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1.2 Die Entdeckung 1946/1947

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Die Entdeckungsgeschichte ist legendär. Letzte Wahrheiten sind schwierig zu erreichen. Wir schreiben das Jahr 1946 oder 1947. Der Zweite Weltkrieg ist beendet. Großbritannien bereitet sich darauf vor, das seit der Eroberung 1917 unter sein Mandat gestellte Palästina zu verlassen. Seit 1936 brechen immer wieder Unruhen zwischen Arabern und Juden aus. Beide wissen, es werde eine größere Auseinandersetzung geben, sollte es zur Gründung eines jüdischen Staates kommen. Praktisch ist es ein Bürgerkrieg auf kleiner Flamme.

Ende 1946 oder Anfang 1947 sucht Mohammad edh-Dhib („der Wolf“) vom Beduinenstamm Ta‘amireTa‘amire in den Berghängen auf der Nordostseite des Toten Meeres unweit von Jericho nach einer verirrten Ziege, vielleicht auch nach einem geeigneten Versteck, denn Waffenschmuggel ist eine gute Verdienstquelle für die Bewohner der Wüste. Wir werden es nie genau wissen. Edh-Dhib gibt an, sich in den Schatten eines Felsen gesetzt und spielerisch Steine in eine nahegelegene Öffnung geworfen zu haben. Als er Geschirr zerspringen hört, flieht er zunächst zu seinem Stamm, um am nächsten Tag mit seinem Cousin zurückzukommen. Durch die kleine Öffnung dringen sie in die Höhle ein und finden inmitten unzähliger Scherben acht intakte Krüge, die sich bis auf einen als leer entpuppen. Dieser Krug enthält kein Gold, sondern nur drei in Tuch eingewickelte Rollen in einer ihnen unbekannten Schrift. |9|Obgleich sie enttäuscht sind, keinen Schatz vorgefunden zu haben, kehren sie noch einmal in die Höhle zurück und entnehmen ihr noch vier weitere Rollen.

Sie versuchen, ihre Funde bei Antiquitätenhändlern in der nächstgelegenen Stadt, Bethlehem, zu Geld zu machen. Ein Händler namens Faida Salahi (George Isaiah) erwirbt drei Rollen. Ein anderer, Khalil Iskandar Schahin (1910–1993), genannt KandoKando, erwirbt vier andere. Kando hält die Schrift für Syrisch und bringt sie ins St. Markus Kloster in Jerusalem. Der frisch ernannte syrische Metropolit Mar Athanasius Jeschua SamuelMar Athanasius Jeschua Samuel (1909–1995) kauft ihm diese vier Rollen ab und zeigt sie in den Sommermonaten verschiedenen Gelehrten und Mittelsmännern an der École Biblique et Archéologique und der jüdischen Nationalbibliothek im in Zonen aufgeteilten Jerusalem. Kein Fachmann hält sie für antik.

Der Archäologe und Epigraphiker der Hebräischen Universität, Eliezer SukenikEliezer Sukenik (1889–1953), wäre ohne Zweifel der beste Ansprechpartner, doch weilt er im Freisemester im Ausland. Am 24. November 1947 kontaktiert ein armenischer Mittelsmann Salahis den jüdischen Professor und zeigt ihm am Jaffator durch einen Stacheldrahtzaun ein Fragment. Sukenik stellt aufgrund seiner vorherigen Arbeiten zu antiken Inschriften sogleich Ähnlichkeiten der Schrift fest, bemerkt auch orthographische Besonderheiten und vermutet, die Rollen könnten tatsächlich antik sein. Doch ist bislang kein einziger antiker hebräischer Text auf Pergament bekannt. Sicher ist sich seit dem Skandal um die Shapira-Fragmente Ende des 19. Jahrhunderts so schnell niemand mehr.

