Читать книгу Qumran - Daniel Stökl Ben Ezra - Страница 20

3.1 Vom Fragment zu Fragmentengruppen

Оглавление

Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie man ein – gut lesbares – Einzelfragment entziffert. Wie zeitaufwendig ist es, 15000 Fragmente zu entziffern! Und erst dann (auch wenn man schon parallel daran arbeiten kann) beginnt die eigentliche Arbeit: die Puzzleteile zu Puzzles zusammenzufügen. Die Mitglieder der Scrollery haben 95 % dieser Arbeit tatsächlich vollbracht. Dies ist eine (fast?) übermenschliche Leistung.

Ein gutes Verständnis des Editionsprozesses entwickelt das Urteilsbewusstsein für die Abwägung zwischen möglichen und unmöglichen, wahrscheinlichen und sicheren Schlüssen. Nach der Ausgrabung oder dem Ankauf mussten die Fragmente zunächst gesäubert und geglättet werden. Oft waren sie im Laufe der Geschichte mit anderen Fragmenten zu Fragmenthaufen verklebt und mussten erst mühsam voneinander getrennt werden. Theoretisch hätten dabei Anordnung und Position festgehalten werden sollen, denn aus dem Fragmenthaufen kann geschlossen werden, welche Fragmente einmal zu einer Rolle gehörten und welches in der Rolle weiter innen oder weiter außen lag. Leider war das nicht immer der Fall. Alle Fragmente wurden von vorne und oft auch von hinten fotografiert. In vielen Fällen war das Pergament so nachgedunkelt, dass man nur auf Infrarotfotos sehen konnte, welche Seite beschrieben war.

Dann wurden die Fragmente nach groben Gruppen provisorisch entziffert, vorsortiert und einem der Mitglieder der Scrollery überantwortet. Bei der Gruppierung von Fragmenten zu FragmentengruppenGruppierung von Fragmenten zu Fragmentengruppen halfen unter anderem

 Die materielle Beschaffenheit des Beschreibstoffes (Papyrus oder Pergament, Farbe, Dicke, Oberflächenstruktur auf recto und verso),

 |49|Zerstörungshorizont (Formen der Ränder, spezifische Löcher),

 Layout (Breite der Zeilen und Ränder, Zahl und Abstand der Zeilen, liniert/unliniert),

 Schrift (Typ, Register, Buchstabenformen und -größe, Abstand zwischen Buchstaben, Abstand zwischen Worten, etc.),

 Sprache,

 Orthographie,

 Textliche Überlappungen,

 Inhalt.

Biblische Fragmente konnten je nach Fragmentgröße mit Hilfe einer Konkordanz relativ schnell identifiziert und zu Gruppen vorgeordnet werden. Bei Texten, von denen bislang keine hebräischen oder aramäischen Versionen bekannt waren (z.B. Jubiläenbuch und Henochbücher), war es weniger leicht. Am schwierigsten waren bislang unbekannte Texte, vor allem wenn die Fragmente klein waren.

Nach der Vorsortierung wurden die Fragmente mit der Schrift in die gleiche Richtung zwischen zwei Glasplatten gelegt (eine „plate“) und wieder fotografiert. Schließlich kamen sie in die ScrolleryScrollery im Palestine Archeological Museum: einen mit direktem Sonnenlicht reich erhellten Saal mit langen Tischen, auf welchen all diese Glasplatten präsentiert wurden, so dass jeder Mitarbeiter jederzeit eines seiner Fragmente mit irgendeinem anderen Fragment vergleichen konnte und gegebenenfalls Fragmente von einer Platte zur anderen replatzieren konnte.

Abb. 7:

Scrollery (PAM 41.212)

|50|Man muss zwischen mehreren Rekonstruktionsebenen unterscheiden, die mit zunehmender Entfernung von der einzig wirklich sicheren Grundlage, dem Einzelfragment, immer hypothetischer werden. Mit den einer Fragmentengruppe zugeordneten Fragmenten wird wie bei einem Puzzle experimentiert, ob mehrere Einzelfragmente, deren Ränder und Buchstabenhälften zusammenpassen, zu einem größeren, direkt physisch miteinander verbundenen Fragmentencluster zusammengefügt werden können. Dies nennt man material joinmaterial join. Da man sich dabei irren kann, ist eine „material join“ hypothetischer als ein Einzelfragment. Doch kommt dies in den offiziellen Editionen selten vor.

Kehren wir nun kurz zu unserem Beispiel von oben, 4Q286 Frag. 20, zurück. Auch dort gibt es einen material join. Auf der Webseite der IAA kann man zwei Fotos des Editionsprozesses vor und nach dem material join vergleichen: PAM 42.417 (1957) und PAM 43.312 (1960). Wie viel Zeit mag der ursprüngliche Editor zwischen 1957 und 1960 in das Finden dieses winzigen Puzzleteiles gesteckt haben! Es war kein geringerer als „der schnellste Mann mit einer Rolle“ (s.o. S. 17)!

