Читать книгу Rache für Dina - Cristina Fabry - Страница 19
17. Kirchenkreis Minden – Jugendreferat
ОглавлениеErstaunt hob Kai-Uwe Kehrer den Kopf, als Katharina Förster das Büro des Jugendreferates betrat. „Morgen Kathi“, begrüßte er sie, „was ist passiert, bist du aus dem Bett gefallen?“
„Nö, ich war joggen.“, antwortete die. „Nach einem komplett freien Wochenende habe ich ausnahmsweise Energie für sowas.“
„Komplett frei? Und was hast du gemacht?“
„Abgehangen.“
„Abgehangen? Du hast das ganze Wochenende frei und tust nichts weiter als abhängen?“
„Hab' ich gebraucht. Die Akkus waren leer.“
„Aber so ganz allein? Kathi, du musst dir echt mal'n Freund zulegen.“
„Ich habe Freunde.“
„Ich meine keine ehemaligen Mitschüler aus der Bielefelder Schwulenszene, mit denen du einmal im Jahr um die Häuser ziehst. Ich meine einen echten Lebenspartner.“
„Du meinst eine Beischlafgelegenheit.“
„Nein, ich meine mehr als das.“
„Das würde mir aber schon reichen.“
Kai-Uwe starrte Kathi an: „Also davon laufen ja nun wirklich genug rum. Du musst dir nur ein T-Shirt mit dem Aufdruck 'Wer will mit mir schlafen?' anziehen, dann hast du bestimmt 'ne super Auswahl.“
„Ja, bestimmt total super.“, antwortete Katharina. „Die ganzen Kerle, die keine Frau auch nur mit der Kneifzange anfassen würde.“
„Siehste.“, erklärte Kai-Uwe. „Das hast du nämlich gar nicht nötig. Du musst einfach nur mal mehr unter Leute gehen. Und wenn du nur ab und zu mal eine interessante Fortbildung mitmachst.“
„Und wen treffe ich da?“, fragte Katharina. „Pfarrer? Sozialarbeiter? Diakone und Gemeindepädagogen? Wenn schon, dann will ich James Bond und nicht Johnny English.“
„Na du bist ja drauf. Aber wenn du keine Kompromisse machst, dann wirst du für immer allein bleiben.“
Katharina verdrehte genervt die Augen. „Klar, ich suche mir einen mittelmäßigen Kollegen oder Pfarrer, gehe auf ihn zu und sage, hör mal, Klaus-Bärbel, wir sind zwar beide nicht schön und erfolgreich, aber was Besseres als uns finden wir sowieso nicht. Also tun wir uns am besten zusammen, denken beim Sex an jemand anderen und ziehen zwei anständige Kinder groß, die genauso mittelmäßig sind wie wir. Da wir im gleichen beruflichen Umfeld unterwegs sind, wird uns auch nie der Gesprächsstoff ausgehen und mit dem Segen unseres Herrn Jesus Christus hat unsere Ehe eine sichere Basis. Ist das nicht praktisch? Wir werden uns zwar zu Tode langweilen, aber sterben müssen wir am Ende ja doch irgendwie.“
Wortlos schüttelte Kai-Uwe den Kopf.
„So“, fuhr Kathi fort, „und jetzt kümmerst du dich um deine eigenen Probleme, schließlich haben wir eine Arbeitsbeziehung; oder sollen wir die Promiskuität deiner Gattin und die Drogenprobleme deiner Kinder betrachten?“
„Schon gut.“, antwortete Kai-Uwe grinsend. „Du bist erwachsen.“
Hilke Sander und Jens Carstensen traten ein und begrüßten die Anwesenden.
„Kommt Paul-Gerhard noch?“, fragte Hilke.
„Wieso das denn?“, fragte Katharina erstaunt. „Der fährt doch nicht mit und außerdem hat der, glaube ich, genug um die Ohren. In Ober- und Unterlübbe ist fast täglich irgendein Gemeindeevent, die Kinder fangen an, zu pubertieren und seine Frau ist ziemlich anstrengend.“
„Anstrengend für dich oder für ihn?“, fragte Jens
„Ich denke, sowohl als auch.“;antwortete Katharina. „Sie ist so eine moralinsaure Edelöko-Schnecke, bei der immer alle unbedingt alles richtig machen müssen. Sie hat Paul-Gerhard mal total zusammengefaltet, weil er seiner Tochter bei einem Ausflug nach Bielefeld gestattet hat, bei H&M einzukaufen. Signora Solms bestellt nur bei Hess Natur und kann auch überhaupt nicht verstehen, warum das nicht alle machen. Mit der gleichen lustfeindlichen Leidenschaft streitet sie auch für politische Gottesdienste, Waldkindergärten und gesunde Ernährung. Und Paul-Gerhard hat Magengeschwüre.“
„Willst du ihn übernehmen?“, fragte Kai-Uwe grinsend.
