Читать книгу Rache für Dina - Cristina Fabry - Страница 14
12. Kreiskirchenamt Minden
ОглавлениеEs war exakt 9.28 Uhr als Keller und Kerkenbrock an der Pforte des Kreiskirchenamtes vorsprachen.
„Wir haben um 9.30 Uhr einen Termin mit dem Assessor Reimler.“, erklärte Kerkenbrock.
„Assessor A.D.“, erklärte die Dame an der Pforte. „Herr Pfarrer Reimler ist jetzt stellvertretender Superintendent. Sie finden ihn in der Superintendentur im ersten Stock.“
„Ich weiß Bescheid.“, unterbrach Keller sie. „Kommen Sie, Kerkenbrock.“
Im Vorzimmer des Superintendenten trafen sie auf Eisabeth Attig. Heute trug sie den Ereignissen entsprechend eine schwarze Bundfaltenhose aus Viskose, eine silbergraue Bluse und eine schwarze Weste aus Maschinenstrick, dazu schwarze Lackpumps und sehr dezenten Goldschmuck. Nur der perlrosa Nagellack und der darauf abgestimmte Lippenstift waren als Farbtupfer erhalten geblieben.
„Herr Assessor Reimler erwartet Sie bereits.“, erklärte sie geschäftsmäßig, klopfte an die Tür und kündigte die Besucher an. „Also doch noch nicht Superintendent.“, raunte Keller Kerkenbrock zu. Die Polizisten traten ein und gaben Sebastian Reimler die Hand. Das Angebot einer Tasse Kaffee oder Tee lehnten sie dankend ab. Sie nahmen zu dritt am Konferenztisch Platz und Keller hatte den Schreibtisch im Blick, hinter dem vor zwei Tagen Volkmanns Leiche gelegen hatte. Die Spurensicherung hatte den Tatort gestern Nachmittag frei gegeben und Reimler hatte offensichtlich keine Minute mit dem Umzug gezögert. Was für ein Mensch musste das sein.
„Herr Reimler“, begann Keller die Befragung. „Sie als Stellvertreter von Herrn Volkmann sind sicherlich der am besten informierte Mitarbeiter, was die dienstlichen Angelegenheiten Ihres verstorbenen Chefs betrifft. Als Leiter eines Kirchenkreises erlebt man sicher an der einen oder anderen Stelle Dissonanzen. An welchen Fronten hatte Herr Volkmann Ihrer Einschätzung nach am meisten zu kämpfen?“
„Nun, Herr Volkmann war ein Superintendent, der lieber aktiv gestaltete, statt passiv zu verwalten.“, begann Reimler seine Ausführungen. „Er bemühte sich zum Beispiel um die Ökumene, was eingefleischten Lutheranern nicht immer schmeckte.“
„Könnten Sie das näher erklären?“, fragte Keller.
„Was Ökumene ist, wissen Sie aber schon?“, erkundigte Reimler sich.
„Offen gestanden, nein.“, gab Keller zu und Kerkenbrock lächelte in sich hinein.
„Nun“, erklärte Reimler, „als Ökumene bezeichnet man die Gemeinschaft der christlichen Kirchen, egal ob sie katholisch, evangelisch, reformiert oder orthodox sind. Man betont das Gemeinsame, statt sich über das Trennende zu identifizieren. Mittlerweile wurde der Begriff teilweise sogar schon auf die anderen monotheistischen Religionen ausgeweitet, also auf Judentum und Islam, die ja untrennbar mit dem Christentum verbunden sind.“
„Gibt es denn solche Hardliner in Ihrem Verein, dass der Dialog mit anderen Konfessionen für ein Mordmotiv reicht?“, erkundigte sich Keller.
„Das habe ich nicht gesagt.“, erklärte Reimler. „Sie haben mich nach Dissonanzen gefragt, nicht nach einem möglichen Mordmotiv.“
„Da haben Sie recht.“, räumte Keller ein. Manchmal ergibt sich ein Mordmotiv auch erst aus mehreren Puzzle-Teilen. Fahren Sie also bitte fort.“
„Nun ja. Er war ein Vorgesetzter, der seine Mitarbeiter nicht einfach machen ließ. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich meine damit nicht, dass er sich dirigistisch in alles einmischte, er setzte großes Vertrauen in seine Mitarbeiter – aber er interessierte sich für ihre Tätigkeit, ließ sich umfassend informieren und von Zeit zu Zeit übte er konstruktive Kritik oder griff auch mal korrigierend mit entsprechenden Anordnungen ein. Damit, dass er dabei manchmal einen scharfen Ton anschlug, konnte nicht jeder umgehen.“
„Gab es Menschen, die sich seiner Kritik auffallend häufig ausgesetzt sahen?“, fragte Kerkenbrock.
