Читать книгу Eleonore - Der verlorene Kampf - Cosima Cos - Страница 5
3 Rückblick
ОглавлениеEleonore verließ das Lehrerzimmer und ging die steile Holztreppe zu ihrer Wohnung wieder hinauf. Rusty folgte ihr. Die Lust auf Arbeit war Eleonore vergangen. Sie setzte sich in ihren Sessel im Wohnzimmer, was für ein Luxus, nun ein Wohnzimmer zu besitzen, und dachte nach. Warum schaffte man mit fast dreißig Jahren nicht, sich von den Eltern zu lösen? Würde man sich ihnen gegenüber immer verpflichtet fühlen müssen?
Vor einiger Zeit hatte Eleonore diese Umklammerung ihrer Mutter nicht mehr ertragen, war über Nacht von zu Hause „ausgebrochen“ und ihren eigenen unabhängigen Weg gegangen. Ihre Eltern sah sie in der Zeit sehr selten. Den spärlichen Kontakt zu ihnen und vor allem zu ihrer geliebten kleinen Schwester Anna hielt Eleonore aber nach mehreren Monaten nicht mehr aus und hatte ihn vorsichtig wieder aufgebaut.
Eleonore ließ ihren Kopf nach hinten in die Nackenstütze des Sessels fallen, schloss die Augen und ließ die Erinnerungen aus ihrer Zeit zwischen der Flucht und vor Wittenberg an sich vorbeiziehen. Das hatte sie bisher kaum gewagt. Aber irgendwann musste man sich ja der Vergangenheit stellen, man durfte sie nicht einfach ausblenden. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst. Man konnte sich nicht immer im Griff haben. Sie ließ ihren Gedanken jetzt freien Lauf und erinnerte sich.
In der Zeit als Eleonore die Beziehung zu den Eltern völlig lahmlegte, arbeitete sie zunächst an unterschiedlichen Schulen, um Berufserfahrung zu sammeln. Dann erhielt sie bedingt durch den Lehrermangel eine Festanstellung als Lehrerin an der Realschule in Kiel-Gaarden. Während dieser Zeit baute sie das Verhältnis zur Mutter und zum Vater wieder allmählich auf, allein schon dadurch bedingt, dass ihre Eltern ganz in der Nähe der Realschule wohnten, aber besonders wegen des guten Verhältnisses zur kleinen Schwester Anna. Eleonore begann, ihre Eltern und Anna wieder regelmäßiger zu besuchen. Sie selbst hatte damals ein Zimmer in Kiel-Elmschenhagen gemietet und legte täglich den Weg zur Schule zu Fuß zurück. Das waren manchmal sehr lange und beschwerliche Fußmärsche, besonders im verschneiten Winter. Oft erschien sie mit Gummistiefeln und Regenjacke völlig durchnässt und durchgefroren im Klassenraum.
Eleonore tauchte weiter in ihre Vergangenheit ein. Sie befand sich auf einer unaufhaltsamen Zeitreise. Angst überkam sie.
Ein Tag veränderte ihr Leben als Lehrerin in Gaarden damals abrupt. Sie befand sich an ihrem Arbeitsplatz, einem Klassenzimmer der Gaardener Realschule. Dort saß sie, wie so oft nach Schulschluss nachdenklich an ihrem Lehrerpult in der leeren Klasse. Sie stützte ihre spitzen Ellenbogen auf die Tischplatte und legte ihren Kopf in ihre Hände. Die langen, gewellten dunkelblonden Haare fielen nach vorne und verdeckten ihr Gesicht. Ihrem Mund entfloh ein tiefer Seufzer. Im Flur hallten noch die letzten lauten Kinderstimmen nach. Aufgeregt unterhielten sich die Schüler über ihre gerade abgeschlossene Klassenarbeit. Eleonore hörte ein Kind sagen:
„Das war gar nicht so eine schwere Arbeit. Frau Müller ist wirklich eine großartige Lehrerin. Sie kann uns alles so gut beibringen.“
Ein zweites Kind antwortete darauf:
„Ja, das finde ich auch. Und ihre kleine Schwester ist so niedlich. Ich habe sie neulich mit ihr gesehen. Aber meine Mutter sagt, dass sie etwas ...“
Den Rest des Satzes konnte Eleonore nicht mehr hören, denn nun verklangen die Stimmen in der Ferne. Sie hörte, wie sich die Schultür schloss und dann wurde es ganz still. Wie sehr liebte sie diese Stille. Hier konnte ihr niemand etwas antun. Keine gehässigten Worte über ihr Äußeres, über ihr Wesen und über ihr Privatleben. Jeden Tag sehnte sie sich nach dieser Stille und menschenleeren Zeit. Sie stand auf und schaute aus dem Fenster. Einige Schüler waren noch auf dem Schulhof und diskutierten. Der Fahrradständer war leer, bis auf ein Fahrrad, es war das Fahrrad des Direktors, Bernd Reller. Sie wusste, dass er noch in der Schule war. Einerseits freute sie das, auf der anderen Seite wünschte sie ihn weit weg. Langsam ging sie zu ihrem Lehrerpult zurück, setzte sich auf ihren Stuhl und dachte nach.
Vor einigen Monaten hatte Eleonore mit Bernd Reller und einem weiteren Kollegen, Lars Gronau, über ein neues moderneres Schulkonzept nachgedacht. Alle drei waren diesbezüglich sehr engagiert gewesen und hatten letztendlich ein großartig ausgereiftes Konzept entworfen, welches behutsam realisiert werden sollte. Es basierte vor allem auf mehr Toleranz gegenüber den Schülern und dem Abbau des bisherigen Frontalunterrichts. Allerdings fand es bei diversen Kollegen und Eltern nicht allzu großen Anklang. Eleonore ließ sich dadurch nicht entmutigen, sie setzte die neuen Prinzipien auch gegen Widerstand rigoros durch.
