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10 Der Regenwurm

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Am nächsten Morgen wachte Eleonore früh auf, es war noch stockdunkel draußen. Sie schaltete ihre Nachttischlampe an, sah neben sich und staunte, dort ihre kleine Schwester liegen zu sehen. Nach kurzer Besinnung erinnerte sie sich an den gestrigen Tag. Wie niedlich dieses Kindchen dort im Bett neben ihr lag. Anna schlief noch ganz fest. Vorsichtig streichelte Eleonore Annas Gesicht, gab ihr einen Kuss und stand leise auf. Sie schaltete das Licht wieder aus, schlich im Dunkeln auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und lehnte die Zimmertür leicht an, damit die Kleine nicht aufwachte. Im Bad zog sich Eleonore an und ging dann in die Küche, um zu frühstücken. Es gab Haferflocken mit Milch und Zucker, ein sehr günstiges, gesundes und gehaltvolles Essen, welches sie zudem auch noch sehr gerne aß. Nach dem Frühstück ging sie nach unten. Sie hatte die Wohnungstür leicht angelehnt, damit sie Anna sofort hören würde, wenn sie erwachte.

Eleonore betrat ihr „Lehrerzimmer“, denn sie musste unbedingt arbeiten. Sie befasste sie sich regelmäßig seit Wochen mit zwei wissenschaftlichen Arbeiten. Die eine Arbeit trug den Titel „Die Ermüdbarkeit im Volksschulalltag“, die andere war ihre pädagogische Hausarbeit und trug das Thema: „Der Regenwurm“. Letztere sollte ihr Studium offiziell abschließen. Sich mit dem Thema der „Ermüdbarkeit im Volksschulalltag“ auseinanderzusetzen, hatte sie der Professor Dr. Karl Mierke vor einigen Wochen gebeten. Er wollte gerne erfahren, wann die Schüler beim Unterricht ermüdeten und was man gegen die Müdigkeit unternehmen oder wie man ihr vorbeugen konnte. Eleonore hatte eingewilligt, denn auch sie fand das Thema sehr interessant. Beide Arbeiten waren sehr umfangreich und beanspruchten viele Monate intensiver Forschung und dutzende zu tippender Seiten.

Die angelehnte Wohnungstür ließ Eleonore unten beruhigt arbeiten, denn sie würde Anna sofort hören, falls sie rief. Noch immer war es draußen dunkel, aber es dämmerte langsam. Eleonore hatte das Treppen- und Flurlicht angelassen, damit ihre kleine Schwester sich im Dunkeln nicht fürchten musste.

Heute, wie auch schon die letzten Tage zufuhr, wollte sich Eleonore mit den Regenwürmern befassen. Sie musste mit dieser Arbeit endlich einmal weiter vorankommen!

Das Thema der „Ermüdbarkeit im Volksschulalltag“ interessierte sie ebenfalls brennend, aber die Regenwürmer hatten Priorität. Auch konnte Eleonore ihre Regenwurmarbeit unabhängig von dem Schulunterricht gestalten, während sie für die Untersuchung der Ermüdbarkeit der Schüler viele Tests an den Schülern durchführen musste. Um diese Untersuchungen annähernd wissenschaftlich messen zu können, waren ihre Schüler schon so manches Mal unbemerkt als Testkaninchen benutzt worden. Ab und zu wunderten sie sich darüber, welch komische Ideen ihre Lehrerin denn nun schon wieder hatte, störten sich aber nicht daran. Eher amüsierten sie sich von Zeit zu Zeit.

