Читать книгу Warum ich mich nicht als schwul bezeichne - Daniel C. Mattson - Страница 14
Christopher Street
ОглавлениеEs geschah in den frühen Morgenstunden des 28. Juni. Eine andere Art von Geburtswehen setzte bei der Bewegung Christopher Street ein, fünfhundert Meilen östlich von dem Haus, in dem ich empfangen wurde. Mitten in Greenwich Village, einem Stadtteil von New York, ist in einer Bar namens Stonewall Inn die Schwulenbewegung entstanden.
Polizisten machten eine Razzia im Stonewall Inn, einer Bar, in der der Pöbel verkehrte und die auf die homosexuelle Gemeinschaft ausgerichtet war. Dies war einer der wenigen Plätze, wo sie sich relativ friedlich versammeln konnten. Zumindest so lange, bis die Polizei kam. Die Sittenpolizei wurde in den 1960er-Jahren in New York City gebildet, um die noch rechtskräftigen »Anti-Sodomie-Gesetze« durchzusetzen. Zu ihren häufigen Zielen gehörten Bars wie Stonewall Inn. Bis 1966 wurden jede Woche mehr als hundert Leute durch verdeckte Operationen, bei denen oft Lockvögel eingesetzt waren, durch die sie überführt wurden, verhaftet. In einem Dokumentarfilm über den Stone-wall-Aufstand schrieb Professor William Eskridge von der juristischen Fakultät von Yale: »Es war ein Albtraum für die Lesben und Schwulen, gefangen genommen und mit Gewalt festgehalten zu werden, aber es war auch ein Albtraum für jene Lesben und Schwulen, die sich verstecken mussten. Diese Situation schuf ein enormes Potenzial an Zorn und Wut bei den Lesben und Schwulen in New York. Schließlich musste es zur Explosion kommen.«1 Der »Dampfkochtopf« explodierte in jener Nacht im Juni 1969, als die Besucher es leid waren und sich zum ersten Mal der Verhaftung widersetzten und den Spieß umdrehten. Die Polizei war in der Bar Stonewall Inn eingeschlossen und draußen vor dem Lokal befanden sich die wütenden Demonstranten.
Die Nachricht von dieser Gegenwehr verbreitete sich rasch und in den nächsten Nächten eskalierten Gewalt und Widerstand. Die Männer und Frauen der Christopher Street waren wütend und forderten mehr als nur Akzeptanz. Sie forderten eine Revolution.
Drei Jahre nach dem Aufstand schrieb John Murphy in seinem Buch Homosexual Liberation:
»Viele Leute sind unglücklich über diese Art der Unterdrückung. Sie möchten etwas Neues und sie sind entschlossen, es durchzusetzen. Sie stellen eine potenziell gewaltige revolutionäre Kraft dar. Denn wir – und jetzt zähle ich mich zu diesen Männern und Frauen – sind nicht nur daran interessiert, akzeptiert zu werden. Wir benötigen keine neue Bürokratie, damit eine Regierung zugänglicher für unsere ›Bedürfnisse‹ wird. Auch werden wir uns nicht mit neuen politischen Gebilden, die im Namen einer sozialen Revolution geschaffen werden, zufriedengeben, wenn diese die gleiche Art der Unterdrückung vertreten. Wir beabsichtigen, die grundsätzliche Einstellung in Bezug auf die Sexualität umzustrukturieren, ebenfalls die Bedeutung des Einzelnen und die Funktion der Familie. Wir versuchen, einen totalen Systemwandel herbeizuführen.«2
Walter Cronkite sagte, indem er sich an Apollo 11 erinnerte: »Alles, was sonst noch in diesen Tagen geschah, wurde zu einer Nebensächlichkeit in den Geschichtsbüchern.«3 Aber Cronkite hat sich geirrt. Der Stonewall-Aufstand und das Aufkommen der Schwulenbewegung sind die beiden Dinge, an die man sich in Verbindung mit dem Sommer 1969 erinnert. Alles andere wird in den Geschichtsbüchern von untergeordneter Bedeutung sein, denn dies ist das Jahr, in welchem der Mensch zu vergessen begann, wer er ist. Der Stonewall-Aufstand beschleunigte die Entwicklung »der Umstrukturierung der Grundeinstellung zur menschlichen Sexualität, zur Bedeutung des Individuums und zur Funktion der Familie drastisch«.