Im Gegensatz zu ihr gingen Bernd Reller, Lars Gronau und andere Kollegen mit der Einführung des neu entworfenen Unterrichtsstils wesentlich behutsamer vor, um nicht auf zu viel Widerstand zu stoßen. Eleonore war wesentlich resoluter und ließ sich von abgeneigten Kollegen und Eltern nicht einschüchtern. Ihr moderner Unterrichtsstil widersprach allen bisherigen Methoden. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen, war sie immer freundlich zu ihren Schülern und züchtigte sie nie körperlich. Für sie stand jeder einzelne Schüler im Vordergrund, für den sie sich auch nach dem Unterricht oder in den Pausen Zeit nahm. In jeder Klassenarbeit fand sie etwas herausragend Positives, was sie am Ende der Arbeit schriftlich besonders betonte und lobte. Sie verteilte nie Fünfen und Sechsen. Wie mit ihren Kollegen besprochen, ließ Eleonore ihre Schüler ab sofort eigene Referate vorbereiten, welche sie anschließend engagiert vortrugen. Durch ihren neuen Unterrichtsstil konnte Eleonore ihre Schüler so gut motivieren, dass alle immer gute Leistungen ablieferten und durchgängig gute Noten bekamen. Dies brachte ihr allerdings die Ablehnung der anderen Lehrer ein. Man glaubte, sie würde die Schüler zu positiv bewerten und auch die Klassenarbeiten zu leicht gestalten, eventuell dabei sogar unerlaubte Hilfestellung leisten. So ein Blödsinn! Um diese Vermutungen zu widerlegen, sah sich Direktor Reller gezwungen, ab und zu Eleonores Unterricht zu besuchen und zu beobachten. Als Direktor war er verpflichtet, sich um die Beschwerden der Kollegen und Eltern zu kümmern. Schon nach kurzer Zeit aber erkannte er den Erfolg von Eleonores Unterrichtsstil und stand schnell insgeheim voll und ganz hinter dieser modernen, jungen, einfühlsamen Lehrerin, die mutig das über Wochen neu ausgearbeitetes Unterrichtskonzept wesentlich konsequenter verwirklichte, als er und seine anderen Kollegen.
Neben den Kontrollbesuchen gab es aber noch einen ganz anderen Grund, warum Direktor Reller sich Eleonores Unterricht immer öfter ansah. Er begehrte Eleonore unbeschreiblich. Schon nach der dritten zu beobachtenden Stunde hatten sich Eleonore und Bernd Reller am gleichen Tag nachmittags zufällig in der menschenleeren Schule getroffen. Sie hatten sich bis dahin unzählige Male bei Besprechungen gesehen, miteinander diskutiert und Pläne entworfen. Aber dieses Mal trafen sie sich zufällig ohne Grund und es war niemand in der Nähe. Bei diesem ungeplanten Treffen spürten beide erstmalig, dass sie sich körperlich wie Magneten anzogen. Es traf sie wie ein Blitz und es passierte das Unvermeidliche. Ungehemmt liebten sie sich im Klassenzimmer.
Es blieb nicht einmalig. Regelmäßig nach Schulschluss, immer, wenn es Bernds Berufs- und Privatleben zuließ, kamen sie zusammen. Eleonore war sich von Anfang an bewusst, dass er verheiratet war und er seine Frau und sein Kind niemals verlassen würde. Dennoch liebte sie ihn und er sie. Es ärgerte Eleonore sehr, dass sie es nicht schaffte, die Beziehung wieder auf die sachliche Ebene zurückzulenken.
Eigentlich wollte sie damals keine Beziehung eingehen, aber sie konnte ihre Zuneigung zu Bernd nicht stoppen. Er war ein äußerst intelligenter, sympathischer und toleranter Mann. Neben seiner attraktiven Figur ließ ihn sein Vollbart äußerst attraktiv und männlich erscheinen. Seine muskulöse Figur zog viele Frauenblicke auf sich, er hatte etwas beängstigend Magisches an sich. Egal wo und wann Eleonore ihn traf, war es um sie geschehen. Von ihrer gegenseitigen Zuneigung durfte niemand etwas erfahren. Beide hatten sie große Angst, dass ihr Verhältnis an die Öffentlichkeit gelangen könnte, was den Verlust ihrer Stellen bedeutet hätte. Sie erinnerte sich, wie sie damals öfter daran dachte, die Schule zu verlassen, um Bernd zu entkommen.
Sie empfand manchmal Mitleid für Bernd, denn sie wusste, dass er in einer großen Zwickmühle steckte. Er liebte sie wirklich sehr, aber er liebte auch seine Frau und sein Kind und würde seinen Beruf und seine Familie niemals wegen einer Affäre aufs Spiel setzen wollen. Wenn aber Eleonores Mitleid wieder einmal verebbte, spürte sie eine große Wut, gemischt mit Verachtung. Er hatte kein Rückgrat und keine eigene Meinung, sonst stände er offen zu ihr und würde sich von seiner Frau trennen. Man konnte eben nicht zwei Frauen lieben, er musste sich für eine entscheiden! Schwächling!
Eleonore tauchte tiefer in ihre Erinnerungen ein und sah den entscheidenden Tag wieder ganz genau vor sich. Es war ein Montag und ihr kam es vor, als wäre es gestern gewesen. Bernd musste die große Holztreppe in der Schule extra leise hoch geschlichen sein, ansonsten hätte sie ihn sicher kommen hören. Eleonore erschrak sich heftig, als er plötzlich in der Tür erschien. Sie hatte ja gewusst, dass Bernd noch in der Schule war, aber nun war sie doch von seinem Erscheinen überrascht. Er sah sie an und sagte leise:
„Hallo, Eleonore.“
Seine weiche Stimme ließ sie schon von Beginn an willenlos werden. Bernd übte auf sie eine magische Anziehung aus, sie war nicht mehr Herr ihrer Sinne. Er lehnte sich lässig an den Türrahmen und lächelte.