Aufgrund von Inhalt, Layout oder Parallelen wird manchmal vorgeschlagen, dass Fragmente in die gleiche Spalte oder die gleiche Zeile gehören, obgleich die Ränder der Fragmente physisch nicht direkt zusammenstoßen. Dies wird distant joindistant join genannt und ist natürlich meist hypothetischer als ein material join. (Übrigens kann man auf dem Foto von 1960 [PAM 43.312] auch einen distant join von 4Q286 Frag. 20a mit dem Fragment 20b darunter erkennen. Die Gründe hierfür können Fortgeschrittene in der DJD-Edition einsehen). Am einleuchtendsten sind distant joins, wenn zwei Fragmente Teile der gleichen Bibelstelle oder eines anderen sicher etablierten Textes zitieren. Je länger dieser Text, desto sicherer der distant join.

Vielen Benutzern der Texte von Qumran ist nicht klar, dass – abgesehen von den wenigen „großen“ bzw. nur aus einem einzigen Fragment bestehenden Rollen (s.o. S. 27f) – fast alle Schriftrollen grundsätzlich eine Anreihung derartiger distant joins sind, allerdings zumeist ohne den exakten Ort jedes Fragments festzulegen. Ein Editor kommt zum Schluss, dass Fragmente Teile ein und derselben Schriftrolle waren. Dies setzt voraus, dass Material, Schrift, Layout, Orthographie und Inhalt in einer Schriftrolle gleich blieben. Das ist sicher die beste Grundannahme, jedoch ist es nicht immer richtig. Bei vielen Rollen wechselt die Spaltenbreite. Vor allem die letzte Spalte eines Blattes kann schmaler oder breiter sein. Manchmal ändert sich die Zahl der Zeilen von einer Spalte zur nächsten. Meistens vernähte der Rollenmacher möglichst ähnliche |51|Pergamente zu einer Schriftrolle, aber nicht immer. Selbst innerhalb eines Pergamentfolios kann sich die Dicke ändern. Die Farbe zweier ursprünglich zu einer Kolumne gehörenden Fragmente kann variieren. Das Genre einer Komposition kann radikal wechseln (s.u. Damaskusschrift, S. 240). Mitten in einer Erzählung können Gedichte vorkommen. Wenn wir den „großen“ Rollen trauen dürfen, scheint es aber eher selten gewesen zu sein, dass auf einer Rolle mehrere Kompositionen zusammengestellt wurden. Bei mehreren der „großen“ Schriftrollen war mehr als ein Kopist beteiligt (z.B. 1QHa). Kürzlich wurde gezeigt, dass 4Q3 und 4Q9 einmal zur gleichen Genesisrolle gehörten, obgleich sie von unterschiedlichen Schreibern kopiert wurden und kein Fragment gleichzeitig beide Hände enthält.

Wenn Rollen hypothetische Konstruktionen sind, kann ein Forscher gegen den Editor argumentieren, dass ein Fragment nicht dieser, sondern besser jener Rolle zugeordnet werden soll. In zahlreichen Fällen ist dies auch geschehen (s.u.). Ein Nachprüfen verschiedener Editionen ist also immer lohnenswert. Man sollte bei allen Unsicherheiten aber beachten, dass die meiste Sortierungsarbeit vom Team der Scrollery vollbracht worden ist, welche die Einzigen waren, die direkten physischen Zugang zu allen Fragmenten hatten. Nur sie konnten direkt vergleichen, ob bei zwei Fragmenten nicht nur die Schrift, sondern auch die materiellen Aspekte des Pergaments auf Vor- und Rückseite übereinstimmten. Spätestens seit 1960 arbeiteten fast alle Editoren nur noch mit Fotos und nur in Ausnahmefällen mit den Originalfragmenten. Die Fotos aber geben nur einen unvollkommenen Eindruck der materiellen Beschaffenheit. Daher ist bei späteren Umgruppierungsversuchen Vorsicht geboten und auf die vorgebrachten Argumente und eventuell größere Unsicherheiten in neu vorgeschlagenen Rekonstruktionen zu achten!

Mehrere hilfreiche Warnzeichen können anzeigen, wann die Zugehörigkeit eines Fragments zu einer Rolle genau geprüft werden sollte. Manchmal geben die Herausgeber eines Textes ihre Zweifel explizit an. Manchmal zeigt ein hinzugefügter Kleinbuchstabe hinter einer Rollennummer (z.B. 4Q213a), dass eine Fragmentengruppe (in diesem Fall 4Q213) von späteren Editoren auf zwei Gruppen aufgeteilt wurde, nachdem das ursprüngliche Team die Nummern bereits festgelegt hatte. Schließlich kann man bei genauem Kontrollieren der PAM-Fotos manchmal bemerken, dass im Laufe der Zeit dieses oder jenes Fragment von einer Plate zur anderen wechselt und wieder zurückkehrt.