Die sogenannten Shapira-FragmenteShapira-Fragmente waren fünfzehn Lederfragmente in paläohebräischer Schrift mit einem Text ähnlich dem des Deuteronomiums. Ein Antiquitätenhändler namens Moses Shapira hatte sie 1878 von Beduinen erworben. Diese gaben an, die in Leinen gewickelten Texte um 1865 in einer Höhle im Wadi Mujib auf der jordanischen Seite des Toten Meeres gefunden zu haben. Nach anfänglich großem Aufsehen scheiterte er 1883 mit Verkaufsverhandlungen an Museen in Berlin und London und wurde sogar der Fälschung bezichtigt. In der Folge nimmt sich Shapira das Leben. Form, Inhalt und Entdeckungsumstände der Qumranrollen widerlegen einen Teil der vormals gegen die Authentizität der Fragmente angeführten Argumente. Dass sie seit 1888 vermisst sind, macht neuen Untersuchungen allerdings einen Strich durch die Rechnung.

Nur fünf Tage später ist die Abstimmung in der Vollversammlung der frisch gegründeten Vereinten Nationen über die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat. An eben diesem Tag wagt es Sukenik (dessen einer Sohn, Matti, im Krieg fällt, während der andere, Yigael Yadin, wenig später Oberbefehlshaber |10|der israelischen Streitkräfte sein wird) in einem arabischen Bus nach Bethlehem zu fahren. Er kauft Salahi zwei seiner drei Rollen ab. Es handelt sich um die Kriegsregel (1QMilhama) und die Hymnenrolle (1QHodayota). Mit der Abstimmung in den Abendstunden bricht der Bürgerkrieg offen aus. Trotzdem schafft es Sukenik Ende Dezember 1947, auch die zwei Krüge und die dritte und letzte Rolle im Besitz Salahis, die „kleine“ Jesajarolle (1QIsaiahb), noch zu erwerben.

Als Sukenik erfährt, dass die Rollen aus einer Höhle im Nordosten des Toten Meeres stammen, kommt ihm ein heute berühmter Passus aus Plinius dem Älteren in den Sinn, der die Essener hier verortet (s.u. S. 78). Sukenik kennt auch den von Jeremia erwähnten Usus, Texte in Tongefäßen vor Ratten und Würmern zu schützen: „So spricht der Herr der Heere, der Gott Israels: Nimm diese Urkunden, die versiegelte Kaufurkunde und auch die offene, und leg sie in ein Tongefäß, damit sie lange Zeit erhalten bleiben.“ (Jer. 32,14). Der Talmud erwähnt das Begräbnis einer unbrauchbar gewordenen Torarolle in einem Krug (bMeg 26b). Sukenik schließt daraus: die Schriftrollen kommen aus einer essenischen Geniza.

Das Wort GenizaGeniza wird von der Wurzel g-n-z („verbergen“) abgeleitet und bezeichnet allgemein einen Ort, an dem Schriften gesammelt werden, die den Gottesnamen enthalten (oder enthalten könnten) und nach der jüdischen Tradition deshalb nicht einfach weggeworfen werden dürfen. Normalerweise werden die in einer Geniza angesammelten Schriften nach einiger Zeit auf einem Friedhof beerdigt. Seit wann diese Institution besteht, ist unklar. Die ältesten schriftlichen Erwähnungen sind talmudisch (bShab 115a). In der mittelalterlichen Kairoer Geniza wurden Dokumente gefunden, die sonst nur in Qumran belegt sind (s.u. S. 14).

