Читать книгу Rache für Dina - Cristina Fabry - Страница 11

9. Kreispolizeistelle Minden

Оглавление

Keller saß schon 20 Minuten an seinem Schreibtisch, den man ihm an seinem vorübergehenden Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt hatte, als Kerkenbrock schwungvoll und bester Laune das gemeinsame Dienstzimmer betrat, um nicht zu sagen, sie rauschte herein. „Guten Morgen.“, flötete sie. „Und? Wir haben hier einen spannenden Fall, habe ich gehört?“

„Proben Sie für eine Rolle im TATORT?“, fragte Keller sie herablassend.

Kerkenbrock grinste breit: „Mit meiner Praxiserfahrung hätte ich sicher super Chancen.“

„Welche Praxiserfahrung?“, nuschelte Keller mit gespielter Heimlichkeit, aber unüberhörbar.

Sabine Kerkenbrock stemmte die Hände in die Hüften. „Jetzt seien Sie mal nicht so stinkstiefelig. Ich habe schon gehört, dass Sie die Ehefrau informieren mussten. War es sehr schlimm?“

„Nein, nein“, antwortete Keller gelassen, „Sie hat nicht mit übertriebenen Gefühlsausbrüchen reagiert und ist auch nicht ohnmächtig oder verrückt geworden. Ich lese gerade die Protokolle, die die Kollegen gestern aufgenommen haben, im Kreiskirchenamt und in der unmittelbaren Nachbarschaft. Vielleicht stellen Sie schon mal einen Routenplan zusammen für die Freunde und Verwandten, die wir heute abklappern müssen. Ist bestimmt total spannend.“

Wortlos reichte Keller Kerkenbrock das Adressbuch, sie nahm es seufzend entgegen.

Seine junge Kollegin ging Keller fürchterlich auf die Nerven. Sie war sehr hübsch, sich dieser Tatsache aber auch voll bewusst. Ihre wilde, goldblonde Lockenmähne knetete sie meistens mit irgendwelchen Haarpflegepräparaten in Form. Ihr Teint war stets von so gleichmäßigem und makellosem Karamellbraun, dass er sie des regelmäßigen Solarium-Besuchs verdächtigte. Ihr Körper war durchtrainiert und wohlgeformt, für Kellers Geschmack etwas zu mager. Sie trug stets dezentes Make-up, aber sie erschien nie ungeschminkt zum Dienst. Sie gehörte zu dieser Generation notorisch gut gelaunter, auf- strebender, junger Menschen mit einem grenzenlosen Selbstbewusstsein, das jeglicher Grundlage entbehrte. Sie glaubten, nur weil sie jung, fit und wohlgestaltet waren, könnten sie alles schneller und besser erledigen als die abgehalfterten, frustrierten alten Säcke. Alles, was das Leben schwierig machte, existierte nicht für sie, sie ignorierten es. Aber wenn sie dem geballten Elend einmal wirklich nicht aus dem Weg gehen konnten, ging ihre viel beschworene Belastbarkeit in den Keller. Sie heulten Rotz und Wasser, setzten alles daran, sich zu entziehen und begründeten das später betont sachlich-professionell mit Sätzen wie: „Ich muss mich schützen.“

Jetzt saß sie da, tippte und telefonierte im Turbotempo und war doch in ihrem Eifer nicht effektiver, als wenn sie alles in Ruhe abgearbeitet hätte. Aber sie musste ja ihre Hochleistungs-Show abziehen. Wahrscheinlich verbrannte sie damit zusätzliche Kalorien, damit das Müsli im probiotischen Halbfett-Joghurt nicht ansetzte. Keller konzentrierte sich wieder auf die Aussagen auf seinem Bildschirm. Es gab wirklich überhaupt keinen Hinweis auf eine verdächtige Person in der Nähe des Tatorts. Immerhin hatte die KTU Fingerabdrücke am Tatort gesichert, aber ohne Verdächtige war das wenig hilfreich.

