Читать книгу Das Geheimnis der Väter - Daniel Eichenauer - Страница 15

Neele van Lenk

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Neele hatte unruhig geschlafen. Früh verließ sie das Haus und ging im Park des Schlosses Charlottenburg spazieren, bevor sie auf ein Café zusteuerte. Kein Platz war besetzt, und doch legte die junge Bedienung ihre Zeitung nur missmutig beiseite, als Neele den Raum betrat. Die sah sich um und schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte man hier den schönsten Blick auf das herrschaftliche Anwesen, doch der wurde durch Plastikpalmen verstellt. Sie nahm an einem Tisch Platz, legte ihre Handtasche auf den Nachbarstuhl und wartete. Pünktlichkeit war ein Charakterzug, den Neele sehr schätzte.

Just in dem Moment, als sie darüber nachdachte, flog die Tür auf, und Rainer Voß wehte herein. Er winkte ihr schon vom Eingang aus zu und begrüßte sie mit lautem Hallo. Schwunghaft ließ er sich auf einen Stuhl fallen, warf einen von einem Gummiband zusammengehaltenen Stapel loser Blätter auf den Tisch und strahlte Neele für ein paar Sekunden wortlos an. Dann schlug er mit der Hand auf den Papierhaufen und sagte: «Hier ist die Akte. Eine Kopie. Kannst du behalten. Und weißt du, was das Beste ist?» Eine Antwort wartete er gar nicht ab. «Ich habe schon hineingeschaut, damit ich dich besser beraten kann. Nee, nee, keenen Applaus, dit hab ick doch jerne jemacht!» Er hob die Arme wie ein drittklassiger Moderator bei der Eröffnung eines Kaufhauses. «Und dit war wirklich dein Vater? Respekt!»

Neele schaute ihn verwundert an. «Hallo erst mal!», sagte sie trocken. Rainer sah genauso aus wie auf der Feier, auf der sie ihn kennengelernt hatte: raspelkurze graue Haare, schlanke Figur und enge Jeans mit einem Ledergürtel, den eine Schnalle mit Schädelknochen und Hörnern zierte. Cowboystiefel und gebräunte Haut rundeten sein Erscheinungsbild ab.

«Du spielst doch zum ersten Mal Detektiv», sagte Rainer, ohne ihr zugehört zu haben. «Da wollte ich dir natürlich mit Rat und Tat zur Seite stehen.» Er lachte selbstgefällig. «Aber warum ich ‹Respekt› sagte: Schau dir mal das Fahrrad auf dem Bild an! Das hat ordentlich was abbekommen. Dein Vater hatte nicht einmal einen Kratzer. Das muss man erst mal hinbekommen.»

Neele war viel zu aufgeregt, um auf diese Äußerung einzugehen. Endlich hatte sie die Akte vor sich – dieses papierne Ziel ihrer Wünsche, um das sie so lange gekämpft hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie den amtlich festgestellten Tatsachen und damit der Wahrheit ganz nahe. Sie nahm den Stapel Papier in die Hand. War sie sich wirklich sicher, dass sie mit den Berichten und Bildern umgehen konnte, die darin auf sie warteten? Oder hatte sie vor langer Zeit damit begonnen, Geister heraufzubeschwören, die sie nicht mehr würde kontrollieren können? Sie mochte Goethes Zauberlehrling, aber das bedeutete nicht, dass sie sich in dessen Lage wiederfinden wollte. Sie atmete tief ein, öffnete die Akte und begann darin zu blättern. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Bilder, so dachte sie, sind immer ein guter Einstieg. Doch eigentlich war ihr Kopf leer. Sie war viel zu angespannt zum Denken. Das Fahrrad auf den Bildern, eindeutig das ihres Vaters, war in der Tat nicht nur verbogen, sondern völlig zerstört.

«Das Auto muss über das Fahrrad gefahren sein und es eine Weile mitgeschleift haben, bevor es gegen den Baum gefahren ist», hörte sie Rainer aus weiter Ferne sagen.

Ihr Blick versank in den Bildern des Fahrrads. Erinnerungen aus Kindertagen wurden wach.

