Читать книгу Warum ich mich nicht als schwul bezeichne - Daniel C. Mattson - Страница 15
Die Schule »Unbeflecktes Herz Mariens«
ОглавлениеAlles, was ich mir wünschte, war, seine Brust zu berühren.
Von Anfang an konnte ich meine Augen nicht von ihm wenden. Er trug ein Fußball-Trikot der Pittsburgh Steelers, ein perforiertes Trikot, das als eine Art Hemd über einem T-Shirt als Teil einer Mannschaftsbekleidung getragen wird. Er trug jedoch kein T-Shirt, sondern nur das Trikot. Nie zuvor hatte ich ein Trikot gesehen, durch das man durchsehen konnte. Es faszinierte mich, ihn zu beobachten, und an jenem Tag wurde ich ganz verrückt danach, eine Gelegenheit zu bekommen, seine Brust zu berühren.
Ich war sechs Jahre alt, so alt wie er. Wir waren in der ersten Klasse der Schule »Unbeflecktes Herz Mariens« in der South Cedar Street in Lansing, Michigan, nicht weit entfernt von den Hochöfen, welche die nahe gelegenen Oldsmobile-Werke mit Stahl für ihre Autos belieferten. Unser Schulhof fühlte sich genauso industriell und auf Autos ausgerichtet an wie die Gemeinde um uns herum. Wir spielten auf dem Asphalt und rannten zwischen den Markierungslinien auf dem Parkplatz herum.
Der Junge mit dem Trikot war der beste Sportler in unserer ersten Klasse. Er beherrschte das Kickball-»Spielfeld«1 in der südöstlichen Ecke des Parkplatzes. Die meisten unserer Klasse nahmen an den Kickball-Spielen teil, und dieser Junge war normalerweise einer der Mannschaftskapitäne. Ich erinnere mich an ihn als etwas schroff, doch hatte er das Spiel mit den übrigen Jungs gut im Griff. Ihre Späße waren für mich ein Rätsel. Ich fühlte mich damals als Außenseiter. Dieses Gefühl begleitete mich mein ganzes Leben lang, wenn ich gezwungen war, mich sportlich zu betätigen.
Wenn die Mannschaften zusammengestellt wurden, wurde ich erst nach einigen Mädchen aufgerufen. Es war beschämend, aber es geschah regelmäßig auf die gleiche Weise. Ich war bekannt als ein unsicherer Spieler. Im zarten Alter von sechs Jahren war mir bereits bewusst, dass ich in den Augen des Jungen, der die stärksten und schnellsten Kinder für seine Mannschaft auswählte, nicht viel wert war. Ich wurde mit einem unsichtbaren Maß gemessen und gewogen, um festzustellen, welchen Wert ich für die Mannschaft haben konnte. Ich stand mit leeren Händen da, weil ich nicht stark genug, nicht schnell genug oder zu wenig koordiniert war, um ausgewählt zu werden. Ich beneidete den Jungen im Steeler-Trikot, weil er so war, wie ich nicht war. Er war stark, schnell und hatte Selbstvertrauen: genau das Gegenteil von dem, was ich fühlte.
Wann immer sich die Gelegenheit ergab, spielte ich mit den Mädchen. Wir übten Seilspringen und sangen dabei alberne und doofe Lieder. Wir kicherten viel und mir gefiel das.
Ich war auch beim Seilspringen nicht sehr gut, aber den Mädchen schien es nichts auszumachen. Ich brachte sie zum Lachen, wenn ich nicht schnell genug sprang. Mein Springen war nicht sehr koordiniert, aber bei den Mädchen war es kein Problem für mich. Bei ihnen fühlte ich mich sicher, ganz im Gegensatz zu den Jungen.
Ich erinnere mich an einen Jungen der sechsten Klasse in meinem Bus, der mich oft hänselte. Einmal schaute er mich an und sagte: »Weißt du, du musst Wimperntusche verwenden. Bist du ein Mädchen oder so was?«
»Nein!«, sagte ich. »Ich weiß nicht einmal, was du meinst.«
»Also, du hast so lange Wimpern. Sie sind genauso wie bei einem Mädchen. Ich wette, dass deine Mutter Wimperntusche auf deine Wimpern gibt, oder? Schau in den Spiegel, wenn du heimkommst. Du könntest wirklich ein Mädchen sein mit solch langen Wimpern!« Es war schrecklich. Er sagte oft solche Dinge zu mir.
Ich wurde auch von den Jungen in der Klasse gehänselt. Der erste Tag, an dem ich nach dem Begräbnis meiner Großmutter wieder in die Schule kam, hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Die ganze Klasse hatte sich um unsere Lehrerin, Schwester Johnson, versammelt, die eine Geschichte erzählte. Sie wusste, weshalb ich in der Schule gefehlt hatte, und so erzählte sie den anderen Jungen und Mädchen vom Tod meiner Großmutter. Um mich zu trösten, bot sie mir an, mit überkreuzten Beinen, wie es bei uns üblich war, auf einem Stuhl zu sitzen anstatt auf dem Boden.