„Was übernehmen?“, fragte Katharina
„Na, Paul-Gerhard.“, antwortete Kai-Uwe. „Falls ihn seine Frau verlässt, oder er sie.“
Katharina beugte sich vor und sah Kai-Uwe fest in die Augen, als sie antwortete: „Kehrer, irgendwann tu ich dir noch mal was in den Kaffee.“
Als das allgemeine Gelächter sich gelegt hatte, schlug Hilke vor: „Wenn Paul-Gerhard nicht mehr kommt, sollten wir jetzt mal anfangen. Ich habe heute noch viel vor.“
„Ich auch.“, stöhnte Katharina und die Männer bekundeten mit eifrigem Nicken, dass sie ebenfalls von hoher Arbeitsbelastung betroffen waren.
Es ging um eine bevorstehende Mitarbeiter-Schulung des Kirchenkreises für Ehrenamtliche. In einem aktionsgeladenen Planspiel sollten die Mitarbeitenden erfahren, wie notwendig Zeitmanagement und Selbstorganisation sind und wie so etwas funktioniert. Diese Lerninhalte wurden in der Ausschreibung allerdings verschwiegen. „Good Game Empire – ein virtuelles Spiel zum Anfassen“; das Programm stand bereits, Anmeldungen lagen ausreichend vor, nun ging es nur noch um die letzten inhaltlichen Absprachen und organisatorischen Detailfragen. Nach 1 ½ Stunden war alles besprochen. Auf Kai-Uwes Schreibtisch lag das Lokalblatt. „Mordfall Volkmann – Polizei tappt immer noch im Dunkeln.“
Katharina erblickte die Schlagzeile und fragte Kai-Uwe. „Na, du bist doch häufig hier im Haus, vielleicht hast du ja das eine oder andere mitgekriegt.“
„Spielst du jetzt Miss Marple?“
„Klar. Bei meinen schlechten Aussichten auf eine erfüllte Partnerschaft muss ich mich schon mal auf die Ereignislosigkeit des Alters einrichten. Aber wenn ich als Seniorin Morde aufklären will, muss ich jetzt schon üben. Im Alter lernt man sowas nicht mehr.“, erklärte Katharina.
„Und wer wird Mister Stringer?“, fragte Kai-Uwe schelmisch.
„Du natürlich.“, antwortete Katharina. „Du mischt dich doch jetzt schon so beharrlich in mein Leben ein.“
Kai-Uwe blickte Katharina ernst und betroffen in die Augen, so als habe sie ihm gerade offenbart, dass sie schon seit langem unsterblich in ihn verliebt sei. Und jetzt musste er einen Weg finden, klar, ehrlich und gleichzeitig einfühlsam damit umzugehen. Katharina begriff, was in Kai-Uwes Kopf vorging und stöhnte auf. „Kehrer“, stieß sie hervor, „Mach dir bloß keinen Kopf! Ich steh' nicht auf zwanghafte Charakterneurotiker. Du bist mir zu akkurat und viel zu anstrengend. Ich werde dich ganz bestimmt niemals mit Liebesschwüren belästigen, zumindest nicht in diesem Leben.“
Kai-Uwe lächelte. „Meinst du nicht vielleicht, dass James Bond auch ein Zwangsneurotiker ist?“
„Welche Charakterneurose schreibst du ihm denn zu?“
„Er muss immer gewinnen.“
„Aber wollen wir das nicht alle?“
„Aber wie weit sind wir bereit, dafür zu gehen?“, fragte Kai-Uwe.