«Neele?»

«Ja?» Sie schreckte hoch. «Du hast recht, es sieht scheußlich aus. Also das Fahrrad. Das hier …» Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto und murmelte, ohne Rainer anzusehen: «Dass das überhaupt jemand überlebt hat …»

«Ich habe gefragt, ob du auch noch etwas trinken möchtest», sagte Rainer und schaute sie lächelnd an.

Die Kellnerin stand am Tisch und grinste ihn an. Neele hatte sie gar nicht kommen sehen.

«Sie sind besonders niedlich, wenn sie noch so schüchtern sind», flüsterte Rainer ihr verschwörerisch zu, nachdem sich die Kellnerin wieder entfernt hatte.

«War sonst noch irgendwas in der Akte, das dir seltsam vorkam?», fragte sie schroff.

Rainer hatte den Kopf auf den Ellenbogen gestützt, rappelte sich nun aber auf, verschränkte seine Arme vor der Brust und lehnte sich im Stuhl zurück. Er sah Neele herausfordernd an. «Wie kommst du darauf, dass etwas seltsam war?»

«Warum sonst hättest du dich wundern sollen, dass der Fahrradfahrer den Unfall unbeschadet überstanden hat?»

«Für jemanden, der nicht tagtäglich mit derlei Ereignissen zu tun hat, hört sich vieles eigenartig an. Aber mit der Zeit bekommt man einen Blick fürs Wesentliche», sagte er gönnerhaft und inspizierte das Heck der Kellnerin, als sie die Getränke brachte. «Ich habe mich nur gewundert, wie es dazu kommen konnte, dass ein Fahrradfahrer einen Unfall ohne jeden Kratzer überlebt, während der eigentlich besser geschützte Autofahrer dabei ums Leben kommt. Mir ist so etwas noch nie zu Ohren gekommen.» Rainer zuckte mit den Schultern und sah Neele an. «Aber in meinem Job erlebt man jeden Tag Dinge, die man noch nie zuvor erlebt hat.»

«Also ist dir nichts Verdächtiges oder Ungewöhnliches an dem Verfahren aufgefallen?»

«Wolltest du die Akte haben, um etwas über deinen ­Vater herauszufinden oder um unsere Arbeit madigzumachen? In letzterem Fall nehme ich sie auch gerne wieder mit, wenn dir die Lektüre nicht gefällt.»

«Das meinte ich doch gar nicht!», beeilte sich Neele zu erklären. «Ich möchte nur wissen, was damals passiert ist. Das ist alles. Und da mir an diesem Umfall einfach alles merkwürdig vorkommt … Es tut mir leid.»

«Dit war Spaß, Kleene, aber is nett von dir, dass du dich entschuldigen möchtest! Lies dir das Ding einfach durch, und du wirst sehen, dass alles ganz normal verlief. Ich kann verstehen, dass du nach einem Strohhalm suchst. Wir haben öfter mit Menschen zu tun, die nach ihren Eltern forschen oder der Meinung sind, dass in ihrer Kindheit ein Verbrechen begangen wurde.» Er nippte an seinem Glas. «Das ist Routine. Kommt ohnehin nie was dabei heraus. Wenn du meinst, dass du Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten findest, gib mir Bescheid. Ich erkläre es dir dann. Denk aber immer daran, dass dir die Geschichte deines Vaters erzählt wurde, als du noch ein Kind warst.»

Im Auto konnte Neele sich nur schwer auf den Verkehr konzentrieren. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Ihre Gedanken waren wie in einem Tunnel gefangen, der sie in die Vergangenheit führte und dessen Ende nicht zu sehen war. Tief ging es hinab in ihre Erinnerungen: das Gesicht ihres Vaters, seine Stimme, das Fahrrad …

Zu Hause begann Neele zu lesen. Laut den amtlichen Akten hatte ein Zeuge des Verkehrsunfalls die Polizei gerufen und damit die Ermittlungen in Gang gebracht. Am Unfallort hatte sich beim Eintreffen der Polizei niemand außer dem Zeugen befunden – niemand, der noch lebte. Der Zeuge war ein älterer Herr namens Hans-Georg Raven, der zum Unfallzeitpunkt in unmittelbarer Nähe des Ereignisortes seinen Hund ausgeführt hatte. Seine vollständige Aussage studierte Neele als Erstes.

