Читать книгу Das Geheimnis der Väter - Daniel Eichenauer - Страница 16
Jakob Chrumm
ОглавлениеEndlich rückte er näher, der Tag, dem ich schon sehnlichst entgegenfieberte. Ein Monat war nun vergangen, seitdem ich Neele nach zwanzig Jahren wiedergetroffen hatte, und dieses Wiedersehen hatte mein Leben gründlich durcheinandergebracht. Es quälte mich, dass wir uns seit dem Abend in der «Hafenbar» nicht mehr gesehen hatten. Es quälte mich, dass wir uns regelmäßig E-Mails schrieben, aber nie eine Verabredung zustande kam. Immer dieselben Ausreden: die Arbeit, zu viel zu tun … Vor allem aber quälte mich der Gedanke, einem großen Irrtum aufgesessen zu sein. Hatte ich mich in etwas verrannt? Hatte ich etwas missverstanden? Ich wollte ihren Erklärungen so gerne glauben, aber warum konnte ich mir Zeit für sie nehmen, sie sich aber umgekehrt nicht für mich? Und was sollte ich von der wirklich großen Verabredung halten, die wir vor einer Woche getroffen hatten? Wir wollten das kommende Wochenende gemeinsam an der Ostsee verbringen. Natürlich war diese Idee zunächst im Spaß geboren, schließlich hatten wir uns gerade erst nach vielen Jahren wiedergetroffen. Im Verlauf der Zeit war sie aber zu einem festen Vorhaben mutiert. Trotz allem ließ mich die Befürchtung nicht los, dass Neele es nicht ernst meinen könnte. Nicht, dass sich diese Vermutung auf Tatsachen gründete, nein, sie nahm meine Gefühle ganz ohne Grund in Beschlag. Ihre Kraft schöpfte sie aus meiner Erfahrung, dass sich meine Wünsche bisher noch nie erfüllt hatten.
Den gesamten Freitag war ich hin- und hergerissen zwischen Euphorie und tiefer Traurigkeit. Vor allem aber war ich erschöpft. Erschöpft davon, immerzu von überschwänglicher Freude in tiefe Betrübtheit zu fallen.
Meine Zweifel erwiesen sich als grundlos, als Neele tatsächlich ihr baldiges Kommen ankündigte. Dennoch beutelte mich meine Angst, während ich auf Neele wartete. Das ist reine Hinhaltetaktik. Sieh dich doch an, wie lächerlich du bist!, sagte eine innere Stimme zu mir. Ich bäumte mich auf. Warum sollte Neele so etwas tun? Das ist deine gerechte Strafe! Woher nimmst du das Recht, glücklich sein zu wollen? Glück muss man sich erarbeiten! Und was hast du bisher dafür getan?
Mehrmals hatte ich schon gedacht, Neeles Auto gesehen zu haben, als ich vor meiner Wohnung auf sie wartete. Aber die Wagen hatten ihrem auf den zweiten Blick nicht einmal farblich geglichen. Siehst du!, höhnte die innere Stimme, als ich mich wieder einmal getäuscht hatte. Doch dann bog Neele tatsächlich um die Ecke.
«Siehst du!», äffte ich meine zweifelnde Stimme laut lachend nach und zeigte ihr eine lange Nase. Sie war besiegt! Hoffentlich ein für alle Mal. Vor mir lag eine wunderbare Zukunft mit einer wundervollen Frau. Überglücklich stieg ich zu Neele ins Auto und stellte mir vor, wie mein innerer Widersacher allein auf dem Bürgersteig zurückblieb. Auf dass es ihm eine Lehre sein mochte! Mich umzudrehen, um mich zu vergewissern, dass ich ihn wirklich abgehängt hatte, traute ich mich allerdings nicht. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, wenn ich mich getäuscht hätte.
Ich freute mich darauf, das ganze Wochenende auf einem Schloss zu verbringen. Bei der Ankunft erwartete uns bereits die mecklenburgische Dunkelheit. Aber sie vermochte es nicht, die Schönheit des abgeschiedenen Ortes unter ihrem langen schwarzen Mantel zu verstecken. Die kunstvolle Beleuchtung des alten Schlossguts Groß Schwansee und des rustikal verzierten Stalls unterstrich die würdevolle Atmosphäre. Vom Balkon unseres Zimmers aus konnte man die Sterne sehen, so klar war der Himmel und so dunkel die Umgebung. Wir genossen den Anblick und lauschten der Melodie der Stille. Einzig das entfernte Rauschen des Meeres war zu hören. Die Luft schmeckte frisch, ein wenig salzig und mit einer Prise Alge versetzt. Die Pappeln raschelten, ihre Silhouetten zitterten im Mondschein. Das spärliche Licht ließ den Park nur erahnen.
