt, antwortet der Agnostiker zum Beispiel mit: Ich weiß es nicht! Und nicht mit Ja oder Nein.“
„Ja, ja“, antwortete Eleonore. „Ich kenne den Begriff des Agnostikers. So gesehen bin ich ebenfalls Agnostikerin. Aber mein fragender Blick bezog sich auf Ihren Beruf. Welchen Beruf üben sie aus?“
Der Mann hielt plötzlich seine Hand vor den Mund und sagte:
„Ach,- entschuldigen Sie, mir fällt gerade ein, ich habe ja ganz vergessen mich vorzustellen. Also: Ich heiße Lutz Gronau und bin gebürtiger Wittenberger.“
Sie hatten mittlerweile den Ortsausgang erreicht und Herr Gronau beschleunigte auf der Landstraße die Fahrt. Eleonore wartete auf weitere Erklärungen seinerseits. Als er aber keinen Ansatz startete, fragte sie:
„Und welchem Beruf gehen Sie nun nach?“
„Ach ja, das wollte ich ja sagen. Also, ich bin Lehrer auf der Gesamtschule in Preetz. Und heute bin ich auf dem Weg nach Kiel, um meinen Bruder zu besuchen. Der wohnt in Kiel-Gaarden und ist übrigens auch Lehrer. Das ist wohl vererbbar oder ansteckend.“
Herr Gronau schaute sie kurz fragend an, ehe er seinen Blick wieder nach vorne richtete. Eleonore lachte und überlegte, wie viel sie von sich preisgeben sollte. Irgendwie hatte sie zu diesem Mann großes Vertrauen. Er wirkte sehr ehrlich und warmherzig. Also entschloss sie sich zu Folgendem:
„Ich bin Eleonore Müller und habe vor einem Monat die Leitung der Wittenberger Dorfschule übernommen.“
Herr Gronau musste nun laut lachen.
„Was für eine Neuigkeit“, rief er. Er schaute dabei nur auf die Straße. Sein Lachen war so herzlich, dass Eleonore ebenfalls mit einstimmte. Das Eis war gebrochen. Und ohne Umschweife erzählte Eleonore, allerdings etwas ungeordnet:
„Meine Eltern leben mit meiner kleinsten fünfjährigen Schwester in Kiel-Gaarden. Meine andere Schwester ist ein Jahr jünger als ich und wohnt in Stuttgart. Ich war bis vor kurzem Lehrerin auf der Realschule in Kiel-Gaarden. Davor absolvierte ich in diversen Schulen obligatorische Praktika, zum Beispiel in Rönne und Rüfrade.“
Herr Gronau überlegte kurz und stellte dann belustigt fest:
„Es ist schon komisch, neben der Schulleiterin der Schule zu sitzen, in der ich viele Jahre meiner Kindheit verbrachte.“
Dann aber fragte er ernsthaft interessiert:
„An welcher Schule in Kiel-Gaarden waren sie denn tätig?“
„An der Gaardener Realschule. Das Gebäude der Schule ist eine wunderschöne alte Villa. 1909 war sie die modernste Schule von Kiel und hat auch heute noch einen guten Ruf. Abgesehen vom angestrebten modernen pädagogischen Konzept an dieser Schule, ist es auch noch eine unglaublich hübsche Schule, an der das Unterrichten prinzipiell richtig Spaß brachte“, schwärmte Eleonore.
„Ich weiß!“ antwortete Herr Gronau.
„Woher?“ fragte Eleonore.