Als ich mich jedoch niedersetzen wollte, zog einer der Jungen den Stuhl unter mir weg und ich fiel auf den Boden und brach in Tränen aus.
Einige der Jungen kicherten, während Schwester Johnson sie hinter ihren blau getönten Brillengläsern wütend anblickte. Sie schimpfte mit ihnen und tröstete mich. Den anderen Mädchen tat es ebenfalls leid – also noch ein Grund mehr, den Jungen zu misstrauen und sich an die Mädchen zu halten.
In jenem Moment fühlte ich mich gefangen – ich hatte das Gefühl, dass ich ersticken müsste, und war total verwirrt. »Warum haben sie das gemacht?«, fragte ich mich. Aber in solchen Situationen ist es sinnlos, sich zu fragen, warum solche Dinge geschehen. Das Wichtigste war, mich im Leben so einzurichten, dass solche Dinge nicht mehr geschehen konnten. Ich lernte sehr schnell, dass ich bestehen konnte, wenn ich die Leute zum Lachen brachte.
Wenn ich beim Kickball dem Ball nachlief und ihn dann nicht traf, simulierte ich eine übertriebene Enttäuschung. Schließlich machte ich bereits Scherze, bevor ich daranging, den Ball zu schießen. »Also, hier bin ich wieder! Es wird wahrscheinlich auch dieses Mal nicht klappen, also Jungs, unterhaltet euch hier auf dem Feld nur weiter.« Und wenn ich den Ball nicht getroffen hatte, lachten alle, und ich lachte mit ihnen. Mir wurde klar, dass sie mich nicht auslachten, wenn ich zuerst über mich selbst lachte. Lachen wurde zu einer Maske, die ich mir aufsetzte, um zu bestehen. Herumzualbern war für mich der Weg, um durchzukommen.
Durch das Herumalbern fand ich eine Gelegenheit, seine Brust zu berühren. Nur daran konnte ich an diesem Tag denken. Es war jedoch nicht nur seine Brust. Ich konnte auch seine Muskeln durch das Netz seines Trikots genau erkennen. Wenn niemand zu mir hinsah, ließ ich meine eigenen Muskeln spielen. Dann schaute ich auf ihn. Ich fühlte mich klein. Seine Arme und seine Brust waren ganz anders als mein dicklicher Körper. Er war schlank. Er war stark. Ich wollte wissen, wie sich das anfühlte.
So alberte ich mit ihm herum und hänselte ihn, weil er kein T-Shirt anhatte. Vielleicht versuchte ich, seine Brustwarzen zu berühren, wie die anderen Jungen es miteinander taten, aber schließlich konnte ich meine beiden Hände auf seine Brust legen. Ein Schauer durchdrang mich, als ich seine Haut unter meinen Händen fühlte. Ich behielt meine Hände ein wenig zu lange dort, aber ich brachte ihn schnell zum Lachen. Es war nichts passiert.
»Er wird nicht denken, dass ich komisch bin, oder?«, fragte ich mich besorgt. Sein Lachen beruhigte mich jedoch und ich war mir sicher, dass ich meine Spuren verwischt hatte.
Ich wusste, dass es falsch und nicht normal war, dass ich seine Brust berühren wollte – sonst hätte ich es nicht geplant und mir Gedanken darüber gemacht, wie ich eine Gelegenheit finden könnte, es zu bewerkstelligen, ohne dass er auf den Gedanken käme, dass mit mir etwas nicht stimmte.
An diesem Tag war es nach meiner Erinnerung das erste Mal, dass ich mich zu einem anderen Jungen hingezogen fühlte. Ich würde nicht sagen, dass es sexuell motiviert war, aber es ist klar, dass der Keim, der zu meiner gleichgeschlechtlichen Neigung geführt hat, in meinem Leben bereits im Jahr 1976 vorhanden war.
Wenn ich an jenen Jungen aus der ersten Klasse denke und dies aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachte, dann würden viele Leute sagen, dass dies der Beweis dafür sei, dass ich schwul geboren wurde.
Aber ich sehe es ganz anders. Wir leben in einer Welt, die durch Ursache und Wirkung gelenkt wird. Alles hat eine Ursache. Sogar Dinge, die man schwer erklären kann, haben letztlich einen Grund.
Mein ganzes Leben lang wollte ich wissen, woher meine gleichgeschlechtliche Neigung kam. In meinem Fall war das angeblich schwer zu Begründende gar nicht so schwer zu erklären.