Katharina senkte den Kopf, blickte aus dieser Position mit irrem Ausdruck nach oben und sprach mit Reibeisenstimme: „ Zur Not rammen wir unserem Feind ein Messer in den Rücken und verstümmeln seine Genitalien.“ Sie räusperte sich und sagte: „Ich muss los. Mach's gut, Kehrer, armer Irrer.“
„Tschüss Kathi.“, antwortete der und sie verschwand Richtung Parkplatz.
Der Montag war kein schöner Tag. Heute traf sich der Vorbereitungskreis der sogenannten „Adonight“ in Hille. Der Begriff setzte sich zusammen aus den englischen Begriffen „to adore“, was „anbeten“ bedeutet und „night“; also Anbetungsnacht. Das es außerdem phonetisch an den hebräischen Gottesnamen „Adonai“ erinnert, der so viel bedeutet wie „unser Höchster“, ist möglicherweise nicht dem Zufall geschuldet. Die „Adonight“ war ein monatlich stattfindender Spätgottesdienst mit haufenweise Lobpreisgesang, liturgischen Elementen und der obligatorischen Predigt. Die Kirche wurde in warmes Licht getaucht und das Team dachte dich jedes Mal andere Wohlfühlelemente aus, die den jugendlichen Besuchern Gottesnähe und Geborgenheit suggerieren sollten. Wegen der stimmungsaufhellenden Wirkung fand die Veranstaltung regen Zuspruch bei der Jugend und manchmal dachte Katharina darüber nach, ob sie sich nicht bei der Dorgenberatungsstelle bewerben sollte mit der Spezialisierung auf spirituelle Süchte. Sie musste diese Veranstaltungen mittragen, obwohl sie zutiefst ihrer Überzeugung widersprachen. „Was für eine Generation züchten wir damit heran?“, fragte sie sich. „Lauter Irre auf der Suche nach Dauererbauung. Und irgendwann laufen sie dann Amok. Vielleicht war ja auch so ein Lobpreis-verseuchter Jugendlicher Volkmanns Killer. Volkmann hatte mit seiner nüchternen Theologie die erweckungsbewegten Umtriebe in seinem Kirchenkreis eher ignoriert als gefördert. Wenn in den USA durchgeknallte Evangelikale Gynäkologen erschossen, weil diese Schwangerschaftsabbrüche vornahmen, warum sollte dann nicht auch ein pickliger, ostwestfälischer Teenager mit Religionspsychose einen biblisch begründeten Rachemord am vermeintlichen Feind der geliebten Kinder Gottes begehen?
Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als sie auf einer entfernt liegenden Ecke des Parkplatzes Paul-Gerhard Solms aus dem Wagen steigen sah. Entweder hatte er sie noch nicht erblickt oder er ignorierte sie. Er wirkte fahrig und zerstreut, die angegrauten Haare standen wild vom Kopf ab, der Blick war unstet und gedankenverloren. Er schloss den Wagen ab, machte einen Schritt, hielt abrupt inne, drehte sich um, öffnete den Wagen wieder, kramte auf dem Beifahrersitz herum, steckte etwas in seine Tasche, schloss wieder ab und ging im Stechschritt auf das Kreiskirchenamt zu, ohne Katharina auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Du stehst ja mal wieder mächtig unter Druck.“, murmelte sie und schloss den Wagen auf.
Sie genoss die Heimfahrt, sobald sie die verkehrsreichen Stadtgebiete hinter sich gelassen hatte. Die lange Straße durch Holzhausen wand sich in sanften Kurven abwechselnd durch offene Wiesen und frei stehende Häuser, darunter viele Höfe mit prachtvollen, alten Baumbeständen, Pferdekoppeln oder frei laufenden Hühnern, aber auch schäbige kleine Industrieruinen und einfallslose Zweckneubauten. Man konnte ruhig bei Tempo 60 dahingleiten und nur selten bewegte sich etwas.
Als sie das wunderschöne Holzhauser Pfarrhaus aus roten Ziegeln inmitten eines großflächigen Gartens passiert hatte, fuhr sie noch einmal durch das offene Feld, um schließlich in Nordhemmern anzukommen. An der einzigen Stopp-Kreuzung des Dorfes hatte sich einmal so etwas wie ein Ortskern befunden, dort stand das alte Schulgebäude, das mittlerweile von Angehörigen der Land-Öko-Szene bewohnt wurde und eine üppig begrünte Augenweide darstellte, was aber von der Mehrheit der Dorfbewohner gänzlich anders beurteilt wurde: man bevorzugte Verbundpflaster, Waschbeton, in Form geschnittene Hecken, englischen Rasen, Blumenrabatten mit schwarzer Erde und handelsüblichen Saisonpflanzen und rechte Winkel, rechte Winkel, rechte Winkel.