„Hallo Bernd“, war ihre Antwort und die Gefühle spielten verrückt. Konnte sie denn nicht ein einziges Mal auf ihn treffen und nur mit dem Kopf handeln? Das ging doch früher auch! Im Nachhinein ist es ihr ein Rätsel, dass ein Mann sie so willenlos werden ließ.
„Wie geht es dir denn so?“, fragte er mit einschmeichelnd, tiefer Stimme.
„Gut!“, antwortete sie in der Hoffnung, möglichst selbstsicher zu klingen, was sie durchaus nicht war. Er sah verdammt gut aus. Schon öfter hatte sie ihn heimlich beobachtet, wenn er morgens den Schulhof entlang ging und sie bereits oben im Klassenzimmer auf den Beginn des Unterrichts wartete. Im Lehrerzimmer hielt sie sich nur sehr selten auf, sie wusste zum einen nicht mehr, wie sie sich Bernd gegenüber in der Öffentlichkeit verhalten sollte und zum anderen war sie auch die verachtenden Blicke ihrer Kollegen leid.
„Bist du denn noch nicht für heute fertig?“, fragte er und schaute sie dabei leicht besorgt an.
„Nein, ich muss noch ein paar Arbeiten korrigieren. Das tue ich am liebsten hier, da es so schön still ist und ich mich besser in den jeweiligen Schüler hineinversetzen kann. Außerdem muss ich den ganzen Batzen Papier dann nicht zu Fuß nach Hause tragen und wieder zurück“, antwortete Eleonore.
„Achte darauf, dass die Arbeiten insgesamt nicht zu gut ausfallen! Sonst gibt es wieder Ärger und böse Blick von den Kollegen und auch von den Eltern“, gab Bernd ihr nicht zum ersten Mal als Tipp mit auf den Weg.
„Du weißt doch, dass ich darauf gar nicht achte. Ich zensiere die Arbeiten so, wie ich es für richtig halte und wie wir es gemeinsam abgesprochen haben. Andere können ja ihre Fünfen und Sechsen weiterhin verteilen. Ich nicht, ich bin von unserem Konzept hundertprozentig überzeugt. Wenn es dir nicht gefällt, musst du mich entlassen“, war nun Eleonores entschiedene Antwort auf seine Andeutung. Sie versuchte ihre Gefühle zu ihm zu unterdrücken und die Situation nur auf den Schulalltag zu lenken, was ihr ganz gut gelang, denn es ging darum, ihr pädagogisches Prinzip an den Mann zu bringen.
„Du, ich wollte dich nicht kritisieren. Ganz bestimmt nicht. Entschuldigung. Du weißt doch ganz genau, dass ich hinter dir stehe. Aber würdest du meinen Ratschlag nur ein kleines bisschen befolgen, hättest du schon einige Gegner weniger. Ich sage ja nur, dass du unser Konzept nicht mit dem Holzhammer durchsetzen sollst, sondern etwas behutsamer“, gab er mit einem leichten Lächeln von sich.
„Ich möchte jedem Kind gerecht werden. Was für ein Unsinn, einen bestimmten Klassendurchschnitt zu erzielen. ‘Sie müssen aber mindestens eine Fünf vergeben’, wollte mir doch neulich Frau Albers vorschreiben. In welchem Jahrhundert lebt diese Frau?! Wir haben doch gemeinsam entschieden, dass wir uns von solchen Prinzipien lösen wollen! Erinnerst du dich?“
Bernd nickte, natürlich erinnerte er sich. Aber bezüglich Frau Albers waren ihm die Hände gebunden. Sie war nicht nur Lehrerin an seiner Schule, sondern auch stellvertretende Direktorin. Immer wieder betonte sie ihre herausgehobene Position und bildete sich etwas darauf ein.
Bei dem Gedanken an diese Frau wurde Eleonores Stimme lauter und ungehaltener.
„Es geht doch hier um die Schüler und nicht um einen anzustrebenden Durchschnitt oder um Frau Albers' veralteten pädagogischen Maßnahmen! Ebenso darf ich keine Kinder schlagen! Das haben wir doch auch in unserem neuen Konzept hinterlegt, du erinnerst dich? Hast du Klaus’ Hände gesehen?“
Bernd schüttelte den Kopf und Eleonore fuhr entrüstet fort:
„Die hat die Albers so zugerichtet, dass sie bluteten und Klaus drei Tage lang den Füller nicht richtig halten konnte. Mit der Kante seines eigenen Lineals hat sie zugeschlagen. Schrecklich!“
„Eleonore, ich stehe ja auf deiner Seite. Du musst nur mehr Geduld haben. Wir können uns hier nicht als sofortiger Weltverbesserer aufspielen. Langsam, Schritt für Schritt müssen wir für Veränderungen kämpfen.“
Mitleidig sah er sie an. Sie spürte sein Mitleid und das machte sie richtig wütend. Sie wollte kein Mitleid, sondern Verständnis und Solidarität.