Die Arbeit über Regenwürmer untermauerte Eleonore mit praktischen Versuchen, die sie zu jeder Uhrzeit unabhängig von ihren Schülern, vom Unterricht und jedweder Zeiteinteilung gestalten konnte. Natürlich war sehr viel Fachliteratur zu lesen, um sich wissenschaftlich intensiv zu informieren. Sie experimentierte zusätzlich mit lebenden Regenwürmern, die sie im Lehrerzimmer in großen Gläsern hielt. Dabei kam sie sich manchmal gemein und unmenschlich vor. Schon so mancher Regenwurm musste in alle Einzelteile „zerlegt“ werden, um seinen Aufbau und die Organe erklären und zeichnen zu können. Mittels einer Lupe ging sie dabei mit großer Präzision vor. Viele Stunden hatte sie „ihre Würmer“ bereits beobachtet und immer wieder neue, nicht immer tierfreundliche Versuche unternommen.

Sie schaute auf ihren Schreibtisch. Dort stand die Schreibmaschine und rechts daneben lagen auf einem Stapel viele fertig getippte Seiten. Sie blätterte in dem Stapel herum und machte das, was sie in letzter Zeit so oft tat: Sie las ihren eigenen Text wieder und wieder mit Begeisterung. Am meisten liebte sie den Anfang, der das Arbeitsthema gut begründete:

Warum bringe ich in den Mittelpunkt meiner Arbeit gerade den Regenwurm? Gehört er doch einem Kreis von Lebewesen an, auf den die meisten Menschen mit Verachtung herabblicken. An einen Wurm knüpft selbst das Kind schon abscheuliche Erinnerung, wird es doch nicht selten von einem jener ekelhafte Wesen - sei es vielleicht ein Spulwurm oder ein Blutegel - geplagt. Trotzdem möchte ich für die Behandlung eines Wurmes im Unterricht der Volksschule eintreten, denn die Menschen dürfen nicht alle Würmer verabscheuen.

Ein Vertreter dieses Tierkreises, nämlich der Regenwurm, verdient es sogar, von ihnen besonders geachtet zu werden. Sein Dasein bringt ihnen keinen Schaden, sondern nur Nutzen. Darum bin ich davon überzeugt, dass der Volksschullehrer bei der Behandlung des Regenwurms die ihm zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden nicht vergeudet. In meinen folgenden Ausführungen möchte ich sogar beweisen, dass gerade jenes Stoffgebiet dem Lehrer die Möglichkeit zur Erteilung eines besonders fruchtbaren Unterrichtes bietet.

So könnte z.B. ein Fall eintreten, in dem der Lehrer seinen Schülern sagen muss: „Ob der Regenwurm die Fähigkeit der Selbstergänzung hat, weiß ich nicht; denn BREHM schreibt nichts davon“. Ein zeitgemäßer Volksschulunterricht lässt diesen vom Lehrer angeführten Entschuldigungsgrund nicht als solchen gelten: Heute sollen Bücher dem Lehrer nur eine Anleitung zu zweckmäßiger, geordneter und selbständiger Arbeit geben. Er persönlich muss bis zur Begegnung mit der Wirklichkeit einer Sache vordringen. Darum habe ich während meiner Arbeit fort und fort den Regenwurm unmittelbar beobachtet.

Eleonore war in ihre Arbeit vertieft. Es war ein so gutes Gefühl, die eigenen Worte immer wieder zu überdenken. Sie konnte sich von ihrem Text nicht trennen und las weiter:

Wenn ich einen lebenden Regenwurm betrachte, erkenne ich, dass er zweiseitig-symmetrisch ist. Bei einem Längsschnitt würde sein Körper in zwei völlig gleiche Teile verfallen. Viele Einzelheiten des Körpers sind also geradzahlig oder paarweise vorhanden.

Sie hatte an dieser Stelle Platz gelassen, denn dort sollte noch eine Zeichnung eingefügt werden. Weiter las sie:

Das erste Glied stellt den Kopf des Regenwurms dar, an dessen Unterseite man mit der Lupe eine kieferlose, runde Mundöffnung erkennen kann. Über dieser befindet sich der Kopflappen, der zum Tasten dient. Auch liegt im ersten Segment das „Gehirn“.

