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3.2 Von der Fragmentengruppe zur Reihenfolge
ОглавлениеWenn ein Editor eine Fragmentengruppe, eine „Rolle“, zusammengestellt hat, liegt vor ihm immer noch die Aufgabe, die Fragmente in eine Reihenfolge zu bringen. Für die biblischen und anderen bekannten Texte (also alle Paralleltexte zu den „großen“ Rollen) ist dies, wenn die Fragmente nicht allzu klein waren, eine lösbare Aufgabe. Gibt es mehrere Handschriften mit parallelem Text, helfen die Details jedes Zeugen zur Entschlüsselung der Lesungen und Reihenfolge der anderen (so z.B. besonders für das Apokryphon Jeremias C und für 4Q434–438 Barkhi Nafschi). Ansonsten kann der Inhalt dem Ordnungsbewusstsein des Editors Hilfestellung leisten. Im schlimmsten Fall bleibt nur die Zuflucht zur Sortierung nach Größe.
Für die Rekonstruktion einer Rolle ist der Nachvollzug des Zerstörungsvorgangs entscheidend, ähnlich wie für Polizisten die Tatrekonstruktion. |54|Hartmut Stegemann und seine Göttinger Schüler, allen voran Annette Steudel, haben diese Methodologie am weitesten entwickelt. Dabei sind weniger der Text, sondern vielmehr die Konturen der Fragmentränder und wiederkehrende Löcher in den Fragmenten entscheidend. Oft sind Fragmentenstapel das Endresultat einer ursprünglich zusammengerollten Schriftrolle, die von Nagern zerfressen, von Würmern durchbohrt oder von Feuchtigkeit von innen oder von außen zersetzt worden ist. Ist sie zum Beispiel stehend in einem Krug aufbewahrt worden, wird ein Teil der Zerstörung durch ihr eigenes Gewicht verursacht und es fehlt dann der untere Teil (Pfann). Oft haben Rollen von innen so starken Druck gegen ihren eigenen Verschlussriemen ausgeübt, dass sie sich selbst zweigeteilt haben. Nähte, immer etwas dicker als der Rest eines Pergamentbogens, haben auf den Rücken der darüber gelegenen Windung gepresst – bis dort ein Riss entstanden ist. Vielfach verlaufen Bruchkanten gerade entlang der Linien, die mit einem scharfen Gegenstand gezogen worden waren, um dem Kopisten den Zeilenabstand oder die Spaltenmargen anzudeuten.
Der Stapel repräsentiert die Abfolge der Fragmente in den einzelnen Windungen der Rolle. Zwar war der Text stets auf der Innenseite, doch wissen wir nicht, ob die Rolle nach ihrer letzten Benutzung korrekt zurückgerollt worden war (wie man es früher oft und heute manchmal noch bei einem Mikrofilm in der Bibliothek vorfinden kann). War der Textanfang (das rechte Ende der Rolle) außen und das Textende (das linke Ende der Rolle) innen, konnte sie mit ihrem Verschluss verschlossen werden. Dann war sie oft enger zusammengerollt als eine Rolle, die nach dem Lesen nicht wieder korrekt zurückgerollt worden war. War der Textanfang innen, liegt das textlich erste Fragment im Stapel zuunterst.
Manchmal kann man derartige Stapel auch aus Einzelfragmenten rekonstruieren. Hier kommt die Stegemann-Methode ins Spiel. Die zerstörerische Arbeit der Nager und Mäuse hat nämlich oft mehrere Schichten sehr ähnlich betroffen. Man kann es anhand eines zusammengerollten Crêpes leicht zu Hause ausprobieren.
Ursprünglich übereinander lagernde Fragmente haben dann ähnliche Konturen oder einen Fleck, ein Loch, einen Spalt an der Stelle, wo sie früher einmal übereinander gelegen hatten. Die gleichen Konturen oder der gleiche Schaden wiederholen sich in berechenbaren Abständen. Es lohnt sich, auf der Website des Shrine of the Book die dort präsentierten fünf kompletten Schriftrollen anzuschauen und ihre Ränder auf wiederkehrende Zerstörungsmuster zu prüfen. Eine Rolle ist eine archimedische Spirale, oder vereinfacht gesprochen eine Gruppe konzentrischer Kreise, deren Umfang (nach der Formel U = 2∙π∙r) mit nach innen abnehmendem Radius |55|immer kleiner wird. Von außen nach innen wird der Abstand zwischen jeder Schicht immer um 0,1 bis 0,3 cm geringer. Wie viel genau hängt von der Pergamentdicke ab, und davon, wie fest die Rolle zusammengewickelt gewesen ist. So lassen sich plötzlich aus scheinbar völlig unverbundenen Fragmenten ganze Rollen rekonstruieren. Viele Editoren haben diese erst nach 1960 entwickelte, sehr zeitaufwendige Methode nicht verwendet, so dass hier in der Zukunft noch neue Erkenntnisse zu erwarten sind.