Meine Mutter wollte immer vier Töchter bekommen. Nach drei Söhnen dachten sowohl meine Mutter als auch mein Vater, dass es gut wäre, noch einen Versuch zu unternehmen, um diesen Wunsch erfüllt zu bekommen. Ich war jenes Baby, das sie sich gewünscht hatten, und als die Schwangerschaft ihren Verlauf nahm, planten sie alles für ein Mädchen.
Es war eine schwere Geburt. Nach drei Kaiserschnitten war die Gebärmutterwand meiner Mutter sehr dünn. Deshalb musste bei meiner Geburt ein weiterer Kaiserschnitt gemacht werden. Sie blutete sehr stark, aber bald erblickte ich das Licht der Welt und der Doktor rief aus: »Es ist ein Junge!«
Meine Eltern nahmen den Sohn, den Gott ihnen geschenkt hatte, gerne an. Aber wegen medizinischer Komplikationen konnte meine Mutter keine Kinder mehr bekommen. Ich war ihr letztes Kind. Ihr Traum von einer Tochter war ausgeträumt.
Aber meine Mutter dachte immer noch daran, was möglich gewesen wäre. An einem Samstagnachmittag im Sommer, als ich drei oder vier Jahre alt war, hatten meine Eltern meine Tante Annie und meinen Onkel Jim zu einer Grillparty eingeladen. Ihre beiden Söhne, Jimmy und Robby, kamen mit ihnen. Jimmy war ein Jahr älter als ich, Rob ein Jahr jünger.
Meine Mutter und Tante Annie zogen mich zu sich hin. Ich trug ein Stirnband, welches mein Haar von meinen Augen fernhielt.
»Du hast seine Haare so lang wachsen lassen, Janny!«, sagte meine Tante. »Möchtest du aus ihm einen Hippie machen?«
»Natürlich nicht! Aber er hat so schönes Haar, oder nicht?«, sagte meine Mutter, als sie mit ihren Fingern durch meine Haare strich. »Weißt du, mit diesem Haar könnte man einen hübschen Pferdeschwanz machen, meinst du nicht? Lass es uns ausprobieren. Nur um zu sehen, wie er aussehen würde, wenn er doch ein Mädchen geworden wäre.«
Als sie einige Gummibänder gefunden und mein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatten, waren sie ganz entzückt. Ich sah aus wie ein kleines Mädchen und stolzierte vor ihnen hin und her.
Meine Brüder sahen, was vor sich ging. Es gefiel ihnen nicht. »Mutter! Was machst du da? Er ist ein Junge, kein Mädchen!«
Meine Cousins schauten sich die Szene an und waren dabei etwas verwirrt. Sie waren viel zu jung, um zu verstehen, was hier vor sich ging. Ich erinnere mich an jenen Tag, einen der wenigen meiner Kindheit, an den ich mich genau erinnere. Ich weiß noch, dass ich die negative Aufmerksamkeit meiner Brüder nicht mochte. Es fühlte sich für mich irgendwie schlecht an, obwohl ich nicht wusste, warum. Ich war ja noch ziemlich jung. Sogar mein Onkel Jim erinnerte sich an diesen Tag, der so lange zurückliegt. Beim letzten Familientreffen sprach ich dieses Ereignis in seinem Beisein an und er erinnerte sich, dass er damals zu meiner Tante Annie gesagt hatte, dass sie so etwas bei einem ihrer Jungen nicht tun sollte. Er wusste, dass es falsch von einer Mutter war, einen Sohn so zu behandeln.
Wir leben in einer Welt, in der uns gesagt wird: »Schwul zu sein ist nur eine normale Variante der menschlichen Sexualität.« Im Gegensatz zu dem Bild, das uns über die Homosexualität vorgestellt wird, sehe ich eine klare Abfolge von Ereignissen in meinem Leben, die mich letzten Endes auf den Weg der gleichgeschlechtlichen Neigung geführt haben. Ich bin überzeugt, dass diese Art von Vorfällen, die das eigene Geschlecht infrage stellen, wie Hänseln, Schikanieren, Sich-schwächer-und-weniger-athletisch-Fühlen als andere Jungen zusammen mit vielen anderen Ereignissen in meinem Leben zu einer Brutstätte wurden, in der meine gleichgeschlechtliche Neigung wachsen und gedeihen konnte.
Eine Mutter, die ihrem Sohn willkürlich Zöpfe flicht, trägt nicht deshalb schon dazu bei, dass dieser Junge sich später mehr für Männer als für Frauen interessiert. Ein Junge, der beim Kickball den Anforderungen dieser Sportart nicht entspricht, wird nicht schon dadurch den Wunsch, Sex mit einem anderen Mann zu haben, verspüren. Natürlich waren dies nicht die einzigen Dinge, die sich ereigneten, als ich jung war. Da gab es noch etwas, was in der Scheune geschah.