„Was meinen Sie, Keller“, sagte Sabine Kerkenbrock nachdenklich, „suchen wir eine Täterin? Ein Opfer sexueller Übergriffe?“

„Möglicherweise“, erwiderte Keller. „Könnte sich aber auch um einen männlichen Rächer handeln. Haben Sie den Bibeltext gelesen, den man bei der Leiche fand?“

„Nee. Was ist das denn für ein Text?“

„Eine Geschichte. Eine Nomadenfamilie lagert vor den Toren einer Stadt. Irgendwie gerät eine der Töchter in die Fänge männlicher Stadtbewohner und wird zum Opfer einer Mehrfachvergewaltigung. Die Brüder des Opfers beschließen, sich an der ganzen Stadt zu rächen. Sie heucheln Versöhnungsbereitschaft, fordern, dass einer der Täter ihre Schwester heiratet, um ihre Schande auszulöschen und schlagen den Tätern als Zeichen ihrer Ergebenheit einen Übertritt zu ihrer Religion vor. Die Bewohner der Stadt, froh, so glimpflich davon gekommen zu sein, willigen ein und alle Männer der Stadt lassen sich zum Zeichen des Übertritts beschneiden, also ein Stück der Vorhaut entfernen. Durch den Eingriff stellt sich das übliche Wundfieber ein, das die Männer schwächt; und diesen Moment nutzen die Brüder, um alle männlichen Bewohner der Stadt niederzumetzeln.“

„Die Schandtat an Dina und das Blutbad zu Sichem.“, fasste Sabine Kerkenbrock fachfraulich zusammen. „Es handelte sich übrigens nicht um irgendeine Nomadenfamilie, sondern um die Familie Jakobs, dessen zwölf Söhne als die Gründer der zwölf Stämme Israels gelten. Nach dieser Aktion musste die Familie panisch flüchten, um nicht ihrerseits Opfer von Blutrache zu werden. Das hatte zur Folge, dass Jakobs hochschwangere Lieblingsfrau Rahel Schaden nahm und in der Folge bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin starb.“

„Kerkenbrock! Ich wusste gar nicht, dass Sie so bibelfest sind. Sind Sie eine entlaufene Kirchenmaus?“

Sabine Kerkenbrock grinste. „Falls Sie mein Elternhaus meinen, da ging es ziemlich neutral zu. Aber ich war jahrelang in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit unterwegs. Die Geschichte habe ich mal auf einer Freizeit kennengelernt, und sie hat mich sehr beeindruckt.“

Nach dem Mittagessen hatte Sabine Kerkenbrock mit Hilfe des Adressbuches genug Termine gemacht, um eine vernünftige Tour zusammenzustellen, mit der man den frühen Abend ausfüllen konnte. Den Nachmittag nutzte sie gemeinsam mit Keller für telefonische Befragungen. Viele von Volkmanns Freunden und Bekannten schienen sehr wenig über ihn zu wissen. Er wurde als vielbeschäftigt, anspruchsvoller Gesprächspartner und erstaunlich entspannter Urlauber beschrieben. Niemand hatte auch nur die Spur einer Ahnung, wer ihm das grauenvolle Verbrechen angetan haben mochte, warum alle einen beruflichen Zusammenhang in Betracht zogen, denn über dienstliche Angelegenheiten hatte Pfarrer Volkmann im Freundes- und Bekanntenkreis nur sehr wenig preisgegeben.

Der erste Außentermin war bei der Kantorin der Kirchengemeinde Hahlen-Hartum – die einzige Mitarbeiterin, die mit Norbert Volkmann in dieser Gemeinde zusammengearbeitet hatte und noch immer dort beschäftigt war.

Lydia Schmalgemeier öffnete die Butzenscheiben-Plastik-Haustür des verbauten und zu Tode verklinkerten Bauernhauses, das sie bewohnte. Sie war etwa Mitte vierzig, die mit Silberfäden durchzogenen, dunklen Haare waren als lockerer Zopf in den Nacken gebunden. Sie trug Jeans und einen weinroten Kaschmir-Pullover – nur Kaufhausqualität, wie Sabine Kerkenbrock sofort erfasste. Ihr Gesicht war schmal und blass, die Augen lagen tief in den Höhlen und waren leicht gerötet. Um ihre schmalen Lippen kräuselten sich feine Fältchen, sie erschien schlicht und bescheiden, war ungeschminkt und wirkte trotz ihrer regelmäßigen Züge, ihres gepflegten Äußeren und ihrer schlanken Silhouette gänzlich reizlos.

„Noch so 'ne farblose Kirchenmaus“, dachte Keller und sagte: „Ich bin Stefan Keller von der Bielefelder Kripo und das ist meine Kollegin Sabine Kerkenbrock. Sind Sie Frau Schmalgemeier?“

„Ja, genau.“, antwortete diese. „Kommen Sie doch rein. Möchten Sie einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken?“

„Nein danke.“, antwortete Kerkenbrock, „wir haben gerade in der Kreispolizeistelle Kaffee getrunken und wollen Sie nicht unnötig lange aufhalten. Wir haben nur ein paar Fragen, dann sind wir auch schon wieder weg.“

„Gut gemacht, Kerkenbrock.“, dachte Keller, „Die Tante macht den Eindruck, als würde sie uns am liebsten sofort ihre ganze Lebensgeschichte erzählen.“

Lydia Schmalgemeier bat die beiden Polizeikräfte ins Wohnzimmer, wo eine ältere Dame – vermutlich die Mutter oder Schwiegermutter der Kantorin – in einem Ohrensessel saß und strickte.

