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4. Nordhemmern

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Katharina Förster zwang sich, endlich aufzustehen. Es war bereits elf Uhr und sie hätte zwar gern noch etwas vor sich hin gedöst, aber die Aufgaben dieses Tages lagen wie der Inhalt eines großen auszumistenden Stalles vor ihr. Sie hatte gestern Abend die Türklingel abgestellt, das Festnetztelefon ausgestöpselt und das Mobiltelefon ausgeschaltet. Daran würde sie auch in den nächsten zwei Stunden nichts ändern.

„Kein Geschrei vor zwei.“, murmelte sie und schleppte sich unter die Dusche. Blitzsauber und angezogen rührte sie sich ein Müsli zusammen und setzte Teewasser auf. Wenn man in ihrem Beruf auch häufig an Junkfood oder anderen vitaminarmen, unregelmäßigen, schnell-mal-eben-was-reinschieben-Mahlzeiten nicht vorbei kam, wollte sie wenigstens gesund in den Tag starten. Da durfte auch die obligatorische Kanne grüner Tee nicht fehlen, um die Leber bei der Erholung von gelegentlichen Rotwein-Exzessen zu unterstützen.

Katharina Wehmeier war nicht dick, aber auch nicht gerade gertenschlank und sie sah immer ein wenig erschöpft aus, so dass sie drohte, vor der Zeit zu altern. Sie las beim Frühstück die Zeitung, spülte ihr Geschirr und setzte sich dann an den Schreibtisch. An diesem Abend traf sie sich mit dem Mitarbeiterkreis in Bergkirchen und betreute anschließend die Öffnungszeit des Jugendcafés.

„Hoffentlich liegt heute Abend kein Schnee mehr da oben.“, stöhnte sie. Das Dorf lag auf dem Wiehengebirgskamm und bestand hauptsächlich aus schmalen, steilen und kurvigen Straßen und Einfahrten. Da waren auch Winterreifen keine Garantie für Sicherheit im Straßenverkehr. Andererseits war sie froh, dass sie den gestrigen Mitarbeiterkreis in der Gemeinde Hille für die nächsten zwei Wochen hinter sich hatte. Sie verabscheute diese unangenehme Mischung aus biblizistischer Frömmigkeit und selbstgerechtem Spießbürgertum, die ihr da entgegenschlug. Und die Hiller verabscheuten sie. Für ihre Schludrigkeit, für die gesellschaftlich relevanten Themen, mit denen sie sie immer wieder belästigte, für ihre theologische Unverfrorenheit und vor allem dafür, dass sie mit fast dreißig Jahren noch nicht in geordneten Verhältnissen lebte, sondern die Gelegenheit hatte, ein sexuell ausuferndes Lotterleben zu führen, das sich leider der Kontrolle durch die Hiller weitestgehend entzog, weil sie im fünf Kilometer entfernten Nordhemmern lebte. Katharina Förster hätte gegen ein solches Lotterleben mit gelegentlich wechselnden Sexualpartnern durchaus nichts einzuwenden gehabt, aber sie schaffte es ja nicht einmal, einen einzigen halbwegs attraktiven jungen Mann an ihrem Leben teilhaben zu lassen. „Wie denn auch“, dachte sie, „wenn man immer nur mit Teenies oder Rentnern rumhängt.“

Jetzt machte sie sich allerdings an die Vorbereitung des Mitarbeiterkreises. Die Tagesordnung stand in fünf Minuten, das Material (Infozettel, Plakate, Ausschreibungen) war in weiteren fünf Minuten zusammengestellt, aber die Andacht für die Einstimmung stand noch nicht. Die Bergkirchener waren offen und experimentierfreudig, auch wenn sie durchweg gemütliche Kuschel-Jugendliche waren. Hier schien die gute alte Zeit der beige-braunen Teestuben noch gegenwärtig.

In Hille hatte sie nur einen Text aus einer CVJM-Arbeitshilfe gelesen, gesungen, gebetet, einen Segen gesprochen.

In Bergkirchen konnte sie sich auch methodisch auf das Thema einlassen: Passionszeit, Fastenzeit oder einen Aspekt der Passionsgeschichte. Am Ende entschied sie sich für die Fußwaschung. Sie würde einem Mitarbeiter die Füße waschen und mit Duftöl massieren und der sollte diese Erfahrung an einen anderen weitergeben, so dass am Ende alle einen solchen Dienst erwiesen bekommen hätten. Nach einem kurzen Erfahrungsaustausch, wie man sich als Empfangender und wie als gebender fühlt, würde sie mit den Ehrenamtlichen den Bibeltext von der Fußwaschung lesen und ein Gespräch anschließen, worin der Unterschied besteht zwischen gegenseitigem Dienen und der aktuellen Wirklichkeit. Sie würde mit einem gemeinschaftlichen Fürbittengebet abschließen und ein Segenslied singen, das die Jugendlichen sich aussuchen dürften.

Ja, wenn jeder das Wohlergehen seiner Mitmenschen im Blick hätte, dachte Katharina Förster, das wäre schon toll. Wenn es zumindest in der Kirche so wäre, dann gäbe es wenigstens einen Zufluchtsort, eine Höhle, eine Insel, welches Bild auch immer man dafür fand. Aber es war doch überall dasselbe und die Kirche war ein perfektes Abbild der Gesellschaft. Irgendwo gab es immer einen Bösen, der alle drangsalierte, skrupellose Täter und Trittbrettfahrer, hilflose Opfer, Mitläufer, Verzweifelte und wütende Rächer. Manchmal fragte Katharina sich, ob das jüngste Gericht nicht schon längst stattgefunden hatte und sie sich bereits in der Hölle befand. Im himmlischen Jerusalem tummelten sich die Erleuchteten, während sie mit den anderen räudigen Sündern vor den Toren der Stadt heulte und mit den Zähnen klapperte. Endlosschleife irdisches Leben. Aber das war jawohl eher die buddhistische Hölle.

13.22 Uhr. Vielleicht sollte sie mal wieder das Telefon einstöpseln. Kaum war der Stecker in der Leitung, da läutete es auch schon.

„Hallo, hier ist Katharina Förster.“

„Kathi! Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen. Hier ist Kai-Uwe. Wo hast du gesteckt?“

„Bett, Dusche, Küche, Schreibtisch. Ich wollte meine Ruhe. Was gibt’s denn so Dringendes?“

„Volkmann ist tot.“

„Du verarscht mich doch.“

„Nee, ehrlich. Der ist ermordet worden.“

Katharina schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Und ich dachte immer, 'Mein ist die Rache, spricht der Herr'“:

Rache für Dina

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