„Stell dir vor, kürzlich bekomme ich mit, wie diese Frau zum Fritz aus meiner Klasse - du weißt schon, der Junge mit den schneeblonden Haaren - sagt, aus ihm werde sowieso nie etwas werden, weil sein Vater Kohleträger und seine Mutter Alkoholikerin sei. Er solle bloß nicht denken, dass aus ihm einmal etwas Ordentliches werde.“
Voller Entsetzen schaute Eleonore Bernd an. Er erwiderte ihren Blick und deutete durch ein leichtes Kopfnicken Verständnis an. Auch er fand die Art von Frau Albers nicht in Ordnung. Gerne würde er etwas gegen diese Lehrerin unternehmen, aber ihm waren die Hände gebunden. Er konnte seine Lehrer nicht nach Lust und Laune einstellen, entlassen oder ihnen neue Dinge vorschreiben. Ihm wurde alles vom zuständigen Kultusministerium vorgeschrieben. Auch ihr neues Konzept musste vom Kultusministerium abgesegnet werden, was zwar schon geschehen war, jetzt aber erst langsam umgesetzt werden musste. Nach den bisher geltenden Regeln verhielt sich Frau Albers nicht ordnungswidrig. Ihre abfällige Äußerung gegenüber Fritz war durchaus legal, ebenso gab es kein Gesetz, das den Lehrern verbot, Schülern Schläge anzudrohen oder sie körperlich zu züchtigen, um, wie man es pädagogisch ausdrückte, „das Denkvermögen zu erhöhen“. Bernd ging nun langsam auf Eleonore zu und setzte sich lässig vor sie auf das Lehrerpult. Instinktiv rutschte sie mit ihrem Stuhl etwas nach hinten. Er schaute sie mit seinen stahlblauen Augen begehrlich an.
„Ich beiße nicht“, gab er lächelnd von sich.
Längst wussten beide, dass sie sich gleichstark begehrten. Bernd fand Eleonore besonders unwiderstehlich, wenn sie sich kämpferisch zeigte. Und das war genau jetzt in dem Moment der Fall. Er provozierte sie zu gerne, um sie dann in ihrer Wut zu nehmen. Eleonore überlegte, was an ihr eigentlich so Begehrenswertes war, dass Bernd ihr ebenso wenig widerstehen konnte, wie sie ihm. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie schon immer bemerkt, dass ihre Erscheinung fast immer Aufmerksamkeit erregte, positive oder negative. Sie wurde oft als arrogant abgestempelt. Wenn dann noch ihr Kampfgeist an die Öffentlichkeit trat, verurteilten sie viele Mitmenschen als hochnäsig, unangepasst und rebellisch. Auch bezüglich ihrer Kleidung sonderte sie sich ab. Sie war nie vornehm gekleidet, da sie jeden Tag die weite Strecke von Elmschenhagen nach Gaarden laufen musste. Stöckelschuhe und Kleidchen waren da nicht gerade angesagt. Bei Regen erschien sie mit Gummistiefeln in der Schule, die sie dann den ganzen Schultag trug. Erst später konnte sie sich ein zweites Paar Schuhe leisten, welches sie nur in der Schule anzog. Trotz ihrer einfachen Kleidung spürte sie oft die männlichen Blicke auf sich gerichtet. Sie sah mit ihrer sehr weiblich schlanken Figur und ihren markanten, aber hübschen Gesichtszügen sehr gut aus und das wusste sie auch!
Wie von fremder Hand geführt, wurden beide an jenem Tag angezogen. Sie kannten das bereits und wussten, dass sie solche Begegnungen meiden mussten, wenn sie ihnen entkommen wollten. Sie hatten schon vor zwei Monaten beschlossen, sich nicht mehr außerhalb der Schulzeit zu treffen. An diesem Montag hielt Bernd es aber nicht mehr aus. Er konnte nicht ohne Eleonore sein. Er hatte gewartet, bis alle Kollegen und Schüler das Gebäude verlassen hatten. Und dann gab es für ihn kein Zurück mehr, er musste zu seiner, wie er sie oft mit Kosenamen nannte, Lori. Als er sie dann so einsam und kämpferisch dort sitzen sah, verlor er fast die Besinnung. Er ergriff mit beiden Händen ihr Gesicht, zog sie an sich heran und küsste sie. Zunächst sehr vorsichtig. Er hatte die Augen geschlossen und spürte, wie sie seinen Kuss erwiderte. Sie zitterte leicht, konnte sich nur schwer zurückhalten. Beide wurden von einer unbändigen Leidenschaft erfasst, die sie wie eine riesige Flutwelle widerstandslos mitriss. Eleonore versuchte, gegen diese Welle anzuschwimmen und sich einzureden, dass sie jetzt nicht weiter machen durfte. Jetzt musste Schluss sein! Aber ihr Körper gehorchte nicht mehr dem Kopf, es gab kein Zurück. Sie ergaben sich beide ihrem Schicksal und schwammen auf der Welle dahin. Bernd griff mit beiden Händen um ihre Taille und hob sie auf das Pult und umarmte sie mit festem Druck.
„Eleonore, ich liebe dich. Ich begehrte dich schon von dem ersten Moment, als ich dich sah. Du bist eine wundervolle Frau. Ich kann nicht anders...“, flüsterte er hingebungsvoll in ihr Ohr.
Eleonore war mittlerweile erstarrt und nicht mehr Frau ihrer Sinne. Sie konnte sich nicht wehren. So gerne sie es getan hätte, sie war wieder einmal willenlos gegenüber Bernd. Auch das Denken funktionierte nicht mehr. Verzweifelt versuchte sie Bernd etwas mitzuteilen:
„Bernd...!“
Bernd nahm seinen Zeigefinger und legte ihn zärtlich auf ihre Lippen.
„Verzeih' mir. Ich weiß, wir wollten uns so nicht mehr treffen, aber ich kann nicht. Bitte verzeih' mir. Ich brauche dich! Ich liebe dich so sehr, dass ich es nicht mehr ohne dich ertragen kann!“, hauchte Bernd ihr ins Ohr.
Er streichelte ihren Busen und hob mit der anderen Hand ihren Rock hoch. Eleonore spürte in sich eine unglaubliche Wärme aufkommen. Sie zitterte bereits am ganzen Körper und konnte ihre Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren. Sie vergaß sich und verlor sich dann in einer Welt, die nur aus Gefühlen bestand. Das Jetzt und Hier war verschwunden. Sie wusste nicht mehr, wo und wer sie war. Eine unglaublich große Glückswelle überrollte sie. Vor Ort, im Klassenzimmer liebten sich beide wieder einmal so leidenschaftlich, wie es nicht noch einmal hätte passiert sollen. Beide erlebten den Höhepunkt ihrer Liebe gleichzeitig. Anschließend umklammerten sie sich, als hätten sie Angst, einer von ihnen würde unerwarteter Weise verschwinden und der Traum ein jähes Ende finden.