„Das sind die Polizisten, die angerufen haben.“, erklärte sie der alten Dame. An Keller und Kerkenbrock gewandt erklärte sie: „Meine Mutter. Sie darf doch dabei sein, oder?“

„Selbstverständlich.“; antwortete Kerkenbrock.

„Ach bitte, nehmen Sie doch Platz.“, sagte Lydia Schmalgemeier und die beiden Polizeibeamten setzten sich an den Couchtisch.

„Frau Schmalgemeier“, begann Keller die Befragung, „können Sie sich erinnern, wann Sie zum letzten Mal Kontakt zu Norbert Volkmann hatten?“

Lydia Schmalgemeier wirkte etwas verlegen, als sie antwortete: „Das letzte Mal habe ich ihn beim kreiskirchlichen Chor-Konzert in der Marienkirche gesehen, das war im Februar. Mein Kirchenchor wirkte ebenfalls dort mit und Pastor Volkmann hielt das Grußwort. Wir haben uns im Anschluss an das Konzert noch kurz unterhalten.“

„Worüber?“, fragte Kerkenbrock.

„Och, so über dies und das.“

„Geht das auch ein bisschen präziser?“, hakte Keller nach.

Lydia Schmalgemeier wirkte extrem verunsichert. „Aber das weiß ich doch jetzt nicht mehr. Vielleicht über die ausgewählten Musikstücke, die einzelnen Stimmen, die Beiträge der anderen Chöre, das Wetter, anstehende Veranstaltungen, lauter Belanglosigkeiten.“

„Ihre Beziehung zu Herrn Volkmann war also eher oberflächlich?“, erkundigte sich Kerkenbrock.

Wieder wirkte Lydia Schmalgemeier irritiert. Mit einiger Verzögerung antwortete sie: „Was denken Sie denn? Warum sollte ich mit dem Superintendenten befreundet sein?“

Nun mischte Frau Schmalgemeiers Mutter sich ein: „Als der Herr Pastor Volkmann noch hier in Hartum war, warst du ja nun schon viel mit ihm zugange.“

„Ach Mama“, winkte Lydia Schmalgemeier ab, „er war der Pastor. Wir hatten alle vierzehn Tage zusammen Gottesdienst und dann noch Hochzeiten und Beerdigungen, Passionsandachten, Adventssingen, Altenfeiern und Konzerte, Gemeindefest und Kirchenchor-Ausflug. Natürlich hatten wir viel zu besprechen. Aber jetzt doch nicht mehr. Was geht mich der Kirchenkreis an ?!“

„Wie war er denn so als Gemeindepfarrer?“, fragte Sabine Kerkenbrock.

„Ganz ordentlich.“, antwortete Lydia Schmalgemeier. „Er erledigte seine Arbeit, besprach alles mit einem und brachte nicht alles durcheinander. Man konnte sich auf ihn verlassen und er war immer so verständnisvoll.“

Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie begann leise zu weinen.

„Sein Tod geht Ihnen sehr nahe, nicht wahr?“, fragte Sabine Kerkenbrock einfühlsam.

Lydia Schmalgemeier nickte stumm und schluchzte ein paar Mal bevor sie antwortete: „Wenn man jahrelang gut zusammengearbeitet hat, weiß man den anderen zu schätzen. Ich finde es einfach nur schrecklich, dass ihn jemand kaltblütig ermordet hat.“

„Gab auch welche, die ihn nicht so mochten.“, wandte Lydia Schmalgemeiers Mutter ein und strickte weiter vor sich hin.

„Ach Mama, nu' red' doch nich'. Das ist doch normal, dass nich' alle mit einem können.“

Lydia Schmalgemeier hatte sich wieder gefasst. Sabine Kerkenbrock hakte noch einmal nach: „Wie haben Sie das gemeint? Wer mochte ihn nicht und warum?“

Lydia Schmalgemeiers Mutter räusperte sich: „Er hielt sich wohl nicht gern mit langem Gerede auf. Wenn er was richtig fand, dann machte er das und da fühlten sich manche übergangen. Haben auch mal welche gesagt, er brächte alles durcheinander. Keiner wüsste Bescheid, weil er keinem was sagte, und dann wüsste er aber selbst auch nicht mehr so genau um alles Bescheid, weil er sich zu viel auf einmal vorgenommen hätte, und denn ginge alles durcheinander.“

„Wer sagt denn sowas?“, fragte Lydia Schmalgemeier ärgerlich.