Gegenüber der alten Schule hatte es einmal einen Lebensmittel-Laden und eine Kneipe gegeben. Nichts war davon übrig als eine durch stetigen Pächterwechsel mehr und mehr verbaute, unattraktive Immobilie. Früher hatte es an der Dorfstraße einen zweiten Bäcker und Lebensmittel-Laden gegeben, einen Fleischer, eine Wäscherei, einen Gasthof mit Saal und Fremdenzimmern, eine Postfiliale und eine Sparkasse. Fußläufig erreichbar war da noch ein Lebensmittelgeschäft, noch eine Sparkasse, zwei Auto- und Fahrradwerkstätten inklusive Tankstelle, ein Bekleidungsgeschäft und ein Gardinengeschäft. Es gab zwei weitere Kneipen im Dorf und weiter entfernt noch eine Bäckerei, die tatsächlich noch existierte. Das war alles, was vom Einzelhandel übrig geblieben war, wie in den meisten Dörfern dieser Art.
Etwa 150 Meter von der Schule entfernt stand auf einem kleinen Hügel, dem ehemaligen Friedhof, die historische Kapelle: klein, weiß und in ihrer bescheidenen Schlichtheit wunderschön. Nun dauerte es nur noch eine Minute und Katharina war zu Hause. Drinnen warteten auf dem Schreibtisch jede Menge unerledigter Arbeitsaufträge: Die Abrechnung der letzten Adonight, die bis heute Abend fertig sein musste, Vorbereitung der Jungschar und des Jugendkreises in Rothenuffeln am Dienstag, etliche Telefonate, E-Mails und sie musste noch ein Protokoll schreiben, das sie schon seit zehn Tagen vor sich her schob.
Als sie ihr Arbeitszimmer betrat, war ihre Motivation vollends im Keller. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere, die bearbeitet, sortiert oder entsorgt werden mussten. Sie kam einfach nicht hinterher. „Kathi, lerne Prioritäten setzen!“, sagte sie sich und verzog sich mit den Unterlagen für die dringend zu erledigende Abrechnung an den freundlicheren Platz am Küchentisch. Sie kochte sich einen Tee und stellte ein paar Kekse dazu, dann erledigte sie das ungeliebte Verwaltungspensum und steckte das Ergebnis fein säuberlich in die Tasche. Die inhaltliche Arbeit, die ihr Spaß machte und leicht von der Hand ging, sparte sie sich als Bonbon auf; zuerst erledigte sie unangenehme Telefongespräche und bearbeitete ihr E-Mail-Fach.
Schließlich blieben ihr noch zwei-ein-halb Stunden für die geliebte kreative Seite ihres Jobs, ein Abendessen und etwas Körperpflege, bevor sie zu den Religionspsychotikern aufbrechen musste. Das Leben war ein Hamsterrad: Je mehr man sich anstrengte, umso mehr wurde von einem verlangt. Bei dem, der es nicht schaffte, sein Arbeitspensum auf einem exakt kontinuierlichen Niveau zu halten, schaukelte sich Anspruch und erbrachte Leistung immer mehr auf, bis man schließlich die Reißleine zog oder kollabierte.
Das Essen erledigte Katharina nebenbei, bei der Körperpflege beschränkte sie sich auf Haare bürsten und Hände waschen, dann brach sie auf ins düstere Hille.
