Читать книгу Das Geheimnis der Väter - Daniel Eichenauer - Страница 12

Neele van Lenk, 1985

Оглавление

Das dunkelste Kapitel in Neeles Kindheit begann am Abend des 19. Oktober 1985. An jenem Abend konnte ihr Vater sich nicht einmal in Ruhe die Schuhe ausziehen, als er nach Hause kam, weil sie ihm so aufgeregt entgegenrannte.

«An der Straße durch den Wald!», japste sie. «Ein Auto am Baum! Total kaputt! Die Feuerwehr hat Pulver verstreut. Keiner mehr da. Nur noch das kaputte Auto.» Wild fuchtelte sie mit ihren Armen umher und sprang von einem Satz zum nächsten, sodass ihr Vater offensichtlich alle Mühe hatte, ihren Ausführungen zu folgen.

«Ich weiß, Kleines, ich bin auch daran vorbeigefahren», versuchte er sie zu beruhigen.

«Ja, aber …» Bevor Neele ihren Satz beenden konnte, klingelte es an der Tür.

«Erwartest du jemanden?», fragte Hilmar van Lenk seine Frau, die auf dem Sofa saß, ein Magazin las und Schlünz, den Hund, kraulte.

Sie schüttelte nur den Kopf.

«Herr van Lenk?», fragte eine blonde Endzwanzigerin, nachdem der Vater ihr und ihrem Begleiter die Tür geöffnet hatte. «Mein Name ist Wendlandt, Kripo Berlin. Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?»

«Eine Dame von der Kripo!», rief der Vater erstaunt seiner Frau zu.

«Was möchte die Dame denn?», fragte die Mutter zurück, nahm ihre Beine von der Fußablage und erwiderte den Gruß, bevor sie sich zu ihrer Tochter drehte. «Neele, geh hinauf in dein Zimmer!»

Neele beobachtete noch, wie ihre Mutter das Klatschmagazin zur Seite legte, verließ dann aber widerspruchslos den Raum. Sie wusste, dass eine Diskussion zwecklos war. Sie hatte bessere Wege entdeckt, ihre Ziele zu erreichen. Unbemerkt blieb sie auf dem oberen Treppenabsatz sitzen und lauschte. Von dort aus hatte sie einen guten Blick in den offenen Wohnraum. Polizei – das fand Neele sehr spannend!

Ihr Vater setzte sich mit der Kommissarin an den Esstisch. Die fremde Frau redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern legte ihm ein Polaroid vor. «Herr van Lenk, haben Sie dieses Fahrrad schon einmal gesehen?»

Er schaute genauer hin, offenbar war die Aufnahme von schlechter Qualität. «Ja, ja», rief er nach einer Weile aus, «das ist doch mein Rad! Gott, was ist denn damit passiert? Das ist ja vollkommen demoliert. Gestern erst sprachen wir noch darüber. Meine Frau hat es einem – wie soll ich sagen? – Bekannten, oder besser, dem Vater eines Schulfreundes meiner Tochter ausgeliehen.»

«Sie haben es verliehen? Wie heißt denn der Mann, dem Sie es gegeben haben?»

«Georg Chrumm, er wohnt hier gleich um die Ecke», antwortete nun Neeles Mutter. Sie war vom Sofa aufgestanden und näherte sich dem Tisch, an dem der Vater mit der Kommissarin saß. «Eigentlich wollte er es gestern Abend wieder zurückbringen, aber anscheinend hat er es noch nicht getan. Er wollte es am Zaun abstellen. Oder ermitteln Sie, weil das Rad gestohlen wurde? Wir haben doch noch gar keine Anzeige erstattet.» Sie sah ihren Mann an und zog einen Stuhl zurück, um sich zu setzen. «Hast du …»

«Nein, Frau van Lenk, ich bin nicht wegen eines Diebstahls hier», unterbrach sie die Kommissarin mit ernster Miene. Sie stand auf, ging zu ihrem Kollegen, der die ganze Zeit an der Tür gewartet hatte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der nickte und verließ das Haus. Die Kommissarin ging zurück an den Tisch, blieb hinter dem Vater stehen, sah auf ihn herab und fragte: «Herr van Lenk, wo waren Sie gestern Abend gegen 22.15 Uhr?»