Sie blätterte um und verfolgte ihre Arbeit:

Das Nervensystem trägt den Namen „Strickleiternervensystem“, denn es besteht aus einzelnen Nervenknoten, die paarweise miteinander verknüpft sind. Außerdem steht jedes Nervenknotenpaar mit den beiden benachbarten Paaren in Verbindung.

Wieder hatte Eleonore Platz für eine Zeichnung gelassen. Sie wollte alle Zeichnungen erst zum Schluss einkleben. Zum Teil hatte sie die Bilder bereits fertig, aber nicht alle gefielen ihr. Sie wollte später mehrere Bilder noch einmal anders anfertigen. Nun las sie zum Thema „Die Atmung des Regenwurms“:

Zum Atmen benötigt der Wurm weder Nasenöffnungen noch Lungen. Als Atmungsorgan dient ihm die gesamte Körperoberfläche. Sein Bedarf an Sauerstoff ist wahrscheinlich sehr gering. In der Absicht, ein Tier zu ersticken, brachte ich es unter Wasser, hatte aber nach 10 Minuten noch nicht mein Ziel erreicht. Nach wie vor pulsierte das Blut im Körper des Tieres, wobei es schließlich eine verhältnismäßig dunkelrote Färbung annahm. Das deute ich als Zeichen des Sauerstoffmangels. Ein zweiter Versuch ergab, dass der Wurm erstickt, wenn er sich noch längere Zeit im Wasser befindet. Dadurch erklärt sich auch, dass die Regenwürmer bei Regengüssen an die Erdoberfläche kommen müssen. Im anderen Fall würden sie in ihrem mit Wasser gefüllten Wohnröhren sterben. (Daher der Name REGENWURM.)

Eleonore war schon ein bisschen stolz auf ihre bisherige Arbeit. So oft sie ihren eigenen Text auch las, sie fand ihn jedes Mal erneut interessant. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass sie viele Erkenntnisse aus eigener Erfahrung gesammelt hatte, so auch die nachfolgend geschilderte Beobachtung:

Füllt man ein Glasgefäß mit Erde und legt auf diese einige Regenwürmer, so sieht man, dass sie sofort danach streben, sich zu verkriechen. Dabei bohren sie sich zuerst mit dem spitzen Kopfende in den Boden hinein. Können sie nun die Erde nicht mit dem Kopf auseinander treiben, weil diese vielleicht zu hart ist, fressen sie sich hindurch, d.h. sie verschlucken die Erdkörnchen. In einem flachen, mit Erde gefüllten Gefäß sitzt der Wurm immer direkt auf dem Boden. Schüttet man dagegen unter die Erde zunächst noch eine Schicht Sand (etwas 4-5 cm), hält sich der Wurm in den ersten Tagen nur dort auf, wo sich die schwarze Erde mit der hellen Sandschicht berührt. Erst allmählich beginnt er, Röhren auch durch den Sand zu ziehen, die er langsam immer weiter vertreibt.

Ihre Begeisterung fand kein Ende, sie überflog ein paar Zeilen und las:

Ich legte auf die Erde im Glas einzelne Grashalme und Blätter und stellte fest, dass sie sämtlich in den Boden gezogen wurden. Bemerkenswert hierbei war, dass der Wurm bei der Nahrungssuche eine Auswahl trifft und vermoderte Stoffe (z.B. faule Apfelstücke) den grünen (z.B. frische Blätter) vorzieht. Dagegen ist es mir nicht gelungen, nachzuweisen, ob er lieber tierische als pflanzliche Stoffe frisst.

Es zeigt sich ferner, dass der Ringmuskelschlauch dem Tier die Kraft verleiht, auch größere Gegenstände (Hühnerfeder, Strohhalme, Zweiglein, ganze Bleistifte) langsam herunterzuziehen. Ich pflanzte in ein Glas zarte Pflanzlinge (Vierschrötig, Moos, Gras) und wartete, bis sie angewachsen waren und frisch aussahen. Dann brachte ich eine Anzahl Würmer, die ich sieben Tage hatte hungern lassen, hinein und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass sie den Pflanzen keinen Schaden zufügten.