„Das kann man so nicht sagen.“, erklärte Reimler. „Natürlich schätzte er einige mehr als andere, aber da müssten Sie mit allen 41 Mitgliedern des Pfarrkonventes reden, um zu erfahren, ob sich jemand von ihm bedrängt fühlte. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“
„Könnten wir eine Liste aller Pfarrkonventsmitglieder haben?“, fragte Sabine Kerkenbrock mit einer perfekten Kleinmädchenstimme.“
„Aber selbstverständlich.“, antwortete Reimler jovial. „Ich kann Frau Attig umgehend anweisen, die Liste auszudrucken.“
„Ich bitte darum.“, erklärte Keller. „Das erspart uns eine Menge Zeit.“
Reimler verschwand kurz ins Vorzimmer und Keller und Kerkenbrock tauschten vielsagende Blicke aus.
„Aalglatt.“, zischte sie. Er nickte zustimmend
Als Reimler zurück kehrte, sagte er: „Die schärfsten und nervenaufreibensten Auseinandersetzungen hatte er allerdings mit der MAV. Von dort wurden seine Bemühungen um Umstrukturierung und Flexibilisierung des Stellenplans in den Bereichen Küsterdienste, Kirchenmusik, Jugendarbeit und Kindertageseinrichtungen immer wieder torpediert. Ich gedenke, seine Linie weiter zu verfolgen, und da kommen wohl harte Zeiten auf mich zu.“
„Das klingt alles sehr nach notwendigen Einsparungen.“, bemerkte Kerkenbrock. „Aber ist nicht das Kirchensteueraufkommen entgegen aller Erwartungen gestiegen?“
Wieder lächelte Reimler gönnerhaft. „Das müssen wir sehr oft erklären. Der kurzfristige Anstieg infolge der verbesserten Konjunktur wird sich langfristig als Strohfeuer entpuppen. Die Verpflichtungen im Bereich der Pfarrbesoldung, einschließlich der Pensionen sind gewaltig und verschlingen den größten Teil der verfügbaren Gelder. Auch wenn das niemand will, werden wir wohl nicht drum herum kommen, wieder eine Parrer-zentrierte Kirche zu werden, in der Küsterdienste, Jugendarbeit und Kirchenmusik weitestgehend von Ehrenamtlichen getragen werden müssen. Das ist nun einmal die Wahrheit, doch wer sie ausspricht, muss damit rechnen, Prügel einzustecken.“
„Oder ermordet zu werden.“, ergänzte Keller trocken.
„Das haben Sie gesagt.“, bemerkte Reimler.
„Sind Ihnen denn einzelne Vorgänge im Bereich Personalangelegenheiten bekannt, deren Charakter so schwerwiegend ist, dass wir ihnen vielleicht näher auf den Grund gehen sollten?“, fragte Keller.
„Da muss ich leider passen.“, antwortete Reimler mit deutlich gespieltem Bedauern.
„Dann stellen Sie uns doch bitte eine Liste sämtlicher beim Kirchenkreis Minden Beschäftigter zusammen mit Name, Adresse, Telefonnummer, Berufsbezeichnung und Name, Adresse und Telefonnummer der Einrichtung, in der sie ihre Beschäftigung ausüben. Außerdem brauchen wir Einsicht in Ihre Salden, Sachbücher und Haushaltspläne, um einen möglichen Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen zu finden.“
„Das ging mir jetzt alles ein bisschen schnell.“, stieß Reimler hervor und seine Augäpfel zuckten nervös hin und her. „Könnten Sie das mit Frau Attig besprechen? Sie wird sich um alles kümmern. Ich werde sie anweisen, alles Ihren Wünschen entsprechend zusammenzustellen.“
„Auch gut.“, antwortete Keller. „Dann wollen wir mal, und vielen Dank für Ihre wertvolle Zeit.“
Die Ironie in diesem Satz war nicht zu überhören, aber Reimler ignorierte sie und wies die Sekretärin zur Herausgabe aller erforderlichen Daten an die Polizei an. Dann verschwand er wieder in seinem Büro.