Der Vater blinzelte irritiert und drehte sich zur Kommissarin. «Ich war mit meinem Hund spazieren. Wieso fragen Sie?»

«Im Regen?» Die Kommissarin setzte sich wieder. «War noch jemand dabei?»

«Nein, ich war alleine. Ich gehe gerne allein im Dunkeln spazieren. Und bei Regenwetter ist es besonders einsam, da kann ich meine Gedanken voll und ganz der Arbeit widmen. Ich bin Journalist, müssen Sie wissen.»

«Aha.» Sie nickte desinteressiert. «Wo lang?»

«Wie bitte?»

«Ihr Weg – wo führte der lang?»

«Ach so. Ich ging unter der Eisenbahnbrücke hindurch, dann in den Wald, an den Schienen entlang, unter der nächsten Unterführung hindurch auf die andere Seite der Gleise, schließlich auf die Straße und dann wieder über den Kanal zurück nach Hause. Warum ist das wichtig?» Es war deutlich zu spüren, dass Neeles Vater langsam ungeduldig wurde.

«Sie sind alleine im Dunkeln bei strömendem Regen durch den Wald gelaufen?» Die Polizistin runzelte die Stirn.

«Mein Mann geht diese Strecke jeden Abend um die gleiche Zeit. Nach dem Ende des Abendspielfilms macht er für gewöhnlich die letzte Runde mit dem Hund», kam ihm die Mutter zur Hilfe. «Hören Sie, was soll das eigentlich?» Jetzt wurde auch sie ungeduldig.

«Herr van Lenk, es gab gestern Abend gegen 22.15 Uhr einen schweren Unfall auf der Straße kurz vor der Brücke über den Teltowkanal. Ein Autofahrer wollte offenbar einer Person ausweichen, die ein Fahrrad schob und gerade aus dem Wald kam. Die wechselte nämlich plötzlich, ohne nach links und rechts zu schauen, auf die andere Straßenseite. Bei dem Ausweichmanöver fuhr der Autofahrer gegen einen Baum und war sofort tot. Die Person, die das Fahrrad mit sich geführt hat, ist flüchtig. Ein Passant hat den Unfall beobachtet und sofort die Polizei verständigt.»

Hilmar van Lenk unterbrach sie. «Ich habe das Autowrack heute gesehen. Aber warum erzählen Sie mir das alles?»

«Das Fahrrad, das über die Straße geschoben wurde, ist Ihres, Herr van Lenk», sagte die Kommissarin schneidend. «Sie haben es gerade identifiziert.»

Neeles Vater ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Nach einem kurzen Moment legte er einen Zeigefinger an die Lippen und fragte: «Wollen Sie damit sagen, ich hätte einen Unfall verursacht und wäre dann abgehauen? Das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst! Ich habe doch eben erklärt, dass ich mit dem Hund unterwegs war und mein Fahrrad verliehen hatte. Jemand müsste mich dort gesehen haben. Denn irgendeine Person lief auf der anderen Straßenseite.»

«Das stimmt – das war der, der die Polizei rief. Der Mann hat aber auch ausgesagt, dass Sie einen Gegenstand mit sich führten, der Ihnen bis über die Hüfte reichte. ­Genaueres konnte er aufgrund der Dunkelheit und des Regens nicht erkennen, da er zu weit von Ihnen entfernt war. Und nun erzählen Sie mir, dass Sie Ihr Fahrrad an einen entfernten Bekannten verliehen hätten, den Sie anscheinend noch nicht einmal sonderlich mögen, der es aber nach seiner Fahrradtour vor Ihrem Grundstück abgestellt haben soll, ohne es anzuschließen. Der große Unbekannte soll es dann geklaut haben. Und Sie? Sie gehen zufällig zur selben Zeit alleine bei einem Wetter, bei dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür jagt, mit Ihrem Hund im Wald spazieren.» Sie holte Luft. «Wollen Sie mir das ernsthaft weismachen?», fragte sie schließlich und sah ihn herausfordernd an. «Es geht hier um ein Tötungsdelikt, wenn dieses auch – soviel wir bis jetzt wissen – nur fahrlässig begangen wurde, in Tatmehrheit mit Unfallflucht.»