Durch Versuche stellte ich fest, dass der Regenwurm allgemein auf chemische Reize reagiert. Da nun lebende Pflanzenwurzeln auch ein chemisches Produkt, nämlich Humussäure absondern, rührt er sie nicht an. Damit ist der Grund seines Unterscheidungsvermögens für lebende und tote Organismen gefunden.

Eleonore wollte heute Dr. J. Hamachers Behauptung, dass über der ganzen Haut des Regenwurmes lichtempfindliche Zellen verteilt sind, auf den Grund gehen. Nebenbei interessierte es sie, ob ein Regenwurm weiter leben würde, wenn man ihn in zwei Hälften teilte. Sie freute sich schon auf die entsprechenden Experimente. Da allgemein im Volksmund gesagt wurde, man könne den Regenwurm ruhig durchtrennen, es lebten trotzdem beide Hälften weiter, hielt sich ihr schlechtes Gewissen bezüglich Tierversuche mit Regenwürmern in Grenzen, obwohl sie schon ahnte, dass der Wurm nicht überleben würden. Sie war sich aber nicht sicher und sehr gespannt, wie sich beide Hälften entwickeln würden.

„Mama!“, hörte Eleonore plötzlich eine Kinderstimme rufen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es Anna war, die gerufen hatte. Schnell ging sie aus ihrem Lehrerzimmer und rief in das Treppenhaus:

„Warte Anna, ich komme sofort. Keine Angst, ich bin schon bei dir.“

Hastig eilte sie die Treppe hinauf und sah oben in der Wohnungstür die kleine verunsicherte Anna stehen. Sie war ganz blass und schaute verwirrt um sich. Eleonore nahm sie auf den Arm und sagte beruhigend:

„Mama ist nicht da, aber ich bin ja jetzt für dich da!“

„Darf ich Mama zu dir sagen? Du bist doch jetzt meine Mama, oder nicht?“, fragte Anna zaghaft.

„Ich bin jetzt schon so etwas wie eine Mama für dich, aber besser ist es, wenn du Lori zu mir sagst. Du bist ja meine Schwester und nicht mein Kind. Die Leute reden sonst komisch und denken, du seist mein Kind, weißt du?“

Anna schaute Eleonore verschlafen an, schloss die Augen und legte den Kopf auf ihre Schultern und murmelte:

„Auch egal. Für mich bist du die beste Schwestermama der Welt. Im Inneren werde ich dich immer Mama nennen.“

Eleonore brachte Anna zurück in ihr Bett und legte sich neben sie. Nun kuschelten beide noch lange ehe sie endgültig aufstanden. Beim Kuscheln empfanden beide eine angenehme Wärme und Zufriedenheit. Ein eigenes Kind wäre eigentlich eine schöne Sache, dachte Eleonore, und das Ganze noch ohne Mann, wäre auch nicht schlecht. Sie war zum ersten Mal erstaunt über solche Gedanken, denn bisher hatte sie gedacht, eine glückliche Familie bestand aus Frau und Kind und dem Ehemann.

Die folgenden Wochen lebten Anna und Eleonore sehr zufrieden in herrlicher Zweisamkeit. Die Treffen mit Lutz wurden schwieriger, aber sie trafen sich meist an den Wochenenden, wenn Anna ihre Eltern besuchte, was jedes zweite Wochenende passierte. Nach einigen Monaten zogen die Eltern in eine größere Wohnung. Sie blieben im Ort Elmschenhagen, aber in ihrer neuen Gegend gab es keine Pöbeleien mehr von irgendwelchen bösen Menschen, die gegen Flüchtlinge waren. Dort hätte Anna drinnen und draußen spielen können, wie es ihr gerade behagte. Keiner würde sie mehr vom Grundstück verscheuchen. Sie hätte mittlerweile aufgrund der geänderten Wohnlage ihrer Eltern wieder zu ihnen ziehen können, aber weder die Eltern noch Anna wollten dies. Somit beschloss man, dass alles beim Alten blieb. Anna war bei ihrer Schwester sehr glücklich und sollte es auch bleiben. Und wieder wunderte sich Eleonore, wieso ihre Eltern kein Verlangen zeigten, Anna zu sich zu holen. Auf der anderen Seite hatte sie sich so an das Schwesterchen gewöhnt, dass ihr eine Trennung sehr schwer fallen würde.