4Q471 War Scroll-like Text B4Q471 War Scroll-like Text B ist ein Extrembeispiel für unterschiedliche Auffassungen in der Editionsarbeit. In den Vorbereitungsarbeiten |52|in der Scrollery ordnete Strugnell ursprünglich zehn Fragmente aus Höhle 4 einem Exemplar der Kriegsregel zu: 4Q471. Die Herausgeber der Fragmente in DJD und „Erben“ der Vorarbeiten Strugnells sahen dagegen mehrere Schreiber hinter den Buchstabenformen und den orthographischen Konventionen. Daher teilten sie die zehn Fragmente auf insgesamt vier unterschiedliche Handschriften auf: 3 Fragmente als 4Q471 („War Scroll-like Text B“), ein Fragment als 4Q471a („Polemical Text“), vier Fragmente als 4Q471b („Self Glorification Hymn“) und zwei Fragmente als 4Q471c („Prayer Concerning God and Israel“).

Allerdings weist 4Q471b so starke wörtliche Parallelen zu einer Hymne in anderen Hymnenrollen auf, dass man schließen muss, dass alle die gleiche Hymne enthielten (4Q427, Frag. 3–7 und 1QHa XXV–XXVI Sukenik Fragmente 7–8, 56, 46, 55). Außerdem gleichen Schrift, Pergament und Layout von 4Q471b einer Hymnenrolle, 4Q431. Die Editorin der Hymnenrollen, Eileen Schuller, hat daher die Fragmentengruppe 4Q471b als Teil von 4Q431 veröffentlicht. Dieselbe physische Fragmentengruppe findet sich also zweimal in DJD 29: zum einen als eigenständiger Text mit dem Kürzel und Namen 4Q471b Self Glorification Hymn, zum anderen als Hymne einer Hymnensammlung, 4Q431 Hodayote Frag. 1.

Doch zurück zu unserer Hierarchie des Vermutungscharakters einer Rekonstruktion, mit der wir noch nicht am Ende sind, denn es gibt noch mindestens eine höhere Ebene. Im Laufe seiner Edition muss der Herausgeber unter anderem entscheiden, welchen Namen er dem Text der Rolle gibt, welches Genre dieser hat und welchen Inhalt. Die wenigsten Rollen enthalten den Titel ihrer Komposition (z.B. 1QS, 4Q249). Wenn es Parallelen mit einem anderen Text gibt, kann der Herausgeber entscheiden, dass seine Schriftrolle eine Kopie von einer bereits auf einer anderen Schriftrolle edierten Komposition ist. Je mehr Text einer Komposition bekannt ist, und je mehr Text beider Schriftrollen noch erhalten ist, desto sicherer ist dieser Schluss.

Was aber, wenn eine (rekonstruierte) Schriftrolle nur wenig Text enthält und eventuell nur zitiert? Was, wenn eine Rolle nur Fragmente des Anfangs einer Komposition enthält, eine andere nur Fragmente vom Ende der gleichen Komposition, ohne jegliche Überschneidung (vgl. Steudel, Midrasch, zu 4Q174 und 4Q177)? Die Editoren dieser Texte werden dann nur in Ausnahmefällen argumentieren, dass beide Schriftrollen Teile einer Komposition waren, beispielsweise wenn dieser Text eine besonders ausgefallene Terminologie verwendet oder die gleiche Hauptfigur im Zentrum steht (so z.B. bei 4Q390). In solchen Fällen kann Zweifel als Grundeinstellung vor Fehlschlüssen bewahren.

|53|Das oben genannte Beispiel der Self Glorification Hymn (1QHa, 4Q427, 4Q431 = 4Q471b) ist noch weitaus komplexer. Die Hymne weist starke wörtliche Parallelen zu 4Q491 Frag. 11 auf, einem Exemplar der Kriegsrolle. 4Q491 ist von Abegg später wiederum in zwei oder drei Rollen aufgeteilt worden (4Q491a, 4Q491b, 4Q491c). Einige sehen dabei Fragment 11 als unabhängigen Text (4Q491c), die Self Glorification Hymn, doch sind die Gründe für die Trennung von 4Q491b nicht gewichtig.

Wie auch immer es sei, viele Sätze in 4Q431 und 4Q491 Frag. 11 sind gleich. Allerdings längst nicht alle Sätze, und oft erscheinen sie in anderer Reihenfolge. Eine maximalistische Position der Mehrheit deutet 4Q431 und 4Q491 als zwei Rezensionen eines Textes. Die minimalistische Gegenposition sieht dagegen zwei getrennte Texte. Maximalisten benutzen Daten aus einer Rezension für die Interpretation der anderen, in der diese fehlen. Minimalisten lehnen dies ab (s. den Forschungsbericht bei García-Martínez, in diesem Fall selbst ein Minimalist). Die Konsequenzen sind immens: Für die Maximalisten handelt es sich um einen menschlichen Sprecher, der bei Gott wohnt und sich den Göttern/Engeln überlegen fühlt, vielleicht den Lehrer der Gerechtigkeit, vielleicht einen eschatologischen Priester, vielleicht jedes die Hymne rezitierende Gemeindemitglied. Für den Minimalisten ist es eine engelhafte Figur, z.B. Michael. Wie gesagt, dies ist ein Extrembeispiel, wenn auch ein besonders wichtiges (wir werden es im Teil über die Geschichte des Jachad genauer besprechen, S. 274). Die meisten Fälle sind wesentlich klarer.

Qumran

Подняться наверх