Das Gemeindehaus war bereits hell erleuchtet, als sie auf den Parkplatz einbog. „Diese superpünktlichen Ordnungsbürger!“, brummelte sie übellaunig vor sich hin. Sie musste sich sehr konzentrieren, um bis zum Betreten des Gemeindehauses ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Wenn man ihr ihre Antipathie anmerkte, war das hochgradig unprofessionell. Außerdem war ihre innere Schimpftirade ungerechtfertigt. Hille war eine vielfältige, lebendige Gemeinde und es waren noch andere Gruppen im Haus als der Vorbereitungskreis; natürlich wollte niemand im Dunkeln sitzen. Allerdings saßen schon alle in fröhlicher Runde beisammen, als sie den Mitarbeiterraum betrat. Ulrich Niemann, ein altgedienter Bilderbuch-CVJMer stellte die Thermoskannen mit Früchtetee auf den Tisch. Sein blitzsauberes, kariertes Hemd hatte am Ärmel eine scharfe Bügelfalte und auch sonst sah er immer so aus, als käme er gerade aus der Badewanne, in der er sich gründlich geschrubbt hatte. Er war gut darin, die Logistik einer Veranstaltung zu organisieren und gab außerdem acht, dass die jungen Leute theologisch nicht auf die schiefe Bahn gerieten. Für Katharina war er die ultimative Spaßbremse und auch alle unkonventionellen Vorstöße bremste er aus. Allerdings saßen in der illustren Runde schon ausreichend Nachfolge-Ullis, die darauf brannten, seinen Platz einzunehmen, so dass es keinen Zweck gehabt hätte, ihm das gleiche Schicksal zu bescheren wie dem Superintendenten.
Als alle kalten oder warmen, aber zumindest feuchten Hände geschüttelt waren, legte Katharina ihre Jacke ab und setzte sich, Die dicke Antje las die Tageslosung und dann wurde Katharina gefragt, ob die Abrechnung der letzten Adonight schon fertig sei. Zufrieden mit sich selbst zog Katharina die Ausdrucke aus der Tasche und legte sie den Anwesenden vor. Der Tagesordnungspunkt war schnell erledigt und die inhaltliche Vorbereitung begann. Es hatte bereits drei Treffen gegeben und die Veranstaltung stand am kommenden Samstag an. Normalerweise wurden Externe mit der Predigt beauftragt, aber diesmal war man an Katharina heran getreten. Bisher hatte sie sich mit klugen Argumenten immer erfolgreich davor drücken können, aber jetzt war sie dran. Sie hatte an sich durchaus Lust, sich mit einem Thema und einem dazu passenden biblischen Text intensiv auseinanderzusetzen. Sie konnte ihre Gedanken strukturiert und sprachlich ausgefeilt wiedergeben und besaß auch eine gesunde Portion Eitelkeit, die ihr Lust machte, die Ergebnisse einer breiten Zuhörerschaft zu präsentieren. Aber das Planungsteam der Adonight lebte in einer theologisch äußerst begrenzten Welt. Wenn sie etwas Ehrliches verfasste, würde bei ihnen bei jedem zweiten Satz die Schnappatmung einsetzen. Über duckmäuserische, anbiedernde, sich zu gar nichts bekennenden Allerweltspredigten, die altbekannte Elemente einfach neu zusammensetzen regte sie sich oft genug viel zu sehr auf, als dass sie einen solchen Kompromiss abliefern könnte. Und eine evangelikale Jesus-Lobhudelei zu verfassen, war gegen ihre Natur. Sie musste heute Abend herausfinden, welche von den Gedanken, die dem Vorbereitungsteam wichtig waren, sie problemlos unterschreiben konnte und diese zu den Säulen ihrer Predigt verarbeiten.
„Unser Bürgerrecht ist im Himmel“ lautete die Überschrift des Gottesdienstes, ein Satz aus dem Brief des Paulus an die Philipper.
„ich finde ja, in diesem Satz steckt ganz viel.“, lispelte die dicke Antje und sagte dann erst einmal gar nichts mehr. Katharina hätte sie am liebsten geschüttelt, fragte sie aber statt dessen: „Was denn zum Beispiel?“ und es gelang ihr nur unzureichend, den ironischen Ton in ihrer Frage zu unterlassen. Antje stand gedanklich noch im Leerlauf und musste erst einmal den ersten Gang einlegen. Dazu wechselte sie die Sitzhaltung und begann, vorsichtig zu formulieren: „Wir bestehen ja oft auf unserem Recht.“ - Pause - „Ich meine sowohl im Kleinen als auch im Großen.“ Sie legte erneut eine Pause ein und setzte sich noch einmal zurecht.