„Hallo, - Bernd, bist du noch da?“, hörten plötzlich beide eine Stimme rufen. Erschrocken zuckten sie zusammen und ließen sich sofort los. Bernd sprang auf, stopfte das Hemd in die Hose während er diese hastig hochzog. Dabei vergaß er den Reißverschluss seiner Hose zu schließen. Eleonore sprang vom Pult auf, hatte gerade ihren Pullover und Rock zurechtgerückt und sich auf ihren Stuhl gesetzt, als sie Bernds Frau rufen hörten:
„Bernd, bist du hier?“
Sie war bereits die Treppen hinaufgegangen und musste jeden Moment in der Tür erscheinen. Eleonore hatte hastig ihren Füller in die Hand genommen, dass es so aussah, als korrigierte sie die Arbeiten, die sie schnell vor sich auf dem Schreibtisch zurechtgerückt hatte. Geistesgegenwärtig drehte Bernd sich stehend Eleonore zu, so dass er von der Tür nur von hinten zu sehen war. Während er Eleonore anschaute, begann er laut zu reden:
„Hören Sie, Frau Müller. Sie müssen den Kindern wesentlich mehr Hausaufgaben aufgeben, sonst wird aus ihren Schülern nichts und ich sehe mich dann gezwungen, sie vom Schuldienst zu suspendieren. Ich möchte ebenfalls bei den Arbeiten, die sie dort gerade korrigieren mehrere Fünfen sehen! Haben wir uns verstanden?“
Während er redete, bemerkte er Eleonores Blicke auf seinen Reißverschluss und reagierte blitzschnell, indem er ihn hastig hochzog. Bernd war sehr nervös und Eleonore sah ihm seine Unsicherheit an. Er wartete nicht Eleonores Reaktion ab, sondern drehte sich nun zu seiner Frau um, lächelte und sagte:
„Hallo Schatz, das ist aber lieb, dass du mich abholst. Aber ich hatte dir doch gesagt, dass ich noch ein Gespräch führen musste.“
„Hier oben steckst du also. Ich habe mich schon gewundert, wo du wohl bist. Das hätte ich mir ja denken können, dass du mit dieser Person ein Gespräch führen musstest! Welche Lehrerin macht denn sonst auch solche Probleme. Entlasse sie doch einfach, dann brauchst du dich über sie nicht mehr zu ärgern“, riet ihm seine Frau und schaute Eleonore dabei abwertend an.
„Sie ist doch für den Schuldienst nicht tauglich. Sie kann sich ja nicht einmal an den Lehrplan halten, wie du mir erzählt hast.“
Bernds Frau war in der Tür stehen geblieben. Man sah ihr an, dass sie sich zu erhaben fühlte, um einer ihrer Ansicht nach minderwertigen Lehrerin im gleichen Raum gegenüber zu stehen. Sie stand in der Tür, rümpfte die Nase und schaute ihre Rivalin nicht an. Sie war, wie Eleonore schon immer fand, eine aufgetakelte und künstliche Blondine. Ihre Oberweite war so groß, dass Eleonore sich wunderte, wieso die Knöpfe des roten Mantels, den diese Frau trug, nicht schon längst abgefallen waren. Wie sie ihre Augen überhaupt öffnen konnte, blieb Eleonore ebenfalls ein Rätsel, denn ihre Wimpern waren derart geschminkt, dass man meinen könnte, die Wimperntusche erdrückte die Augen und verklebte sie. Der grelle Lippenstift ließ ihre Lippen pink hervorstechen und das viel zu dick aufgetragene Rouge vollendete den Anblick einer sehr schlecht geschminkten Frau. Diese Frau fügte nun hochnäsig und von Eleonores Anblick angewidert hinzu:
„Komm, Berni,- ärgere dich nicht mehr. Wir wollten doch heute unseren Hochzeitstag feiern.“
„Ja, du hast recht. Ich komme schon“, sagte Bernd, schaute Eleonore noch kurz an, ging auf seine Frau zu, nahm sie in den Arm und küsste sie. Arm in Arm verließen die beiden den Klassenraum.
Die Schritte verhallten in dem Gebäude und Eleonore hörte die Schultür unten ins Schloss fallen. Was war passiert? Was war ihr da eben gerade passiert? Das war wohl alles nur ein schlechter Traum, wieder einer von den bösen Träumen! So etwas konnte man einfach nicht in Wirklichkeit erleben! Sie schaute sich vorsichtig um. Sie befand sich im Klassenzimmer ihrer 9a und alles sah aus wie vorher. An den Wänden hingen von den Schülern gefertigte Plakate zu dem Thema „Berieselung aus dem Radio“, bei deren Herstellung die Schüler ausgesprochen kreativ gewesen waren. Bei der Arbeit an den Plakaten hatte es viele Diskussionen unter den Jugendlichen gegeben und sie waren alle mit großer Begeisterung involviert. In solchen Momenten liebte Eleonore ihren Beruf über alles. Aber nun holte sie gerade die Realität ein. Waren die Gefühle eben schon wieder mit ihr durchgegangen? Sie hatte sich doch schon nach ihrem letzten Treffen mit Bernd geschworen, das Verhältnis mit ihm zu beenden.
Langsam stieg in ihr eine Wut auf, die unbeschreiblich war. War sie gerade vergewaltigt worden? Nein, um ehrlich zu sein, nicht. Sie hatte Bernd ja mindestens genauso begehrt, wie er sie. Aber hatte er ein Recht, jetzt mit einer anderen davon zu gehen? Nein, das hatte er nicht. Jetzt hätte er Farbe bekennen müssen, denn er liebte sie, wie sie ihn.
