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Hilmar van Lenk, 1985
ОглавлениеHilmar van Lenk brach jeden Abend zur gleichen Zeit zu einem Spaziergang mit dem Familienhund Schlünz auf. Besonders mochte er den Herbst, nicht nur seiner Farbenpracht wegen, sondern auch wegen der ungefesselten Kräfte der Natur. Starker Wind und kräftiger Regen zogen ihn hinaus in den Wald und zu den kleinen Wiesen. Der Regen machte ihm nichts aus, im Gegenteil, er war das Besondere. Hilmar von Lenk liebte den Regen. Er liebte ihn nicht um seiner selbst willen, er liebte ihn, weil er in ihm die Sehnsucht nach dem warmen Heim mit den hellen Fenstern, dem Kamin mit dem prasselnden Feuer und dem Sofa mit der weichen Decke weckte. Sehnsucht, davon war er überzeugt, war keine unangenehme Empfindung, die es zu bekämpfen galt. Sehnsucht lieferte ihm Energie, Sehnsucht führte ihm den Wert seines Lebens erst vor Augen.
Hilmar unternahm Ausflüge, um zurückzukehren. Selten fühlte er sich so frei wie in diesen Momenten, deshalb genoss er sie. Im Alltag überkam ihn häufig ein Gefühl der Enge, obwohl ihn weder seine Familie noch seine Arbeit einengten, im Gegenteil, sein Leben war wunderbar. Er hatte eine liebevolle Frau und eine zauberhafte kleine Tochter, er ging in seinem Beruf auf und kam mit seinen Kollegen gut aus. Es war das Leben in dieser Stadt, die von einer Mauer umgeben war, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Die physische Enge, das bloße Bewusstsein, eingeschlossen zu sein, schnürte ihm die Kehle zu. Wie oft hatte er darüber nachgedacht, hinaus aufs Land nach Westdeutschland zu ziehen! Aber seine Tätigkeit als Journalist konnte er nur hier so ausüben, wie er es sich vorstellte.
Wenn er an einem typischen Herbsttag abends im Dunkeln unterwegs war, freute er sich über die Einsamkeit. Dann konnte er sicher sein, dass ihm weder auf der Straße noch im Wald jemand begegnete. Keine verliebten Pärchen, die einen «total verrückten» Spaziergang im Sommerregen unternahmen. Selbst der Hirsch würde ihn nicht stören, denn auch der hatte sich an einen trockenen Ort verkrochen.
Am regnerischen Abend des 18. Oktober 1985 trug Hilmar van Lenk seinen gelben Friesennerz, den er so lieb gewonnen hatte. Allen Familienmitgliedern hatte er solch einen praktischen Mantel geschenkt, dennoch wollten ihn Tochter und Frau nie auf seiner Runde begleiten. Selbst der Hund konnte bei diesem Wetter nur schwer dazu bewegt werden.
Hilmars Weg führte ihn an der einzigen Kneipe im Dorf vorbei. Durch die beleuchteten Fenster konnte er die Silhouetten der Gäste erkennen, Musik und Gelächter drangen nach draußen. Sehnsucht. Gehen, um zurückzukehren.
Schlünz hatte den Schwanz eingezogen und trottete mit hängendem Kopf neben ihm her. Als sie die Straße nach Stölpchensee erreichten, traute Hilmar van Lenk seinen Augen kaum: Trotz des schlechten Wetters kam ihm jemand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegen, auch er führte einen Hund mit sich. Im schwachen Licht der Gaslaternen konnte Hilmar van Lenk die Umrisse der Person nur vage erkennen, sie schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Er beschleunigte seinen Schritt.
Plötzlich, er hatte bereits die Brücke über den Teltowkanal überquert, hörte er einen dumpfen Aufprall. Er drehte sich um und horchte. Niemand schrie, niemand machte sich bemerkbar. Angestrengt schaute er in die Dunkelheit – nichts. Dann wandte er den Blick wieder nach vorne und setzte seinen Weg in Richtung seines Hauses fort.
Er fand seine Familie vor dem Fernseher. Schlünz schüttelte sich im Flur die Nässe aus dem Fell. Hilmar van Lenk hängte seinen Mantel auf und ging in den Keller, um Holz für den Kamin zu holen. Heute gelangte er ohne Umweg an die aufgestapelten Bretter. Er lächelte. Seine Frau musste sein Fahrrad, das ihm sonst immer den Weg versperrte, beiseitegeräumt haben. Er sah sich im Keller um, konnte es aber nirgends entdecken.
«Wo ist denn eigentlich mein Fahrrad?», fragte Hilmar van Lenk seine Frau, als er wieder nach oben kam.
«Das habe ich am letzten Wochenende an Jakobs Vater ausgeliehen. Er wollte eine Radtour mit Jakob machen.»
«An den? Warum hat er es denn noch nicht wieder zurückgebracht?»
«Merkwürdig, er wollte es heute Abend an unserem Zaun abstellen. Hat er das etwa nicht getan?»
«Nein», murmelte er. «Das muss er wohl vergessen haben.»