Neeles Mutter schüttelte empört den Kopf. «So ein Unsinn! Mein Mann würde so etwas nie tun!»

«Herr van Lenk, Sie sind bereits wegen Unfallflucht vorbestraft. Damals versuchten Sie, sich der Verurteilung wegen fahrlässiger Köperverletzung zu entziehen. Und jetzt das!», sagte die Kommissarin provozierend.

«Das ist doch schon ewig her und hat rein gar nichts hiermit zu tun! Ich habe damals nicht bemerkt …»

Er wollte sich erklären, doch Helena van Lenk hatte genug. Sie schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. «Was erlauben Sie sich? Verlassen Sie sofort unser Haus!» Sie war außer sich.

Da klingelte es an der Tür. Der zweite Polizist stand davor.

«Haben Sie auch noch etwas Geistreiches beizutragen?», herrschte die Mutter den Mann an, nachdem sie ihm geöffnet hatte, drehte sich um und ging wieder zum Esstisch.

«Ich muss dringend mit Frau Wendlandt sprechen», rechtfertigte sich der Uniformierte.

«Für Sie», sagte Neeles Mutter zu der Kommissarin und zeigte mit dem Daumen auf die Tür, obwohl die das selbst mitbekommen hatte.

Die Kommissarin erhob sich und ging zu ihrem Kollegen.

«Sie wollte sowieso gerade gehen», rief ihr der Vater hinterher. Offenbar kam er langsam in Stimmung. «Wenn es schon unglaubwürdig ist, dass ich alleine spazieren gehe – warum ist das bei dem Zeugen nicht der Fall?», fügte er hinzu. «Und der Gegenstand, den ich angeblich mit mir geführt habe, muss unser Hund gewesen sein.»

Die beiden Polizisten sprachen leise miteinander, dann kehrte die Kommissarin zurück an den Tisch. Sie blieb neben Neeles Vater stehen und sah ihn an. «Herr van Lenk, es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, ein paar Sachen zusammenzupacken!»

«Das ist ein Scherz, oder? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich das Fahrrad verliehen habe. Fragen Sie doch den Chrumm!»

«Ich komme gerade von ihm», erklärte der Kollege der Kommissarin mit Amtsmiene. «Er sagt aus, er habe das Fahrrad gestern gegen 19.30 Uhr in Ihrem Garten abgestellt. An die Zeit erinnere er sich ganz genau, da er rechtzeitig zur Tagesschau wieder daheim sein wollte.»

«Und warum habe ich das Fahrrad dann nicht gesehen, als ich losgegangen bin?»

«Das fragen wir Sie.»

«Weil es wohl jemand geklaut haben muss, verdammt noch mal! So schwer ist das doch nicht zu verstehen!» Wütend ging er im Zimmer auf und ab, massierte sich die Schläfen und vergrub dann schnaufend sein Gesicht in den Händen.

«Im Regen?», fragte die Kommissarin.

«Bricht man im Regen nicht in Häuser ein?»

«Machen Sie sich nicht lächerlich, Ihr Fahrrad ist kein Haus! Es ist auch nicht wertvoll. Ein wertloses Fahrrad wird nur entwendet, wenn es gerade gebraucht wird, sprich, man klaut es, weil man irgendwohin möchte, und nicht, um es zu verkaufen. Aber wer sollte das bei solch einem Wetter schon getan haben?»

«Woher soll ich denn wissen, wer im Dunkeln mein Fahrrad klaut? Verwechseln Sie nicht etwas? Es ist doch Ihre Aufgabe, das herauszufinden!»