Wir gingen zurück ins Innere und nahmen auf dem Sofa Platz. Neele schlängelte sich um mich herum, als ob ihr Körper ohne Knochen auskäme. Ich öffnete eine Flasche Champagner. Worüber wir sprachen? Ich weiß es nicht mehr. Ich genoss ihre Gegenwart. Allmählich verloren unsere Berührungen an Schüchternheit, sie wurden intensiver und vertrauter. Meine Hände streiften ihren Oberschenkel, meine Lippen küssten ihren Hals. Wir sanken aufs Bett. Champagner perlte auf ihrem Körper. Meine Hand glitt in ihren Schoß. Sie stöhnte. Einige Zeit später schliefen wir erschöpft ein.
Mitten in der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Neele war hochgeschreckt und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Sie war aufgewühlt. «Mein Gott», hörte ich sie leise ausrufen, «jetzt weiß ich, woher ich den Namen kenne!»
Vom Schloss führte eine Allee zum Strand. Durch die Baumwipfel konnte man das Wasser schon von Weitem erkennen. Das Wetter war umgeschlagen. Der Wind blies heftig und kalt. Er zerpflügte das Meer nach seiner Façon. Schaumkronen tanzten auf den riesigen Wellen, die gierig am Strand leckten. Auf der anderen Seite der Bucht lag Travemünde fast unsichtbar hinter den tief hängenden Wolken. Der Sturm presste salzige Meeresluft in unsere Lungen. Ich brüllte ihn an und war ob seiner Lautstärke doch so klein und unwichtig, dass Neele neben mir mein Gebrüll nicht einmal wahrnahm. Auf der wütenden See hatten einige übermütige Schwäne einen Riesenspaß. Sie bewegten sich zur Musik des Meeres, begleitet vom prächtigen Farbenspiel der wenigen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolken erkämpften. Ein einzelnes Boot mit Sturmsegel bahnte sich entgegen aller Vernunft seinen Weg durch die Wellen. Vor uns lag die Steilküste. An einer geeigneten Stelle kletterten wir empor und blickten hinab.
«Kannst du dir vorstellen, dass sich dieser friedliche Ort vor gar nicht so langer Zeit ganz anders präsentierte? Bestens bewacht und abgesichert? Für niemanden zugänglich und doch Schauplatz zahlreicher Fluchtversuche?», sinnierte Neele laut. «Schau mal da vorne zum Beispiel», sagte sie und schlang einen Arm um meine Hüfte, während sie mit der anderen Hand direkt vor meiner Nase herumfuchtelte und auf irgendeinen Punkt am Strand zeigte. «Da vorne stieg bestimmt ein junger Mann mit seiner Liebsten ins Wasser, um sich ans gegenüberliegende Ufer abzusetzen. Flucht in den Westen. Schon Monate zuvor schlichen sie deswegen heimlich hier umher und erkundeten die Umgebung. Eines Nachts, es war stockfinster, der Mond war von Wolken bedeckt, glitten sie gemeinsam ins Wasser. Sie waren jung und gut trainiert, schwammen los und ließen alles hinter sich.»
«Ich liebe deine Fantasie!»
«Ach, tu nicht so!», schmollte sie. «Du hast ja recht, Männer mögen lieber Technik. Also gut, vielleicht benutzten sie diese Propellerbrettchen, die man aus Agentenfilmen kennt.» Sie lachte, umkreiste mich, zog mich an sich und küsste mich, bevor sie mir zuhauchte: «Wenn es die damals schon gab …»
«Dir ist ja heute sehr agentisch zumute», stotterte ich.
«Ich bin zu einer Hobbyagentin geworden.» Sie entfernte sich von mir mit herausforderndem Blick, streckte mir die Hand entgegen und zog mich zu sich. Dann erzählte sie mir von ihrem Vater und ihren Nachforschungen.