Ich heiße Hans-Georg Raven, wohnhaft in 1 Berlin 39, Stölpchenweg 304, bin 61 Jahre alt und ledig. Am Abend des Unfalls ging ich mit meinem Hund spazieren. Es regnete fürchterlich, sodass ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte, aber der Hund musste noch mal raus. Ich bin Hobbyangler, weshalb ich wasserfeste Kleidung besitze und mir der Regen nicht allzu viel ausmacht. Normalerweise begegnet man bei solch einem Wetter keiner Menschenseele, aber dieses Mal war das anders. Ich ging gerade wieder von der Brücke über den Teltowkanal nach Hause Richtung Stölpchensee, als mir plötzlich auf der anderen Straßenseite jemand entgegenkam. Erkennen konnte ich den Mann nicht.

Auf Fragen der Vernehmenden: Ich weiß nicht genau, ob es ein Mann war. Alles andere würde mich aber wundern. Eine Frau geht ja bei solch einem Wetter nicht aus dem Haus. Der Mann führte etwas mit sich, das ihm ungefähr bis zur Hüfte reichte, vielleicht war es ein Hund. Es war aber so dunkel und regnerisch, dass ich nicht genau erkennen konnte, was es war. Ich habe darauf allerdings auch nicht geachtet.

Auf Fragen der Vernehmenden: Der Größe nach könnte es sich bei dem Gegenstand auch um ein Fahrrad gehandelt haben.

Ich habe mich gefragt, wer die Person sein könnte, schließlich kennt man sich in diesem Winkel der Stadt. Ich bin aber weitergegangen, weil es zu stark regnete, und sprach den Mann nicht an. Nach ein paar Minuten kam mir ein Auto entgegen. Es fuhr eindeutig zu schnell. Vermutlich hatte es der Fahrer eilig. Kurz nachdem das Auto an mir vorbeigefahren war, vernahm ich lautes Geschepper und den Aufprall des Autos gegen einen Baum. Ich habe mich sofort umgedreht und sah noch eine Gestalt in den Wald springen. Dann bin ich sofort zum Wagen gerannt, dort fand ich einen regungslosen Mann hinter dem Steuer. Ich bin schnell in die nächste Kneipe gelaufen, um von dort aus die Polizei zu rufen, die dann ja auch bald darauf eintraf.

Auf Fragen der Vernehmenden: Ich weiß nicht, ob ich den Mann mit dem Fahrrad wiedererkennen würde. Ich bin mir aber sicher, dass er einen sehr langen gelben Mantel trug.

Neele blätterte weiter. Sie stieß auf den Bericht der Kommissarin Wendlandt, der Frau, die ihren Vater verhaftet hatte. Neele erinnerte sich nur noch vage und mit Abscheu an sie. Die Kommissarin hielt fest, dass der Zeuge seine Angaben bereits vor Ort gemacht habe und sie auf dem Präsidium haargenau wiederholt habe. Seine Aussage sei deshalb von hoher Glaubwürdigkeit. Einen ausschließlich durch Regenglätte verursachten Unfall schloss sie aus, denn man hatte ja das Fahrrad, nicht aber den Fahrer dazu gefunden. Fahrerflucht. Das spräche nach der festen Überzeugung von Frau Wendlandt dafür, dass nicht die Naturgewalten, sondern der flüchtige Fahrradfahrer den Unfall verursacht habe. Als Täter kam für sie nur Hilmar van Lenk, der Eigentümer des Fahrrads, in Betracht. Laut seiner Aussage habe der sich auf einem abendlichen Spaziergang mit seinem Hund befunden, um alleine zu sein.

Neele lächelte. Genau so hatte sie ihren Vater in Erinnerung. Bereits früher hatte sie beiläufig mitbekommen, dass sich so manch einer über diese Marotte ihres Vaters wunderte. Sie selbst hatte dies übrigens auch getan, aber er war nun einmal ihr Vater gewesen.