«Sehen Sie, da wir das wissen, haben wir unsere Aufgabe auch prompt erledigt: Ihr Fahrrad wurde nicht gestohlen. Sie sind, nachdem Sie es in Ihrem Garten gefunden haben, damit in den Wald gefahren. Dort stellten Sie fest, dass der Boden durch den Regen viel zu weich war, um darauf zu fahren. Deshalb wollten Sie das Rad nach Hause schieben. Als Sie über die Straße gingen, haben Sie nicht auf das Auto geachtet, das sich Ihnen näherte. Der Fahrer wollte Ihnen ausweichen und ist dabei zu Tode gekommen. Das ist die Sachlage!»

Die Kommissarin schien es wirklich ernst zu meinen. «Und warum sollte ich im Regen mit Fahrrad und Hund durch die Gegend laufen?»

«Ich denke, Sie gehen gerne im Regen spazieren?», erwiderte die Frau schnippisch.

«Ja, spazieren, aber nicht Rad fahren!»

«Viele Menschen fahren Fahrrad, wenn sie ihren Hund spazieren führen. Dadurch wird das Tier trainiert, und man kann die übliche Strecke in kürzerer Zeit zurücklegen. Sehr praktisch. Vor allem bei Regen. Außerdem soll Ihr Hund ja sicher nicht verfetten. Er ist ja auch groß und kräftig genug für einen Fahrradausflug. Packen Sie bitte ein paar Sachen zusammen!»

«Sie verhaften mich wegen eines Verkehrsverstoßes? Ich will sofort mit meinem Anwalt telefonieren! Helena, ruf sofort Dieter an, der soll herkommen!»

«Herr van Lenk, das ist kein normaler Verkehrsverstoß. Sie sind nicht bei Rot über eine Straße gegangen. Ein Mensch ist zu Tode gekommen, und Sie haben nicht einmal einen Arzt gerufen, sondern sind einfach weitergegangen. Außerdem sind Sie einschlägig vorbestraft, und diese Vorstrafe ist noch gar nicht so alt. Haben Sie nicht heute ein Visum für eine Reise in die DDR beantragt?», fragte die Kommissarin Wendlandt scharf.

Hilmar van Lenk wurde kreidebleich. «Ja, das habe ich. Aber es dauert ewig, bis das Visum erteilt wird.»

«Manchmal auch nicht. In jedem Falle wird es vor Abschluss unseres Ermittlungsverfahrens ausgestellt. Und wer sagt uns, dass Sie dann tatsächlich zurückkommen?»

«Das ist albern! Wenn ich abhauen wollte, dann bestimmt nicht in die DDR. Mein Antrag auf ein Visum hat doch nichts mit diesem Unfall zu tun. Ich bin Journalist und schreibe über innerdeutsche Themen. Das dürfte Ihnen nicht entgangen sein, sofern Sie nicht nur die Boulevardpresse lesen. Allein aus diesem Grund habe ich das Visum beantragt.»

«Das mag alles sein. Tatsache aber ist: Wenn Sie erst einmal drüben sind, werden wir Sie nicht mehr befragen können. Den Rest erzählen Sie am besten dem Haftrichter. Die Strafe, die Sie wegen der Vorstrafe erwartet, wird ohnehin hoch genug sein, um Fluchtgefahr zu rechtfertigen.»

Neeles Mutter war inzwischen zum Telefon gegangen und versuchte erfolglos, den befreundeten Anwalt zu erreichen.

«Ich bitte Sie jetzt ein letztes Mal, mit uns zu kommen, anderenfalls wird mein Kollege unmittelbaren Zwang anwenden müssen!»

Hilmar van Lenk gab sich geschlagen und sagte, er wolle noch ein paar Sachen zusammenpacken.

Neele war wie versteinert. Als ihr Vater die Treppe hinaufkam und sie auf der obersten Treppenstufe erblickte, starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Das Geheimnis der Väter

Подняться наверх