Auf der anderen Seite fühlte sie sich in ihrer Meinung bestärkt. Schon länger hatte sie das Gefühl, dass Männer entweder nur triebgesteuert oder Feiglinge waren. Den Mann, den sie seit Jahren gesucht hatte, gab es nicht. Sie begehrte einen starken, ehrlichen Mann, einen, der sich auch traute, gegen ihre Meinung anzugehen und gegen die der anderen, der bereit war für Ideale zu kämpfen. Aber einen solchen hatte sie nie gefunden und die Suche nach diesem Ideal bereits aufgegeben. Wahrscheinlich gab es diesen Typ Mann gar nicht. Männer waren tatsächlich alle nur feige und selbstsüchtig.
Eleonore öffnete die Augen und schaute Rusty an, der ihr zu Füssen lag. Bevor sie jetzt zu melancholisch wurde, schüttelte sie den Kopf und versuchte die Erinnerung an Bernd aus dem Gedächtnis zu löschen. Gedanklich schweifte sie zu ihrer kleinen Schwester hinüber. Eleonore hatte immer großes Mitleid mit Anna, denn ihre Mutter konnte sehr hart und ungerecht sein. Das hatte sie am eigenen Leibe erfahren. Aber noch stärker hatte es ihre ein Jahr jüngere Schwester Elfrida damals miterlebt. Aufgrund eigener Erfahrungen hatte Eleonore Angst, dass ihre Mutter mit Anna auch so unfair umging, wie mit ihrer Schwester Elfrida. Schon immer war ihre Mutter sehr launisch gewesen und hatte diese Unart früher besonders an Elfrida, seltener auch an ihr ausgelassen. Seit Elfrida und sie nicht mehr zu Hause lebten, bemerkte sie, dass die Mutter ihre Aggressionen oft genug an Anna ausließ und jetzt war keiner mehr da, der ihre üblen Launen zügeln konnte. Manchmal erhielt Anna eine Ohrfeige ohne wirklichen Grund oder bekam Stubenarrest, nur weil sie ihr Frühstück nicht aufessen wollte. Eleonore ahnte, wie hilflos sich Anna manchmal fühlen musste.
Nach dem Krieg hatten sich Eleonore und Elfrida, wann immer es ihnen möglich war, um Anna gekümmert, denn sie sorgten sich, dass ihre kleine Schwester ernste Schäden erleiden würde, wenn sie sie der Mutter ohne Kontrolle überließen. Anna litt sehr oft unter der Herzlosigkeit der Mutter, die ihr Kind nicht richtig annehmen und lieben konnte. Warum, das verstand Eleonore, als sie eines Tages Schreckliches erfahren musste:
Eleonore begann 1945 ihre Lehrerausbildung in Elbing und besuchte dort eine Lehreranstalt. Der Ort lag 100 Kilometer von dem Heimatort ihrer Eltern, Godingen, entfernt. Heimatort war eigentlich falsch, denn das war ursprünglich Kiel. Man hatte die gesamte Familie im Krieg nach Godingen zwangsversetzt, denn der Vater war ein guter Schweißer, den man dort in der Werft brauchte.
Während ihrer Ausbildung reiste Eleonore an einigen Wochenenden mit dem Zug zu ihren Eltern nach Godingen. So auch an jenem Wochenende, an dem ihr etwas Schreckliches zu Ohren kam. Kurz entschlossen bestieg sie einen Samstagmittag den Zug. Eigentlich blieb sie an den Wochenenden lieber im Internat, da sie sich mit ihrem Vater und der Mutter noch nie so recht verstanden hatte. Naja, an dem Wochenende wollte sie den Eltern eine Freude machen und sie besuchen. Sie hatte einen eigenen Wohnungsschlüssel zu der elterlichen Wohnung und schloss diese bei ihrer Ankunft auf. Kaum hatte sie die Wohnung betreten, hörte sie das Baby laut schreien und gleichzeitig ihre Mutter schluchzend rufen:
„Nein, du brauchst nicht weiter zu reden, ich möchte dazu nichts mehr hören.“
Eleonore erkannte sofort, dass hier ein Ehestreit stattfand. Sie kannte diese lautstarken Auseinandersetzungen schon von früher und hasste sie. Gerade wollte sie zu ihrer weinenden Schwester eilen, als diese verstummte. Eleonore horchte. Für einen Augenblick war es still. Aus ihr bis heute unerklärlichen Gründen blieb sie lauschend an der Tür stehen. Das entsprach eigentlich überhaupt nicht ihrem Charakter.