„Böskens Gerd.“, antwortete ihre Mutter spitz.

„Böskens Gerd?“, fragte Keller interessiert.

Lydia Schmalgemeier winkte ab. „Der saß im Presbyterium. Ist aber letztes Jahr gestorben, den können Sie nicht mehr fragen.“

„Und predigen konnte er auch nicht.“, fuhr die Mutter fort.

„Ach Mama, jetzt hör aber auf!“, schimpfte Lydia Schmalgemeier.

„Also ich hab' meist nichts verstanden von dem, was er erzählte.“, fuhr die Mutter ungerührt fort. „Der holte immer wer weiß wie weit aus, was er irgendwo in irgendwelchen schlauen Zeitungen gelesen hatte, die hier sowieso keiner kennt und vonne Israeliten, wo alles nix von inne Bibel steht und denn immer diese Fremdwörter, das is' nichts für die Leute hier.“

„Seine Predigten waren vielleicht manchmal etwas zu anspruchsvoll für diese Gemeinde.“, erklärte Lydia Schmalgemeier.

„Wo waren Sie eigentlich gestern Vormittag?“, fragte Keller Frau Schmalgemeier.

„Mit meiner Mutter beim Arzt. Um acht waren wir da und saßen bis zwölf im Wartezimmer. War rappelvoll.“

„Die Mutter nickte zustimmend und sagte dann: „Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil ich so Schmerzen im rechten Knie hatte. Da konnte ich nicht auf einen Termin warten.“

Kerkenbrock notierte den Namen der Arztpraxis und sagte dann: „Das war's fürs erste, Frau Schmalgemeier. Nur eins noch: Haben Sie einen konkreten Verdacht oder wenigstens eine Idee, wer Herrn Volkmann getötet haben könnte?“

Lydia Schmalgemeier schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Fassungslosigkeit auf ihrem Gesicht. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“, flüsterte sie.

„Dann wollen wir Sie auch nicht länger aufhalten“, erklärte Keller. „Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt, lasse ich Ihnen unsere Karte da. Rufen Sie uns jederzeit an. Es kann auch sein, wenn sich neue Hinweise ergeben, dass wir erneut auf Sie zukommen. Aber fürs erste sind wir durch.“

Er stand auf und reichte ihr die Hand. „Auf Wiedersehen Frau Schmalgemeier und vielen Dank.“

„Keine Ursache.“, antwortete die.

Zurück im Dienstwagen resümierte Kerkenbrock: „Sie weiß nichts, außer dass er Superpastor war. Nur ihre Mutter kennt den kompletten Dorftratsch. Was halten Sie davon?“

Keller zuckte mit den Schultern. „Klingt erstmal unspektakulär. Pfarrer, die polarisieren, gibt’s , glaube ich, haufenweise. Aber er war zumindest kein Waisenknabe, so viel ist schon mal klar. Und irgendetwas sagt mir, dass die Schmalgemeier das eine oder andere für sich behält.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Sie kommt mir vor wie so ein einsames, altjüngferliches Mauerblümchen, das immer noch bei Mama wohnt, Mama hasst, sich aber auch nicht von ihr lösen kann. Vielleicht hat sie den Pastor heimlich verehrt und angehimmelt, weil er sie nicht wahlweise übersehen oder ausgelacht hat wie der Rest der Dorfmischpoke. Im Gegenzug für seine Aufmerksamkeit hat sie vielleicht irgendwelche Machenschaften gedeckt. Denn dass Volkmann das eine oder andere Regelwidrige auf dem Kerbholz hat, ist nicht unwahrscheinlich; Machtmenschen haben fast immer Leichen im Keller. Und es sind meistens Machtmenschen, die Superintendent werden. - Wen haben wir eigentlich als Nächstes auf dem Plan?“

„Markus Wegmann, ein alter Schulfreund, wohnt in Hahlen.“, antwortete Kerkenbrock.

„Na, dann können wir ja unterwegs noch irgenwo 'n Kaffee trinken.“, sagte Keller. „Der in der Kreispolizeistelle entzieht sich irgendwie meiner Erinnerung.“

Rache für Dina

Подняться наверх