„Mein Bruder ist dort ungefähr seit drei Jahren Lehrer.“
„Nein, so ein Zufall“, antwortete Eleonore überrascht, überlegte kurz und fragte:
“Ist es etwa Lars Gronau, der nette große schlanke Englisch- und Geschichtslehrer?“
„Ja, genau der. Sie kennen ihn?“, fragte Lutz und gab sich selbst die Antwort: „Ach, ja. Natürlich! Sie müssen ihn ja kennen, wenn Sie auch dort unterrichteten.“
„Ja, sicher. Ich kenne ihn sogar sehr gut, denn wir haben mit dem Direktor, Herrn Reller, das neue pädagogische Konzept erarbeitet, nachdem die Schule nun schon seit einigen Monaten vorgeht.“
„Ich hörte davon und auch, dass das Konzept mittlerweile auf positive Resonanz stieß,“ Lutz Gronau zögerte etwas und sagte dann: „Es gab und gibt immernoch auch viele negative Kritiken.“
„Ja, leider. Die Eltern und auch ein Teil der Lehrerschaft waren und sind immer noch sehr konservativ. Sich gegen Altgewohntes durchzusetzen scheint fast unmöglich. Und in Wittenberg ist es noch schwieriger. Die Eltern können sich hier gar nicht an die humaneren Lehrmethoden gewöhnen. Aber ich gebe den Kampf so schnell nicht auf!“
Herr Gronau fragte:
„Das finde ich sehr beeindruckend! Das muss heutzutage als Frau ganz schwer sein. Was treibt Sie denn genau heute nach Kiel-Gaarden, alte Kollegen besuchen oder die Eltern mit der Schwester?“
„Ich möchte,- nein ich muss zu meinen Eltern.“
Eleonore war beeindruckt, dass Herr Gronau ihr genau zugehört hatte und sagte weiter:
„Leider habe ich mich vorhin mit meiner Mutter am Telefon gestritten und hoffe, das nun wieder ausbügeln zu können.“
„Das kenne ich! Schon oft gab es mit meinen Eltern Streit, den ich dann vor Ort wieder begradigen musste. Worum ging es denn in dem Streit? Manchmal ist es besser, erst etwas Gras darüber wachsen zu lassen und sich für eine Zeit nicht sehen zu lassen“, sagte er und stellte aber sofort fest: „Nein, entschuldigen Sie, das geht mich ja gar nichts an. Ich wollte nicht neugierig sein.“
„Ach, nein, Sie sind nicht neugierig. Es tut ja auch gut, seinen Kummer einmal verbal loszuwerden“, antwortete Eleonore spontan. „Zuerst wollte ich meine Eltern aus lauter Ärger auch nicht besuchen, dann aber hatte ich Mitleid mit meiner kleinen Schwester, die sich immer so freut, wenn ich komme.“
Eleonore verharrte kurz. Wieso war sie diesem fremden Mann so offen gegenüber? Sicher interessierte ihn das alles gar nicht wirklich. Sie sagte:
„Entschuldigen Sie. Ich will Sie nicht belästigen mit so unwichtigen Dingen.“
„Nein“, antwortete Herr Gronau sofort. „Sie belästigen mich keineswegs, ehrlich.“
Er schaute sie dabei kurz an. Eleonore befürchtete zunächst, dass er sich über sie lustig machte, fühlte dann aber eine große Ehrlichkeit in seinem Blick und fuhr fort:
„Meine süße kleine Schwester vermisst mich sehr. Als ich noch in Gaarden arbeitete, habe ich sie täglich besucht und mich viel um sie gekümmert. Wir lieben uns beide und sie braucht mich unbedingt. Ich muss sie jetzt einfach wiedersehen. Und dann ist es unerlässlich mit meiner Mutter zu reden. Außerdem hatte ich den Eindruck, als wollte sie mir irgendetwas Wichtiges am Telefon sagen, ich konnte es aber nicht verstehen, weil die Leitung unterbrochen wurde.“
Eleonore hielt kurz inne und sagte dann:
„Nach dem Telefonat ging es mir ähnlich wie Ihnen manchmal. Eine Art Intuition sagte mir: Fahre hin! Nur, es war kein Wink Gottes, sondern eher ein Wink meiner Gefühle oder meine innere Stimme befahl es mir“, erklärte Eleonore.