Der Aussage ihres Vaters maß die Kommissarin keinerlei Bedeutung bei. Hilmar van Lenk hatte für sie unglaubwürdige Angaben gemacht, die den Verdacht gegen ihn nur erhärteten. Eine Schutzbehauptung, wie die Kommissarin formulierte. Als sie zudem über eine Routineanfrage herausgefunden habe, dass er kurz nach dem Unfall in die DDR reisen wollte, sei für sie klar gewesen, dass er sofort in Untersuchungshaft genommen werde müsse.

«Dämliche Kuh!», schnaubte Neele wütend.

Dem Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners entnahm sie nur ein einziges nennenswertes Detail: Der Fahrer des Autos, ein Herr Valentin Faber, war mit 1,9 Promille stark alkoholisiert gewesen.

Neele stockte und las den Namen erneut. Valentin Faber. Nie hatten ihre Mutter oder jemand anderes seinen Namen erwähnt. Zum ersten Mal nach Jahren bekam das Opfer eine Identität. Was Valentin Faber wohl für ein Mensch gewesen war? Ob er eine Familie zurückgelassen hatte? Auf eine seltsame Art kam Neele sein Name bekannt vor. Wahrscheinlich verwechsele ich ihn nur mit einem anderen, dachte sie und las weiter. Vielleicht war ihr Vater gar nicht auf die Straße gelaufen, sondern der Autofahrer war aufgrund seines hohen Alkoholpegels von der Straße abgekommen. Warum war die bornierte Kommissarin dieser Möglichkeit nicht nachgegangen? Die Frage, warum das Fahrrad ihres Vaters am Unfallort gefunden worden war, konnte diese Vermutung allerdings auch nicht beantworten.

Sie blätterte weiter. Das Fahrrad war kriminaltechnisch untersucht worden, und laut dem Bericht des Gutachters war es vom Auto des Opfers zermalmt worden. Es schien also alles ziemlich eindeutig.

Neele schlug die Akte zu und legte sie beiseite. Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Vater sie belogen hatte. Aber war das so abwegig? Hatten ihre Freunde nicht recht, wenn sie meinten, sie sei damals ein kleines Mädchen gewesen, das ihren Vater vergötterte? Tat sie das nicht bis heute? Sie seufzte. Ein Kind versuchte man zu trösten, und sie war damals ein Kind gewesen. Wäre es nicht seltsam, wenn sich ihr Vater anders verhalten hätte? Er hatte bei seiner Verhaftung wohl kaum ein Gespräch über die Gründe seiner Tat mit ihr führen wollen und können. Trotzdem wehrte sich Neele mit aller Kraft gegen den Gedanken, dass ihr Vater sie mit einer Lüge hatte schützen wollen. Aber warum sagte ihre Mutter ihr nicht die Wahrheit – so wie sie hier in der Akte stand? Neeles Gedanken kreisten und kreisten. Langsam nickte sie ein.

Neele schrak hoch, als das Telefon klingelte.

«Ich denke, wir sollten uns am Sonntag treffen. Was hältst du davon?»

«Hat die Kellnerin keine Zeit?», fragte Neele grantig. Sie hasste es, wenn sie vom Telefon geweckt wurde. Wie spät war es eigentlich?

«Die ist am Samstag dran.» Rainer lachte, dann wurde er ernster. «Es gibt etwas, über das ich mit dir reden muss.»

«Ich höre aufmerksam zu», erwiderte Neele trocken. Die Erwähnung der Kellnerin ärgerte sie.

«Manche Dinge kann man nicht am Telefon besprechen. Keine Sorge, es hat etwas mit dem Fall zu tun! Mir ist etwas aufgefallen.»

«Ich bin am Sonntag nicht in Berlin.» Sie zögerte. «Wenn das jetzt ein Trick ist …»

«Ernsthaft, es geht wirklich um den Fall deines Vaters! Dann sehen wir uns am Dienstag. Um acht am Winterfeldtplatz. Bis dann!» Rainer legte auf.

Verdutzt sah Neele das Telefon an.

Das Geheimnis der Väter

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