Plötzlich wetterte eine tiefe böse Stimme, die von Eleonores Vater. Sie klang sehr bedrohlich. Noch nie zuvor hatte Eleonore ihren Vater so gehört und war sich nicht sicher, ob er es wirklich war, der da so polterte. Aber als sie die nächsten Worte vernahm, gab es keinen Zweifel mehr. Ihr gefror das Blut in den Adern, als er bedrohlich losgiftete:
„Wie konntest du nur so dumm sein, dich von dem Mann anfassen zu lassen! Und dann weißt du noch nicht einmal, ob das Baby von...“
Alwine ließ ihren Mann nicht aussprechen, sondern unterbrach ihn mit:
„Du hast kein Recht mir so etwas vorzuwerfen und es ist bodenlos...!“
Anna schrie erneut, so dass Eleonore den Satz nicht zu Ende hören konnte. Aber die folgende Frage brüllte der Vater so laut, dass das Baby übertönt wurde:
„Wer weiß, ob du es mir jemals erzählt hättest, wenn ich es nicht zufällig von meiner Schwester erfahren hätte!“
Schluchzend hörte sie ihre Mutter antworten:
„Du weißt genau, dass du mir das nicht vorwerfen kannst. Dann kann ich dich auch fragen, wen du nach Feierabend so triffst?“
„Wen ich nach Feierabend treffe? Das kann ich dir genau sagen: Heinrich, Willi, Emil und Paul!“
„Ja, ja und das soll ich dir glauben?“
Eleonore konnte und wollte diesem Streit nicht weiter folgen, denn zum einen weinte das Baby ohne Unterlass lauthals und zum anderen ertrug sie es nicht, wenn ihre Eltern sich so lautstark stritten. Sie musste hier weg! Ohne noch eine Sekunde zu zögern, schlich sie sich aus der Wohnung und schloss die Tür leise von außen. Ziellos irrte sie gedankenversunken durch die Stadt. Die gehörten Wortfetzen blieben ihr die ganze Zeit im Ohr. Sie musste sie im Gehen verarbeiten, glaubte dann aber blitzartig, den Grund des Streites verstanden zu haben. Fassungslosigkeit ergriff sie. War es möglich, dass ihre Mutter fremdgegangen war oder sogar noch schlimmer, man sie vergewaltigt hatte? Irgendwann erreichte sie den Bahnhof. Sie konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. Das Baby, das eben noch in der Wohnung schrie, war vielleicht nicht von ihrem Vater? Es war vielleicht nicht ihre richtige Schwester? Anna war eventuell ihre Halbschwester? Ihre Mutter gebar das Kind im Alter von 46 Jahren! Eleonore hatte sich schon manchmal gewundert, warum sie in diesem Alter noch ein Kind bekommen hatte. Hatte man ihre Mutter vergewaltigt? Wenn ja, warum und wer machte so etwas? Das war unfassbar schrecklich. Warum sonst waren die Vorwürfe ihres Vaters so grausam? Sie konnte nicht begreifen, einen so verletzenden Vater zu haben. In Eleonore zerbrach etwas unfassbar Großes, ihre bisherige Welt fiel in sich zusammen. Die ersten Tränen sammelten sich in den Augen und die Gedanken waren nicht zu bremsen. Eine große Woge des Mitleids mit ihrer Mutter überrollte Eleonore kurz, aber noch größeres Entsetzen packte sie bei dem Gedanken an das Baby, an ihre Halbschwester Anna.
Blitzartig verstand sie nun auch, warum ihre Mutter nicht wirklich herzlich mit dem Baby umzugehen vermochte, was sie schon kurz nach der Geburt bemerkte. Sie sah ihre Eltern auf einmal aus einer ganz anderen Perspektive. Für Eleonore stand fest, sie konnte ihnen in nächster Zeit trotz des Mitleids für Anna nicht mehr in die Augen blicken.
Der nächsten Zug nach Elbing fuhr in fünf Stunden. Eleonore weinte. Menschen gingen an ihr vorbei, andere setzten sich neben sie, stiegen ein oder aus, Züge kamen und fuhren wieder ab. Eleonore weinte. Sie fühlte sich so einsam, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Erst als sie im Zug saß und dieser schon eine Zeit fuhr, hatte sie das Gefühl, dem ganzen Elend entflohen zu sein und beruhigte sich etwas. Im Internat lag sie das restliche Wochenende im Bett, fühlte sich leer und um Jahre gealtert. Erst als sie das ganze Elend ihrer am Montag wiederkommenden Freundin und Zimmermitbewohnerin Elli erzählte, ging es ihr langsam etwas besser. Elli kümmerte sich rührend um sie und gab ihr die Liebe und das Verständnis, das sie jetzt so dringend brauchte. Diese Freundschaft hielt sehr, sehr lange.
Eleonore besuchte die Eltern in den folgenden Wochen nicht mehr. Erst am Tag der Flucht vor den Russen fuhr sie wieder zu ihnen, um sie zu warnen. Ins offene Messer laufen lassen wollte sie sie nicht. Und noch mehr Angst hatte sie damals, dass die Mutter Anna bei der Flucht vor den Russen zurücklassen würde. Und genau das hätte ihre Mutter getan! Das Baby wäre erbärmlich gestorben, hätte Eleonore es nicht an sich genommen! Noch heute schauderte ihr bei dem Gedanken.
Außer Elli erzählte Eleonore niemandem von der Auseinandersetzung ihrer Eltern, beide trugen dieses Geheimnis für immer bei sich. Keiner sollte jemals erfahren, dass Alwine Müller ein unerwünschtes Kind zur Welt gebracht hatte und es bei der Flucht zurückgelassen hätte, wäre Eleonore nicht vorbeigekommen. Und Anna durfte nie erfahren, dass sie bei beiden Eltern so ungeliebt war. Manchmal hoffte Eleonore auch, sich bei dem Streit der Eltern verhört und alles falsch interpretiert zu haben. Sie erfuhr die Wahrheit nie. Niemand erfuhr die ganze Wahrheit jemals!
Sie öffnete die Augen und befand sich wieder in ihrer Schule in Wittenberg. Anna würde sie dieses Geheimnis zu keiner Zeit verraten. Kurzfristig dachte Eleonore an das Tagebuch, das sie für Anna geschrieben hatte. Ab und zu musste sie es einfach fälschen, denn die Schwester sollte in Unwissenheit darüber bleiben, dass sie ein ungewolltes Kind war, noch schlimmer, ein Kind ohne richtigen Vater. Eleonore war der Zeugungsvater egal, sie liebte Anna trotzdem, wahrscheinlich jetzt sogar noch mehr. Auch ihre ein Jahr jüngere Schwester Elfrida war vom ersten Tag an in Anna vernarrt. Beide, Elfrida und sie, gaben damals alles, um Annas Leben als kleines Baby auf der Flucht zu retten. Ihre Mutter wollte das Baby tatsächlich in seiner Wiege im Zimmer liegen lassen! Bis heute konnte Eleonore ihrer Mutter das nicht verzeihen. Ihr graute immer noch bei dem Gedanken an die Herzlosigkeit ihrer Mutter. Man musste doch ein inniges Verhältnis zu seinem leiblichen Kind haben, egal, wie und von wem es erzeugt wurde! Es war doch im Leib der Mutter herangewachsen. Aber eine normale Mutter-Kind-Bindung gab es zwischen Anna und der Mutter nie, Anna hatte nie die richtige Mutterliebe erfahren. Eleonore empfand schon lange tiefes Mitleid mit der kleinen Schwester und fühlte sich ihr gegenüber verpflichtet.