„Aha“, dachte Katharina, „zweiter Gang. Sie kommt langsam in Fahrt.“
Antje begann nun wieder zu sprechen und legte dabei kontinuierlich an Tempo zu: „Natürlich bestehen wir auf unserem Recht auf körperliche – äh – also dass man nicht verletzt wird und auf unser Recht auf Eigentum, also die großen Themen, aber eben auch auf Bedienung, wenn wir an der Kuchentheke als nächste dran sind. Immer fordern wir unser Recht ein, als wenn uns das irgend etwas nützen würde, dabei ist Jesus der Einzige, der uns etwas nützt. Wenn wir ihm folgen, dann haben wir Anspruch auf einen Platz im Himmel und das ist doch am Ende das Einzige, was zählt.“
Katharina schrie innerlich auf, machte sich aber gewissenhaft Notizen.
„Also, man muss den Text aber auch in seinem Zusammenhang lesen.“, erklärte Ulrich so souverän wie jedes Mal. „Ich finde, man muss direkt zu Beginn des dritten Kapitels anfangen und dann ganz bis zum Ende lesen, sonst versteht man das ja nicht. Die erste Überschrift lautet ja 'Warnung vor Rückfall in die Gesetzesgerechtigkeit' und da beschreibt Paulus ja, wie er sich als rechtschaffener Bürger immer streng an das Gesetz gehalten hat und sich dabei trotzdem gegen Jesus versündigt hat. Im zweiten Teil unter der Überschrift 'das Ziel' sagt er, dass er das alles hinter sich lassen will. Er sagt, dass alles Irdische unwichtig und verderbt ist, dass man sich darum mit den ausschließlich irdisch Gesinnten nicht einlassen soll und dass am Ende nur das Ziel zählt, ein Leben im Einklang mit Jesus gelebt zu haben.“
Katharina machte sich weiterhin eifrig Notizen, um sich selbst zu bremsen. Sie hasste diese paulinische Leib- und Lustfeindlichkeit und dieses Sich-Abgrenzen von den nicht so religiösen Leuten. Sie empfand das als menschenverachtend und unchristlich. Doch ein paar gute Gedanken – auf die sie wahrscheinlich auch selbst gekommen wäre – würde sie in ihrer Predigt verwerten können. Sie würde ihnen mal gehörig den Kopf waschen, man würde sie schon nicht vom Lesepult weg jagen.
„Ich werde es kurz machen.“, sagte sie schließlich. „Wir können ruhig ein zwei Lieder mehr singen oder noch eine Aktion einbauen. Ich finde die obligatorischen zwanzig Minuten selbst immer zu lang, da fange ich nicht an und texte die Gemeinde genauso lange zu.“
„Was für eine Aktion denn?“, fragte Sören verständnislos.
„Man könnte doch zum Einstieg zwei Stellwände in die Kirche stellen. Auf denen stehen Bürgerrechte und Menschenrechte. Jeder Gottesdienstbesucher bekommt zwei mal drei Klebepunkte und wählt die drei Bürgerrechte und die drei Menschenrechte aus, die er am wichtigsten findet. Dann haben sich alle schon einmal mit der Thematik auseinandergesetzt und es passt auch zur Überschrift des Gottesdienstes.“
„Die Idee finde ich eigentlich gut.“, sagte Bettina. „Aber ist das für eine Adonight nicht ein bisschen zu sachlich?“
„Du kannst ja ein paar Bilder von glücklichen Menschen daneben hängen oder visionäre Gemälde vom himmlischen Jerusalem. Dann sind die Besucher auch emotional angesprochen.“, frotzelte Katharina.
Bettina schwieg beleidigt.
„Ich finde das mit den Stellwänden gut.“, erklärte Ulrich. „Ein bisschen Nachdenken zur Einstimmung hat noch keinem geschadet. Wer kümmert sich darum?“
Verantwortliche waren schnell gefunden. Wenn es darum ging, die Ärmel hoch zu krempeln, waren die Hiller verlässliche Partner und Katharina gab im Stillen zu, dass sie diese Qualität viel zu wenig schätzte. Darum bedankte sie sich am Ende des Abends auch für die konstruktive Zusammenarbeit und half beim Aufräumen bis der Letzte das Licht löschte. Anstrengende Tage lagen vor ihr, aber sie würde es schon schaffen.
In der Nacht träumte sie von einem Mann mit einem Messer, das blutverschmiert in seiner zitternden Hand steckte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie erkannte ihn trotzdem. Seine grauen Haare standen wild vom Kopf ab. Er wirkte fahrig und zerstreut. Doch als sie erwachte, fiel ihr nicht mehr ein, wen sie da erkannt hatte.