Читать книгу Warum ich mich nicht als schwul bezeichne - Daniel C. Mattson - Страница 18
Der verwünschte Sportunterricht
ОглавлениеDer Sportunterricht war die Hölle. Es ging nicht nur darum, Sport zu treiben, obwohl auch das eine Qual für mich war. Ein Einsatz in der unteren Liga hatte sich bereits in der dritten Klasse zu einem Albtraum in der oberen Liga entwickelt: Das Schimpfen und die Wichtigtuerei der brüllenden Väter, die uns Jungs zuriefen, endlich aufzuhören, den Schläger wie ein Mädchen zu halten, brachte mich dazu, organisierten Sport sowie den damit verbundenen Ausdruck von Männlichkeit zu hassen.
Es war jedoch nicht meine Abneigung gegenüber Sport im Allgemeinen, die mich dazu brachte, den Sportunterricht zu hassen. Der wahre Schrecken des Sportunterrichts war die Nacktheit.
Ich nehme an, ich war an diesem ersten Tag des Sportunterrichts genauso nervös wie der Rest der Jungs in der Mittelstufe. Wir hatten unsere Klassenkameraden noch nie nackt gesehen und niemand wusste wirklich, wie man damit umgehen sollte. Die einzigen nackten Körper, die ich gesehen hatte, waren mein eigener und der von Joey, als wir hinten in der Scheune zusammen waren. Allerdings hatten wir damit schon einige Jahre vor der Mittelstufe aufgehört, und zwar bevor wir in die Pubertät kamen. Meine Klassenkameraden und ich waren nun kurz davor, Männer zu werden. Aber sobald wir uns auszogen, wurde klar, dass einige der Jungs bereits Männer waren und dass ich nicht dazugehörte.
Scham. Alles, was ich in der Umkleide fühlte, war Scham. Jeden einzelnen Tag. Und Angst, weil am nächsten Tag alles wieder von Neuem begann. Wir waren gezwungen zu duschen. Ich versteckte meinen Körper, so gut ich konnte, unter meinem Handtuch, schlich zur Dusche und hoffte, einen Duschplatz an der Wand zu bekommen, da ich sonst gezwungen war, mich in der Mitte des Raumes zu duschen. Dort waren an einer Säule rundum Duschköpfe angebracht, sodass man gezwungen war, in der Mitte im Kreis um die Säule zu duschen, direkt gegenüber den anderen Jungs an der Wand. Ich wollte nicht, dass sie mich sehen konnten.
Diejenigen, die schon Männer waren, wussten es sehr wohl. Einer meiner Klassenkameraden stand manchmal auf der Bank, um sich abzutrocknen. Es sah aus, als ob er auf einem Podest stünde, um seinen Körper zu zeigen – seine Brustmuskeln, die sich klar definiert abzeichneten, sowie seine abgerundeten Schultern, die in seine beiden Bizepse übergingen. Wenn es möglich war, sah ich ihn verstohlen an. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, so zu sein, wie er es war. Wenn er ging, sahen die Muskeln in seinen Oberschenkeln und Waden wie Stahlseile unter seiner Haut aus. Wenn er sich abtrocknete, barst sein Körper vor Männlichkeit. Neben ihm und vielen anderen war ich nur ein Tollpatsch. Ich gehörte nicht zu ihnen. Ich war nicht wert, zu ihnen gezählt zu werden.
Scham. Das ist alles, was ich fühlte. Diese Männer, deren Männlichkeit sich gerade entfaltete und deren Brusthaare zu sprießen begannen, hatten das Recht zu prahlen – einige der Jungs aus der Mittelstufe hatten bereits begonnen, sich zu rasieren. Ich war traumatisiert durch das Zusammensein mit meinen nackten Klassenkameraden. Irgendwie fühlte ich mich wie eine jämmerliche Ausführung eines Mannes. Ich hatte keine Brusthaare, keine Hoffnung auf einen Bart und unter der Gürtellinie war ich noch wie ein Junge. Ich war in jeder Hinsicht ein Spätzünder. In den zwei Jahren, in denen ich gezwungen war, am Sportunterricht teilzunehmen, war jede Stunden wie ein Spießrutenlauf. Ich dachte nur daran, wie ich das Duschen überstehen konnte. »Sie werden mich sehen und mich auslachen«, dachte ich.