In Wittenberg integrierte Anna sich problemlos in die Dorfgemeinschaft. Ostern sollte sie offiziell in die erste Klasse kommen, nahm aber jetzt schon immer am Unterricht mit größtem Interesse teil und konnte ihm gut folgen. Sie hatte ausgesprochen großen Spaß an der Schule.

Unfassbar war für Eleonore Annas Appetit, ständig konnte sie essen. Besonders groß war ihr Hunger, wenn sie nach vielen Stunden des Spielens mit Freunden auf den Wiesen, Feldern und Wäldern abends ausgeglichen und glücklich heim kam. Nachts schliefen beide in Eleonores Bett. Sie genossen es, abends und morgens im Bett zu kuscheln und nicht alleine zu sein.

Manchmal kam Anna nachmittags zu Eleonore ins Lehrerzimmer, schaute ihr bei ihren Regenwurmversuchen zu und löcherte sie mit Fragen. Abends ging sie gerne früh ins Bett, um zunächst noch mit ihrer großen Schwester zu kuscheln und anschließend schön lange in ihren Büchern zu lesen. Obwohl sie ja noch nicht schulpflichtig war, konnte sie bereits gut lesen, sie hatte es von Eleonore gelernt. Beim Lesen im Bett liebte sie den Klang der Schreibmaschine, der regelmäßig vom Lehrerzimmer durch die Wände bis ins Bett zu hören war.

Das frühe Zubettgehen von Anna kam Eleonore sehr entgegen, denn, obwohl sie sich viel um Anna kümmerte, mit ihr spielte, spazieren ging, kochte, Bücher vorlas oder bastelte, konnte sie sich nachmittags oft in aller Ruhe auf den Unterricht vorbereiten. Auch kam sie abends gut mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit voran. Nie hätte sie zuvor gedacht, dass das Leben mit einem kleinen Kind so stressfrei ablaufen konnte und das, obwohl sie berufstätig war.

Ihre Hausarbeit über die Regenwürmer nahm Gestalt an und je mehr sie schrieb, desto größer wurde ihre Begeisterung für das Thema. Ehe sie ihre Versuche und Texte endgültig mit der Schreibmaschine auf das Papier brachte, mussten sie sie hundertprozentig überzeugt haben. Wollte sie dann noch eine Änderung vornehmen, war das fast unmöglich, denn sie hätte die ganze Seite neu abschreiben müssen, zum Teil auch vorherige Seiten, da es sonst nicht mit den Seitenumbrüchen hinkam. Bisher war ihr das aber nur ein einziges Mal passiert, als sie zu wenig Platz für eine Zeichnung gelassen hatte und dann fünf Seiten neu tippen musste. Wieder einmal hatte sie gerade eine ihrer vielen Untersuchungsreihen abgeschlossen und übertrug ihren Text mit der Schreibmaschine ins Reine:

Als weiteres Problem beschäftigte mich, ob der Regenwurm auch auf Farbeindrücke reagiere. Zu diesem Zweck ließ ich ihn über einen in den Farben Schwarz, Rot und Weiß karierten Zeichenbogen kriechen, konnte aber keine besondere Reaktion feststellen. Allerdings ist der Wurm für Schallwellen empfänglich, denn er lässt sich durch schallendes Klopfen auf dem Boden aus der Erde locken.