Am 26. Juni 2015, an dem Tag, an dem der Oberste Gerichtshof der USA in der Sache Obergefell/Hodges die gleichgeschlechtliche »Ehe« für alle 50 Staaten legalisierte, schrieb der Schwulenaktivist und Blogger Andrew Sullivan im Blick auf die Revolution kurz und bündig: »Wir haben es geschafft.«4
So war die totale Revolution, welche die Schwulenbewegung gefordert hatte, endlich gelungen. Die Welt wurde nicht so sehr dadurch verändert, dass Neil Armstrong den Mond betreten hatte. Dass Neil Armstrong auf dem Mond gelandet war, ähnelt nur einer »Fußnote« im Vergleich zu dem, wie Stonewall die Welt veränderte. Die Schwulenbewegung hatte ihr Ziel erreicht: Zwei Männer können nun »heiraten« – der Oberste Gerichtshof hat sein Urteil gefällt. Die Homosexualität ist angeblich so natürlich für die Menschheit wie die Ehe zwischen Mann und Frau. Die Revolution hatte ihr Ziel erreicht. Ein Mann mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung, wie ich einer bin, sollte nun Anlass zum Feiern haben. Aber ich tat es nicht.
Mein Leben war hin- und hergerissen zwischen zwei Polen – zwei Menschenbildern, zwei Visionen von Glück und Freiheit –, zwischen zwei konkurrierenden Weltanschauungen. Eine Seite glaubte, dass es eine absolute Moral auf der Welt gibt, dass es einen Gott gibt, der uns liebt, und dass die menschliche Sexualität ein großes Geschenk ist, das Freude und Erfüllung mit sich bringt. Diese Erfüllung stellt sich jedoch nur ein, wenn man die Realität akzeptiert, dass unsere einzige sexuelle Identität männlich oder weiblich ist und dass die Sexualität, um wirklich zufriedenstellend und erfüllend zu sein, vernünftig eingesetzt werden muss gemäß dem ihr innewohnenden Plan, offen für die kostbare Gabe des neuen menschlichen Lebens zu sein. Die andere Seite wurde durch die sexuelle Revolution beeinflusst, warb für Empfängnisverhütung, freie Liebe und die Schwulenbewegung, schuf die Gender-Ideologie, welche eine Botschaft der Befreiung von den vermeintlich veralteten Begriffen »männlich« und »weiblich« verkündete. Sie behauptete, dass Gefühle und sexuelle Neigungen verlässlichere Indikatoren für die Echtheit unserer sexuellen Identität seien als die Gestalt des menschlichen Körpers. Es ist eine Ideologie, die absolute Moralvorstellungen ablehnt. Diese Moral basiert auf beidseitiger Übereinstimmung, welche Sex in erster Linie als ein Mittel zur Lusterfüllung betrachtet. Es ist eine Ideologie, die die Schwangerschaft als eine unerwünschte Nebenwirkung der Sexualität sieht, welche normalerweise zu vermeiden ist. Kinder sollen nach dieser Ideologie das Leben eines Paares bereichern, sind jedoch nur eine Randerscheinung der menschlichen Sexualität und werden üblicherweise als Hindernis für das menschliche Glück wahrgenommen, außer wenn die Eltern der Meinung sind, dass das Kind zu ihrem Leben und ihrer Idee vom Glücklichsein etwas Sinnvolles beitragen könnte.
Ich bin in meinem Leben durch beide Lager gewandert, immer auf der Suche nach dem Glück. Zwischen diesen beiden Sichtweisen von Erfüllung und Glück habe ich gelebt – die eine wurde durch die Liebe meiner Eltern repräsentiert, welche zu einem Fleisch wurden und mir das Leben schenkten, die andere Sichtweise war die Ideologie der Schwulenbewegung.
Als ich schreiend geboren wurde mit dem Wunsch, glücklich zu werden, war mir dies noch nicht bekannt. Dieser Wunsch hat jedoch alle von mir getroffenen Entscheidungen geprägt.