Wer immer auf die Idee gekommen ist, pubertierende Jugendliche in dieser chaotischen und turbulenten Zeit ihrer Entwicklung durch ihre Nacktheit, mit der sie gegenseitig konfrontiert sind, in Verwirrung zu setzen, der sollte für eine lebenslange Therapie aufkommen müssen. Und zwar für jeden, der nach dem Sportunterricht gemeinsam mit den anderen duschen musste. Mein Leben wäre mit ein bisschen Körpergeruch viel besser verlaufen, wenn da nicht die Nasen meiner Schulkameraden gewesen wären.
Ich schämte mich wegen meines Körpers, als ich lernte, wie man masturbiert. Ich habe es privat im Bad selbst entdeckt. In jugendlicher Angst zerrte ich an mir und hoffte, dass das, was ich hatte, größer sein könnte, genauso groß wie bei einigen der anderen Jungs, die sich bereits zu Männern entwickelt hatten. Dann fühlte es sich plötzlich gut an.
Scham, Neid, Selbstverachtung, Zweifel – alles gegenwärtig im ersten Moment meines sexuellen Erwachens. Meine erste Erfahrung von echter sexueller Lust hatte ich, weil ich mich für meinen Körper schämte. Das ist nicht allzu schwer zu erklären. Dieser Selbstzweifel, diese Scham wegen meines Körpers – das war kein Felsbrocken, der in den Strom meiner sexuellen Entwicklung fiel. Die Nacktheit beim Sportunterricht beschädigte meine Psyche wie ein Erdbeben und hinterließ einen Riss in meiner Seele.
Viele Jahre später erinnerte ich mich an diese Schamgefühle. In einem Brief an meinen damaligen Therapeuten schrieb ich:
»Als junger Mann wünschte ich mir, mich rasieren zu können, aber ich war so weit hinter meinen Klassenkameraden zurück. Ich hatte keine Brusthaare, von denen ich sprechen konnte, und das war mir peinlich. Ich fühlte mich nicht wie ein Mann und war neidisch auf die Mitschüler, die sich jeden Tag rasieren mussten. Sie hatten das Recht anzugeben. Ich erinnere mich, dass ich während meiner High-School-Zeit einmal bei meinem Onkel John in Florida war … Einer seiner Schüler kam in den Ferien vorbei. Er trug einen Vollbart. Onkel John lachte und erzählte, dass die Schüler während der Ferien einen Bartwuchswettbewerb vereinbart hatten. Es traf mich innerlich, da ich wusste, dass ich mich fast überhaupt nicht rasieren musste. In Gegenwart dieses Jugendlichen, der für mich ein Mann war, fühlte ich mich wie ein kleiner Junge. Ich machte Musik und war noch ein Kind, und hier war dieser aufblühende Mann im gleichen Alter wie ich, ein Athlet, und zwar ein sehr guter. Er war Fußballspieler, gut aussehend, ein Mann mit ausgeprägten Gesichtszügen. Ich fand ihn wirklich attraktiv. Es ist eine Erinnerung, die sich fest in meinem Gehirn eingeprägt hat. Ich nehme an, ich wünschte, dass ich so ausgesehen hätte wie er oder wenigstens so ähnlich wie er.«
Ich fühlte mich wie ein Stier ohne Hörner und war nur noch damit beschäftigt herauszufinden, wie ich mich mehr als Mann fühlen könnte. Als ich aufs College ging, vergrub ich mich in der Bibliothek der Michigan State University. Ich glaubte, dort die Antwort auf meine Sorgen gefunden zu haben: Ich wollte eine Diagnose wegen »verzögerter Pubertät« gestellt bekommen mit einer Verschreibung von Testosteron-Injektionen.