Es ließ sich nicht vermeiden, dass Eleonore wieder einmal von ihrer Vergangenheit eingeholt wurde. Sie dachte an ihren Brief, den sie gerade Tante Auguste geschrieben hatte. Ungern erinnerte sie sich an die Tage der Flucht. Sie hatte gehofft, der Brief würde ihr nun endlich helfen, Vergangenes zu verarbeiten und vor allem einmal endlich alles zu vergessen. Ihre Hoffnung diesbezüglich war nicht ganz grundlos, denn schon nach dem Schreiben fühlte sich Eleonore freier und ein wenig „gereinigt“. Es half ihr, die Gedanken zu sortieren und in Schubladen abzulegen. Je nach Bedarf wollte sie diese öffnen oder geschlossen lassen. Zur Zeit sollten alle Schubladen unter Verschluss bleiben, aber leider öffneten sie sich unvorhersehbar von alleine. Der Versuch, es zu vermeiden, misslang. Sie ergab sich der Übermacht der Schubfächer und tauchte noch einmal in die Vergangenheit ein. Vielleicht war in den Schubladen auch noch nicht alles fertig sortiert?
Als nach der Flucht etwas Ruhe in das Leben aller gekommen war, erwies sich ihre Mutter als unfähig, sich um das Baby zu kümmern, denn sie war kurz vor dem Sterben. Niemand dachte, dass die Mutter den Winter überlebte, aber sie schaffte es. Die beiden großen Schwestern hielten zusammen und konnten ihrer Mutter langsam wieder zu Kräften verhelfen. Durch die gegenseitige Hilfe entwickelten alle einen unglaublichen Willen, ein neues Leben zu starten. Als dann auch noch der Vater, ihr Ernährer, unversehrt zu ihnen zurückkehrte, ging es langsam wieder aufwärts. Obwohl Alwine Müller psychisch und physisch wieder zu Kräften kam, konnte sie ihrer Tochter Anna dennoch nie lange in die Augen schauen. Eleonore tat Anna sehr Leid. Jahrelang übernahm sie die Mutterrolle, wann immer es ihr möglich war. Ebenso kümmerte sich Elfrida um Anna. Sie hatte von der eventuellen Vergewaltigung zwar keine Kenntnis, aber sie spürte, dass etwas zwischen Anna und ihrer Mutter nicht stimmte. Sie wusste, Anna begehrte Liebe und Zuwendung, die sie von der Mutter und dem Vater nicht bekam.
Für beide Schwestern wurde mit den Jahren der Druck, ihre kleine Schwester neben Ausbildung und Beruf groß zu ziehen und ihr die Mutter zu ersetzen, zu groß. Vor einem halben Jahr ergriffen sie fast zeitgleich die Flucht. Eleonore war nach Wittenberg gezogen, was sicher auch an dem verlockenden Angebot lag, eine Schule alleine zu leiten. Elfrida ging nach Stuttgart, denn sie hatte dort in einem Krankenhaus eine Stelle angenommen. Ihnen fiel es sehr schwer, Anna zurückzulassen. Aber sie suchten nicht nur wegen ihrer kleinen Schwester das Weite. Sie waren es auch leid, sämtliche Hausarbeiten für die Mutter zu erledigen, obwohl diese mittlerweile wieder recht gesund war. Auch wollten sie sich keinen Tag länger die Lebensweisheiten ihrer Eltern anhören.
Eleonore bekam damals fast täglich zu hören, dass eine Lehrerin keinen Freund haben und schon gar nicht heiraten dürfte. Natürlich hatten ihre Eltern mitbekommen, dass sie schon das eine oder andere Mal einem Mann hinterhergeschaut hatte, aber von dem Verhältnis mit Bernd wussten sie nichts. Der Standardspruch der Eltern lautete, dass Lehrerinnen arbeiten, Geld verdienen und auf gar keinen Fall eine Familie gründen sollten, denn dann bekäme man keine Rente! Eleonore hatte diese Bevormundung und Rechthaberei so über.
Auch Elfrida blieb von den Vorhaltungen nicht verschont. Ihr wurde allerdings nicht ein Freund verboten, wahrscheinlich, weil sie sowieso noch nie einen hatte, sondern ihr wurde regelmäßig vorgeworfen, nie das Niveau ihrer Schwester erreicht zu haben. Das erboste sie natürlich, denn liebend gern hätte sie eine Ausbildung wie ihre Schwester absolviert, hätten ihre Eltern sie nur unterstützt! Mittlerweile hatte Elfrida den Kontakt zu ihnen fast gänzlich abgebrochen. Sie hatte sich nie richtig geliebt gefühlt und wurde auch das Gefühl nicht los, dass ihre ältere Schwester bevorzugt wurde. Immer wurde ihr vorgehalten, wie gut diese in allem war. In allen Fächern hätte sie eine Eins, spielte zudem noch perfekt Klavier, Gitarre, Geige, Flöte und Akkordeon. Außerdem erwarb sie neben ihrer Lehrerausbildung den Schwimmerr ettungsschein und konnte zusätzlich Englisch, Spanisch und Französisch. Leider maßen ihre Eltern die Schwestern nur an den Leistungen auf dem Papier.