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Jakob Chrumm, 1984

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Georg Chrumm hatte mich vor einigen Monaten als Sohn angenommen. Meinen leiblichen Vater hatte ich nie kennengelernt. Ich wusste nur, dass er ein harmloser Urlaubsflirt meiner Mutter gewesen war. Mein neuer Vater bemühte sich nun um ein schönes Heim für seine Familie. Wie passend war es da, dass eines Abends ganz in der Nähe, in derselben Straße, in der wir wohnten, ein Mann seine Ehefrau nicht wie gewöhnlich auf dem Sofa sitzend erwartete, sondern hinter der Tür lauerte – mit einem Hackebeil. Ihre Erben wussten die Konsequenzen geschickt zu nutzen: Bald stand der Tatort zum Verkauf. Das Besondere an dem Grundstück, auf dem keine der typischen Villen, sondern eine schäbige kleine Laube stand, war, dass es direkt an die Mauer grenzte. Es befand sich genau dort, wo die S-Bahn-Strecke, die zum Abenteuerspielplatz von uns Kindern geworden war, entlanggeführt hatte, bevor sie durch die Mauer eingeschläfert und wenig später von ihr verschluckt worden war. Bedrohlich, hässlich und grau durchtrennte die Mauer nur zwei Häuser weiter auch die Straße und den Verbindungsweg zwischen Berlin und Potsdam. Kein Auto verirrte sich mehr hierher. Nur die Giebel der alten Villen in Babelsberg konnte man noch über die Mauer hinweg erblicken. Filmstars und berühmte Regisseure der nahegelegenen UFA hatten dort angeblich scharenweise Quartier bezogen, bevor sie von den Kommunisten um ihr Hab und Gut gebracht und verjagt worden waren.

Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich das genaueste Bild stets von denjenigen zu machen, die man am wenigsten kennt. Und so hatte man natürlich auch eine genaue Vorstellung von denen, die dort drüben in den Villen der Filmstars wohnten. Selbst wenn es möglich gewesen wäre – mit solchen Menschen wollte hier keiner Kontakt haben.

Im Grenzstreifen direkt hinter der Mauer befand sich ein Wachturm, eines dieser achteckigen Betonmonster mit Scheinwerfern auf dem Dach, das rund um die Uhr besetzt war. Die große Kanzel saß auf einer dünnen Säule, sodass das Monster unförmig und storchbeinig wirkte. Von ihm ging eine Ruhe aus, die nicht entspannend und erholsam war, sondern höchst bedrohlich wirkte. Da das Gefühl des Bedrohtseins bekanntlich den Genuss stört, entschied man, das Monster zu ignorieren und sich erst dann mit den möglichen Gefahren, die von ihm ausgingen, auseinanderzusetzen, wenn sie eintreten sollten.

Einige Monate nach der beklagenswerten Ehefrau wurde auch die schreckliche Laube auf unserem neuen Grundstück zu Grabe getragen, denn an ihrer Stelle sollte ein Pool errichtet werden. Berge von Müll, darunter auch Sachen, die in den Sondermüll gehörten, türmten sich in dem Bau, verpackt in Säcken, offenen Kartons und allen möglichen anderen Behältnissen.

«Wir werfen das ganze Zeug einfach über die Mauer.» Mein Stiefvater sah meine Mutter und mich an und wartete auf Beifall.

Schweigen.

«Dann hat die Mauer wenigstens einen Sinn», legte er nach.

«Georg, das können wir nicht machen!» Meine Mutter kicherte hinter vorgehaltener Hand.

«Warum denn nicht? Probieren wir’s aus!» Er genoss sichtlich, dass wir seine Unerschrockenheit bewunderten.

Auf dem Gesicht meiner Mutter zeigte sich ein scheeles Teenagergrinsen.

«Aber wenn die uns vom Turm aus erschießen?», gab ich zu bedenken.

«Ach was, die können gar nicht zielen!», beruhigte mich mein Vater.

Das überzeugte mich nicht. «Dann machen die uns anderen Ärger!»

«Was sollen die denn tun? Von ihrem Turm runterkrabbeln, über die Mauer springen und uns verprügeln?»

«Sie könnten die Polizei holen, und wir müssen Strafe zahlen», erwiderte ich ängstlich.

«Das will ich sehen, dass der Grenzer von drüben bei der West-Berliner Polizei anruft und sich darüber beschwert, dass die DDR von umherfliegendem Müll angegriffen wird.» Er lachte aus vollem Halse. «Ach, das wäre mir der Spaß wert!»

«Und wenn ein Müllsack auf eine der Minen fällt und die hochgeht?» Meiner Meinung nach stellte sich mein Vater die Sache zu einfach vor.

«Dann knallt es, und es ist eine Mine weniger. Vielleicht überlegen die sich da drüben dann, ob es richtig ist, das Gelände zu verminen.»

Schon flog der erste Sack über die Mauer. Ich verfolgte seine Flugbahn. Um Haaresbreite hätte er es nicht geschafft. Ich hielt den Atem an und die Ohren zu. Jeden Moment würde es knallen. Doch ich hörte nur einen dumpfen Aufschlag. Keine Explosion, kein Geschrei. Diese Ruhe war verdächtig. Da der Mensch jedoch nur lernt, wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, fasste ich Mut. «Ich will auch einen werfen!»

«Na gut, aber einen leichten. Oder lieber erst mal eines von diesen kleinen Brettern zur Probe. Und mit viel Schwung, sonst landet es noch auf der Mauer, und wir müssen es wieder herunterholen. Das wollen wir doch nicht, oder? Peinlich wäre das! Also mit Anlauf, ungefähr so …»

Mein Vater setzte zu einer eigenartigen Demonstration an, deren Ausführung verriet, dass er schon seit Längerem keinen Sport mehr trieb. Da ich ahnte, was er meinte, wartete ich das Ende seiner Vorführung gar nicht erst ab, sondern nahm ein langes, sperriges, aber sehr leichtes Brett und warf es nach einigem Anlauf in Richtung Grenze. Im hohen Bogen flog es über die Mauer, und nach einer Weile hörten wir einen dumpfen Widerhall aus dem Reich des Schweigens.

«Yippie, viel weiter als du, Papa!», johlte ich.

Das Geheimnis der Väter

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