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2. Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

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„Ist die KT schon lange da?“, fragte Keller und schüttelte sich den Schnee von der Jacke. „Halbe Stunde vielleicht.“, entgegnete der junge Polizist, der den Eingang zur Superintendentur sicherte.

Keller grunzte, statt sich für die Information zu bedanken und betrat den Tatort. Er hatte schon viel gesehen, aber dieser Anblick veranlasste ihn, sich ein Taschentuch vor den Mund zu pressen. Hinter dem Schreibtisch lag eine Männerleiche: ein hagerer Typ, vielleicht Ende Fünfzig. Er lag halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, weil die Mord-waffe, die ihm von hinten in den Oberkörper getrieben worden war, noch steckte und so eine entspannte Rückenlage verhinderte. Soweit war der Anblick ganz gewöhnlich. Ungewöhnlich war allerdings, dass man ihn an den Genitalien entblößt und verstümmelt hatte.

„Kannst du schon was sagen, Konstanze?“, fragte er die Medizinerin von der Kriminaltechnik.

„Todeseintritt vielleicht vor etwa zwei Stunden. Vermutlich wurde er von hinten erdolcht. Er

war nicht sofort tot, daher das viele Blut. Der Täter hat ihm dann die Hosen herunter gezogen und ihn auf den Rücken gedreht oder zuerst gedreht und dann entblößt und mit einem Teppichmesser das Präputium entfernt.“

„Das was?“

„Das Präputium, die Vorhaut. Er hat ihn beschnitten, wie in der jüdischen und islamischen Kultur üblich. Er hat das Messer und das Amputat hier fein säuberlich auf dem Schreibtisch arrangiert.“

Keller erblickte ein blutiges, ringförmiges Etwas, sowie ein ebenso blutverschmiertes Teppichmesser effektvoll auf der Seite einer aufgeschlagenen Bibel platziert. Er beugte sich darüber und las: „Genesis – 1. Mose 34.“ Die Spitze des Messers zeigte auf eine Überschrift: „Die Schandtat an Dina und das Blutbad zu Sichem“.

Er notierte die Bibelstelle. Das klang doch verschärft nach Rachemotiven: Vergewaltigung, Genitalverstümmelung und für den Theologen extra biblisch unterfüttert.

Keller ging vor die Tür und fragte den jungen Kollegen: „hat schon jemand mit der Person gesprochen, die die Leiche gefunden hat?“

„Die Kollegen von der Streife. Aber die Frau war ganz aufgelöst. Sie haben ihr erst einmal was zu Trinken besorgt und jemanden geholt, der sie beruhigt.“

„Na ja, an Notfallseelsorgern wird es denen hier ja nicht mangeln. Wo bleibt eigentlich die Kerkenbrock? Die hat das Einfühlsame und Trost Spendende besser drauf als ich.“

„Die hat heute Überstunden frei und ist auch weiter weg gefahren.“, antwortete der junge Polizist.

„Na super.“, knurrte Keller. „Und wo ist jetzt die Zeugin?“

Der Polizist machte eine Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. „Da drin. Schluchzt noch. Hat 'ne Pastorin zum Händchen halten.“

„Na, dann will ich mal. - Ach ja, Name des Toten, Verwandte, Liste mit anderen Zeugen und so weiter hätte ich gern umgehend schriftlich.“

„Ist schon alles in Arbeit.“

Keller nickte anerkennend, klopfte an die Tür und betrat den Raum, in dem Norbert Volkmanns Sekretärin saß und zitternd die Hand einer Pfarrerin hielt.

„Entschuldigen Sie bitte“, Keller trat vorsichtig näher. „Mein Name ist Stefan Keller. Ich ermittle in diesem Fall. Wer von Ihnen beiden hat den Verstorbenen aufgefunden?“

„Ich“, schluchzte die Sekretärin mit erstickter Stimme.

„Und Sie sind...“

„Elisabeth Attig. Ich bin Verwaltungsfachangestellte und persönlich Herrn Superintendent Volkmann zugeteilt.“

Sie brach wieder in Tränen aus, unfähig, weiter zu sprechen. Keller setzte sich und betrachtete die weinende Frau. Sie war schätzungsweise in den Fünfzigern, trug graue Bundfaltenhosen aus Wollstoff mit Bügelfalte und dazu eine cremefarbene Chiffonbluse mit überdimensionaler Schleife, die ihre gewaltige Oberweite unvorteilhaft überbetonte. Ihr ausladendes Becken stand in einem absurden Missverhältnis zu ihren schmalen Füßen, die in altmodischen Lackpumps steckten. Sonst war sie eher grobknochig und hoch gewachsen. Das vermutlich gefärbte, nussbraune Haar war in einer voluminösen, schulterlangen Betonfrisur erstarrt. Ihr perlrosa Lippenstift, der perfekt zum Nagellack passte, war verschmiert und auch das Augen-Make-up hatte hässliche Ringe gebildet. Tränenrinnsale hatten sich durch die pudrige Tagescreme ihren Weg gebahnt. „Wenn sie sich jetzt selbst sehen könnte, würde sie vor ihrem eigenen Spiegelbild erschrecken.“, dachte Keller.