Somit ging ich zum Gesundheitszentrum, um mich untersuchen zu lassen. Ich empfand es als qualvoll und beschämend, meine Sorgen dem Arzt mitzuteilen, aber ich war zum Äußersten entschlossen, um mich endlich wie ein Mann zu fühlen. Ich klammerte mich an die Testosteron-Injektionen, um damit all meine Probleme und Sorgen zu lösen. Obwohl der Arzt mir sagte, dass ich normal entwickelt und gesund sei, überredete ich ihn, mir eine Überweisung zu einem Endokrinologen auszuschreiben.
Einige Wochen später war ich bei einer Endokrinologin. Sie war wie ich der Ansicht, dass ich verlangsamt in die Pubertät gekommen sei. Aus diesem Grund veranlasste sie eine umfassende Blutuntersuchung. In der folgenden Woche vereinbarten wir einen Termin, um festzulegen, welche Behandlung notwendig sei.
Eine Woche später erklärte die Ärztin mir, dass Testosteron auf einer Tausend-Punkte-Skala gemessen würde. Der Normalbereich für Männer läge zwischen 300 und 1000 Punkten. Wenn mein Testosteronspiegel unter 300 Punkten läge, würde ich Injektionen bekommen. Ich drückte mir die Daumen und hoffte inständig, unter dem normalen Niveau zu liegen.
Mein Wert lag bei 333 Punkten. 333. Ich war also normal entwickelt. Aber ich war nur 33 Punkte vom Anormalen entfernt und fast 700 Punkte von der Spitze der Männlichkeit. Das war kein Trost für mich. Es war ein direkter Schlag ins Gesicht. Es bestätigte alles, was ich immer über mich selbst empfunden hatte. Wenn ich ein Mann war, dann nur ein dürftiger. Nur 33 Punkte entfernt. Das »Schwer-zu-Beschreibende« – ist im Grunde nicht so schwer zu erklären.
Ich beneidete andere Männer und hatte sexuelle Fantasien von Männern, die so waren, wie ich gerne gewesen wäre. Dies ist eine häufige Erfahrung von Männern mit gleichgeschlechtlichen Neigungen. Ich wollte so sein, wie sie waren, und ich wollte haben, was sie hatten, einfach anders sein. Im College habe ich mich immer mit anderen Männern, denen ich begegnete, verglichen. In meinem Kopf zog ich immer den Kürzeren. »Wenn ich wie dieser Typ aussehen würde oder seinen Körper oder seine Muskeln hätte, wäre ich glücklich«, dachte ich. Nichts an mir war begehrenswert. Ich nahm es Gott übel, dass er mich so geschaffen hatte, wie ich war.
Heute weiß ich, dass tief in meinem Schmerz Stolz und Rebellion gegen Gott verborgen waren. Ihm warf ich vor, mich so gemacht zu haben. Aber ich muss behutsam gegenüber mir selbst sein. Ich war ein verletzter junger Mann, der verwirrt war und nicht wusste, an wen er sich wenden konnte, um Hilfe zu bekommen.
Damals war mir nur eines bewusst: dass ich mich hasste, so wie Gott mich geschaffen hatte. Ich linderte den Schmerz durch den Konsum von Pornografie. Ich sehnte mich leidenschaftlich nach Männern, die so waren, wie ich sein wollte. Keiner von ihnen sah aus wie ich – alle sahen anders aus.
Ich war im College nun genau an dem Punkt angekommen, an dem ich zum ersten Mal daran dachte, dass ich vielleicht homosexuell war. Aber damals in der Pubertät, zu Beginn meiner gleichgeschlechtlichen Neigung, wusste ich nicht einmal, was »homosexuell« bedeutete.