Was glaubten diese Polizeibeamten eigentlich? Hielten sie etwa ihn für Volkmanns Mörder? Oder sonst irgendeinen Mitarbeiter des Kirchenkreises? Das war doch völlig absurd. Sicher war irgendein drogenabhängiger Spinner in das Büro des Sup eingedrungen und aus Ärger darüber, dass es nichts zu holen gab, hatte er diesen Unsinn mit der Beschneidung inszeniert. Volkmann hatte viele Gegner gehabt, aber keine Feinde. Es klopfte. Reimler antwortete mit: „Ja, bitte.“ und herein trat Gerhard Massmann, Vorsitzender des Haupt- und Finanzausschusses. Massman arbeitete als leitender Angestellter in der Finanzabteilung der Mindener Stadtverwaltung und verfügte über äußerst flexible Arbeitszeiten. Er hatte noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand, seine Kinder waren bereits aus dem Haus und er war seit zehn Jahren Mitglied des Presbyteriums der Mariengemeinde. Als Finanzkirchmeister zog er dort mit Reimler an einem Strang, der bis zu Volkmanns gewaltsamem Tod dort Pfarrer gewesen war.
„Was wollte die Polizei von Ihnen?“, fragte er.
„Ansatzpunkte für Ermittlungen.“, antwortete Reimler. „Ich konnte ihnen nicht weiter helfen. Darum verlangen sie jetzt nach den Daten sämtlicher Mitarbeiter und nach lückenlosem Einblick in unsere Finanzen.“
„Sind die denn Datenschutz-technisch überhaupt dazu berechtigt?“
„Im Zuge einer Mordermittlung.“
„Aber für so etwas brauchen die doch eine richterliche Anordnung.“
„Aber Herr Massmann.“, widersprach Reimler. „Was haben wir denn zu verbergen? Hier geht doch alles mit rechten Dingen zu.“
„Selbstverständlich.“, antwortete Massmann. „Nur haben Sie sich mal überlegt, was passiert, wenn die auf die Baukosten in der Königstraße aufmerksam werden und nachhaken, um was für ein Projekt es sich da handelt?“
„Aber das ist doch nicht illegal.“
„Nein, aber wenn Informationen darüber vorzeitig an die Presse dringen – und diskret geht die Polizei mit solchen Informationen ganz bestimmt nicht um – dann könnte unser Projekt noch vorzeitig gestoppt werden und all unsere Bemühungen wären vergeblich gewesen. Das Bibelmuseum unterliegt der äußersten Geheimhaltung bis alles in trockenen Tüchern ist, sonst wird es zu Tode diskutiert und die Gelder verpuffen wieder in irgendwelchen sinnlosen Projekten für die Jugendarbeit.“
Reimler errötete leicht und räusperte sich. „Also ganz so schrecklich geheim würde ich es nicht mehr halten. Der Bau ist ja schon aufgenommen und wir sollten allmählich anfangen, in den Gemeinden dafür zu werben.“
In Massmanns Kopf schrillten die Alarmglocken. „Mit wem haben Sie darüber geredet?!“
„Na ja, ich habe nicht direkt darüber geredet, nur so am Rande unsere Pläne als Beispiel für die Entwicklung eines Kirchenkreis-eigenen Profils dargestellt, gestern, bei der Presbyteriums-Sitzung in Holzhausen II-Nordhemmern.“
„War Karl-Wilhelm Wiebeking dabei, der Kirchmeister?“
„Ja, sicher, und er war sehr angetan von der Idee.“
„Wie hat er das geäußert?“
„Er sagte, das sei eine sehr schöne Sache.“
„Na, da werde ich ihm noch beim nächsten Haupt- und Finanzausschuss auf den Zahn fühlen. Ich hoffe, er dreht uns keinen Strick daraus, dass wir die Kosten bisher in den allgemeinen Bauausgaben untergebracht haben. Wir müssen uns eine gute Argumentation ausdenken, damit Wiebeking keinen Eklat herauf beschwört. Ich traue dem sturen Bauern nicht über den Weg.“
„Sie werden schon einen Weg finden.“, erwiderte Reimler freundlich lächelnd.