„Frau Attig, ich weiß, das ist alles sehr schlimm für Sie, aber in einem Mordfall müssen wir so schnell wie möglich ermitteln, nur so haben wir eine Chance, die Umstände aufzuklären. Wann haben Sie Herrn Volkmann zum letzten Mal lebend gesehen?“

„Etwa eine Viertelstunde bevor ich ihn gefunden habe.“

„Wann genau war das?“

„Ich weiß nicht. Aber nur wenige Minuten, nachdem ich ihn gefunden habe, hat doch Herr Werner die Polizei gerufen.“

„Also etwa zwanzig Minuten vor dem eingegangenen Anruf. Das grenzt die Tatzeit enorm ein. Frau Attig, haben Sie mitbekommen, dass in dieser Zeit zwischen Ihrer letzten Begegnung mit Herrn Volkmann und dem Moment, wo Sie ihn tot aufgefunden haben, jemand bei ihrem Chef im Zimmer war?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich war damit beschäftigt, ein Protokoll zu schreiben, das mir Herr Pfarrer Volkmann auf das Diktiergerät gesprochen hatte. Ich habe nichts gehört.“

Keller wandte sich an die Pfarrerin: „Waren Sie zur Tatzeit hier im Haus?“

Die Pfarrerin schüttelte den Kopf. „Nein, als ich herkam, war Frau Attig schon ganz außer sich, und unser Verwaltungsleiter hat mich gebeten, mich ihrer anzunehmen. Aber auch, wenn ich hier gewesen wäre: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man mitbekommt, wer hier ein- und ausgeht. Das ist hier kein besonders gesichertes Gebäude. Wir sind ja normalerweise kein Ziel für Überfälle oder Anschläge.“

„Aber die Leute, die an der Pforte sitzen...“

„Die sind viel zu beschäftigt.“, unterbrach die Pfarrerin ihn. „Sie sitzen zwar an der Pforte, müssen von da aus aber ganz normale Verwaltungsaufgaben erledigen. Jeden Tag ist ein anderes Team dran. Das ist der Fluch der Rationalisierung.“

„Kannten Sie Herrn Volkmann gut?“, fragte er die Pfarrerin.

„Wie man seinen Chef eben so kennt. Das heißt, er war vorher Pfarrer in Hartum, da sind wir uns gelegentlich bei der Pfarrkonferenz begegnet. Aber ich hatte kaum Kontakt zu ihm; ich bin Pfarrerin in Neesen und Lerbeck, ganz andere Richtung“, sie räusperte sich, „auch theologisch.“

„Sagen Sie mir auch Ihren Namen?“, bat Keller sie.

„Margarethe Vormbrock.“

Keller bedankte sich. „Das war's fürs Erste. Ich werde aber sicher noch mehrfach auf Sie zukommen. Das heißt, warten Sie, hat eine von Ihnen zufällig einen Verdacht oder eine Idee, um welches Motiv es sich handeln könnte?“

„Unsinn!“, stieß Frau Attig hervor. „Er war ein herzensguter Mensch, ein ganz wunderbarer Vorgesetzter und er hat so hart gearbeitet.“

„Also einen konkreten Verdacht habe ich auch nicht.“, setzte Frau Vormbrock hinzu. „Aber Motive gab es wohl eine Menge. In einem Kirchenkreis geht es ja auch immer um Verteilung von Geld, Durchsetzung neuer Ideen, Wahrung von Privilegien. Na ja, und ein Chef stößt selten nur auf Gegenliebe. Manche Kollegen sind nicht besonders gut auf ihn zu sprechen und auch die Nicht-Theologen unter den kirchlichen Mitarbeitern hatten schon die eine oder andere heftige Auseinandersetzung mit ihm.“

„Könnten Sie da etwas konkreter werden?“, fragte Keller interessiert.

„Ach, da gibt es in jeder Gemeinde irgendwelche Ärgernisse. Bei uns war es beispielsweise der Küster, der mit ihm auf Kriegsfuß stand. Nicht, dass er persönlich mit ihm aneinander geraten wäre, aber er schimpfte oft auf die Kirchenkreis-Leitung, weil von dort neue Richtlinien heraus gegeben worden waren, Zeitbudgetierung für Küsteraufgaben. Unser Küster hat neben den Gemeindehäusern und Kirchen in Neesen und Lerbeck auch noch einen Teil der Pflege der Außenanlagen in Meißen dazu bekommen. Da, wo Küster ausscheiden, wird nicht wieder besetzt und die Arbeit statt dessen auf die verteilt, die noch im Amt sind. Gehalt und Gesamt-Zeitkontingent bleiben aber unverändert. Das verursacht natürlich Stress und macht die Leute unzufrieden.“

„Aber glauben Sie, dass jemand wegen so etwas töten würde?“, fragte Keller ungläubig.

„Kennen Sie die Abgründe der menschlichen Seele?“, gab Frau Vormbrock zu bedenken. „Allerdings halte ich unseren Küster für in höchstem Maße unverdächtig. Der hätte gar nicht die Zeit gehabt, heute hier her zu kommen. Und es fehlt ihm wohl auch die blutige Ader für so ein obszönes Verbrechen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich denke schon.“, antwortete Keller. „Tja, dann auf Wiedersehen und wie gesagt, Sie hören noch von mir.“

Rache für Dina

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