Trotz der großen Anzahl von Feinden sterben die Regenwürmer nicht aus. Hier muss ich darauf hinweisen, wie die Natur auch in ihren kleinsten Teilen für einen gerechten Ausgleich sorgt. Neben der Vermehrung der Regenwürmer denke ich auch an ihre Regenerationsfähigkeit, durch die in verstärkten Maße Leben erhalten bleibt. Bei höheren Tieren und auch beim Menschen beschränkt sich die Regenerationsfähigkeit nur auf die Heilung verletzter Gewebe. Beim Regenwurm ist das nicht der Fall.

Ich trennte ein Tier in zwei Teile und beobachtete das Verhalten der beiden Enden. Das vordere Stück kroch sofort in die Erde und lebte dort weiter. Nach vierzehn Tagen war von der alten Wunde nichts mehr zu sehen. Es hatte sich ein neues Afterglied gebildet. Ganz anders verhielt sich das hintere Ende. Nach dem Schnitt führte es rückwärts und vorwärts noch einige Kriechbewegungen aus und blieb schließlich auf der Erdoberfläche liegen.

Vor kurzem hatte Eleonore ihren Selbstergänzungstest verfeinert und auch schon so ausgiebig getestet, dass sie ihn endgültig zu Papier bringen konnte:

Ein Wurm, den ich nur verletzte, hatte sich nach 5 Tagen völlig durchgetrennt. (Beim Ausführen dieser Versuche bedeckt man die Tiere am besten selbst mit feuchter Erde, um sie vor dem Vertrocknen zu schützen.)

Nachdem ich die zusätzliche und ungewöhnliche Gabe des Regenwurms, sich am Leben zu erhalten - nämlich die Regenerationfähigkeit - erläutert habe, möchte ich mich jetzt dem natürlichen, allgemeinen Mittel der Arterhaltung, der Fortpflanzung, zuwenden. Die Regenwürmer sind männlich und weiblich zugleich (hermaphrodit).

Nachdem sich Eleonore auf den biologischen Aspekt des Regenwurmes in ihrer Arbeit spezialisiert hatte, musste sie sich nun wieder dringend dem Hauptthema ihrer Arbeit, nämlich der Lehrertätigkeit an der Volksschule bezüglich des Regenwurmes zuwenden. Um in diesem Thema gedanklich weiter zu kommen und vor allem auch zu überzeugen, musste sie zunächst eine Schaffenspause einlegen.

Sie legte die Arbeit die nächsten Tage weg und widmete sich voll dem Unterricht mit ihren Schülern. Das tat richtig gut, denn nun konzentrierte sie sich nur auf ihre Stellung als Dorflehrerin und konnte sich intensiv mit dem Lehrstoff und ihren Schülern befassen.

Da sie neun Jahrgänge gleichzeitig unterrichtete, gab es jeden Tag viel vorzubereiten. Jeder Schüler musste einzeln betreut werden. Sie hatte bereits ein ausgeklügeltes System entwickelt, sich gerecht um den einzelnen Schüler zu kümmern. Zum großen Teil basierte ihr Unterrichtssystem darauf, dass die guten Schüler den Schwachen halfen.

An den Nachmittagen, wenn Anna spielen ging, bereitete sich Eleonore meistens auf den Unterricht vor, manchmal nahm sie sich aber auch frei und unternahm dann gerne mit Anna und dem Hund ausgiebige „Forschergänge“, wie Anna es nannte. Anna freute sich auf diese Ausflüge, spielte aber ebenso gern mit den vielen Freunden, die sie mittlerweile hatte. Sie nabelte sich mit den Monaten immer mehr ab. Das freute Eleonore, denn ihr Hauptziel war es, Anna zu einem selbstbewussten, eigenständigen, hilfsbereiten und klugen Menschen, der auch nein sagen konnte, aufwachsen zu lassen. Anna war auf dem besten Weg dorthin.

Eleonore - Der verlorene Kampf

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