„Ja.“, antwortete Massmann. „Wahrscheinlich. Aber halten Sie sich vorerst mit Äußerungen über das Museum zurück. Warten Sie, bis ich Ihnen grünes Licht gebe. Jetzt aber etwas Anderes. Herr Volkmann hatte doch diese aufreibende Auseinandersetzung mit der MAV wegen der neuen Verträge für die Erzieherinnen. Haben sie mit denen schon einen Gesprächstermin?“
„Ja, morgen Nachmittag um 17.00 Uhr. Möchten Sie vielleicht dazu kommen?“
„Selbstverständlich möchte ich das!“, bellte Massmann verärgert. Es geht ja schließlich um meinen Verantwortungsbereich. Haben Sie alles Schriftliche beieinander?“
„Ja, sicher.“, antwortete Reimler verschnupft. „Ich hatte aber noch keine Gelegenheit, mich in alles rein zu lesen.“
„Das sollten Sie aber schleunigst tun.“, empfahl Massmann, „Vorher sollte Frau Attig mir die Unterlagen kopieren, damit ich auch auf dem neuesten Stand bin. Und dann lassen Sie uns heute Abend noch einmal telefonieren und unsere Strategie absprechen.“
„Heute Abend habe ich aber keine Zeit. Meine Frau und ich haben Konzertkarten.“, erklärte Reimler trocken.
Massmann sah ihn ungläubig an. Dann atmete er tief durch und sagte mit erzwungener Ruhe, aber einem unüberhörbar aggressiven Unterton: Dann rufen Sie mich nach dem Konzert zu Hause an, Herr künftiger Su-per-in-ten-dent!“
Er rauschte aus dem Zimmer und ließ den verdutzten Reimler stehen. Frau Attig hatte die Unterlagen in Windeseile kopiert und Massmann kehrte in die Stadtverwaltung zurück. Die Papiere würde er sich nach Feierabend ansehen. Er ärgerte sich maßlos über Reimler. War er im ersten Moment froh gewesen, den durchsetzungsfähigen Volkmann nicht mehr vor der Nase zu haben – der zwar die gleichen Ziele wie er verfolgte, die Lorbeeren aber immer allein ernten wollte – und nun seine Lieblingsmarionette Reimler auf dem Sessel des Superintendenten steuern zu können, kam die Befürchtung auf, der Schuss könne nach hinten los gehen.
Als Gemeindepfarrer in Marien hatte Reimler Massmann vorbehaltlos vertraut, und Massmann schätzte Reimler wiederum, weil er keiner von diesen Pfarrern war, die versuchten, einfach alles zu sein: Politiker, Sozialarbeiter, Psychologe, Schauspieler, Sänger, Künstler, Rebell und gleichzeitig Integrationsfigur. Nein, Reimler war das, was Massmann einen Volltheologen nannte: er beschäftigte sich ausschließlich mit Bibelkommentaren, widmete sich klassischen Themen wie Gottesdiensten, Gemeindegruppen, Diakonie und religiösen Bildungsveranstaltungen, hatte auch privat eine Vorliebe für klassische Kirchenmusik, zog sich anständig und seinem Amt angemessen an und verfügte über eine kultivierte Ausdrucksweise. Als Massmann merkte, wie leicht Reimler sich von ihm leiten ließ, ermutigte er ihn immer wieder für das Amt des Synodal-Assessors zu kandidieren. Schließlich hatte er es gewagt und gewonnen. Aber sein neues Amt stieg ihm offenbar zu Kopf. Er entwickelte ein Eigenleben, reagierte irgendwie bockig und war dabei aber offenkundig zu faul und zu dumm, um die Aufgaben, die auf ihn zukommen würden, im Alleingang zu bewältigen. Er brachte es fertig, in seiner naiven Selbstherrlichkeit alles vor die Wand zu fahren, wofür Massmann und andere jahrelang gearbeitet, gekämpft und taktiert hatten. Er musste diesen Kerl unbedingt wieder unter seine Kontrolle bringen. Ihm war nur noch nicht ganz klar, ob es klüger war, offen die Führung an sich zu reißen oder Reimlers Vertrauen durch schmeichlerisches Dienertum zurück zu gewinnen. Um das zu entscheiden, blieben ihm ja noch ein paar Stunden Zeit.