In den ersten beiden Monaten des Jahres 1948 verhandelt Sukenik erfolglos auch mit Mar Samuel, dessen vier Rollen er ebenfalls erwerben möchte. Die Amerikaner sind schneller. Am 19. Februar 1948, etwa ein Jahr nach ihrer Entdeckung, werden Samuels Rollen zur American School of Oriental Research gebracht, dem heutigen Albright-Institut nördlich der Altstadt. Ein Postdoktorand, John TreverJohn Trever (1916–2006), vertritt dort den gerade auf Forschungsreise im Irak weilenden Direktor, Millar Burrows. Er erkennt, dass die große Rolle eine Jesajahandschrift ist. Außerdem hat er eine Sammlung mit Dias zur Geschichte des Bibeltextes bei sich, unter denen auch ein Foto des Nash-Papyrus ist, so dass auch er das mögliche hohe Alter der Qumranrollen erkennt.

|11|Der Nash-PapyrusNash-Papyrus, heute in Cambridge, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von W. Nash in Ägypten erworben. Dieses (fragmentarische) Einzelblatt enthält den Dekalog gefolgt vom Schma. Es handelt sich um die einzige andere damals bekannte vorchristliche hebräische Handschrift. Vielleicht war sie ein liturgischer Merkzettel oder aber ein Amulett. 1903 von Stanley Cook veröffentlicht, wurde sie von ihm zunächst auf das zweite Jahrhundert n. Chr. datiert. 35 Jahre später konnte William Albright bereits mehr aramäisches und nabatäisches Vergleichsmaterial für seine minuziöse paläographische Studie verwenden und die Schrift in das zweite vorchristliche Jahrhundert datieren. Ein Foto ist auf der Webseite http://cudl.lib.cam.ac.uk/view/MS-OR-00233/1 einsehbar.

Ein glücklicher Zufall will, dass Trever ein talentierter Fotograf ist und die Erlaubnis aushandeln kann, die Rollen zu fotografieren. Bis heute gehören seine Fotos zu den wichtigsten Urkunden, denn im Laufe der Geschichte haben auch diese „großen“ Rollen immer wieder unter abbrechenden Fragmenten gelitten. Trevers Fotos werden zum führenden amerikanischen Experten William Albright geschickt, der das hohe Alter der Schrift bekräftigt. Am 12. April 194812. April 1948 informiert Burrows die Weltöffentlichkeit mit einer PressemitteilungPressemitteilung zum ersten Mal über die Entdeckung der ältesten biblischen Handschrift aus dem ersten Jahrhundert v. Chr., der „großen“ Jesajarolle (1QIsaiaha = 1QIsaa), eines Habakukkommentars (1QPesher Habakuk = 1QpHab), des „Manual of Discipline“ einer unbekannten Sekte, „möglicherweise der Essener“ (Gemeinschaftsregel = 1QSerekh Hayahad = 1QS) und einer vierten nicht identifizierten Rolle (des späteren Genesisapokryphons), „entdeckt im Kloster St. Markus“. Kurz darauf publiziert auch Sukenik eine Pressemitteilung über die Rollen im Besitz der Hebräischen Universität.

Am 14. Mai 1948 ruft David Ben Gurion die Gründung des Staates IsraelsGründung des Staates Israels aus. Die arabischen Nachbarstaaten reagieren mit offenem KriegKrieg, und es wird nach einer ohnehin schon unsicheren Zeit nun völlig unmöglich, offizielle archäologische Expeditionen durchzuführen. Dennoch wagen es einige der involvierten Mittelsmänner, illegale Erkundigungen in der Höhle fortzusetzen und weitere Fragmente zusammenzutragen. Während der Belagerung Jerusalems bringt Sukenik das Kunststück zustande, die erste wissenschaftliche Studie über die Rollen zu veröffentlichen.

Die kulturpolitische Bedeutung der KoinzidenzBedeutung der Koinzidenz der Entdeckung der letzten Überreste einer jüdischen Bibliothek mit hebräischen Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels inmitten der Geburtswehen des neuen Staates Israel ist kaum zu überschätzen. Sie kommt einem Telefonanruf aus der Vergangenheit nahe. In einem Staat |12|mit neugegründeten Städten wie Tel Aviv ohne antike Gebäude, mit einer sehr jungen Bevölkerung und wenig alten Leuten, gab es plötzlich Texte aus der Zeit des letzten jüdischen Staates 2000 Jah re zuvor, von denen viele ohne größere Schwierigkeiten von Schulkindern entziffert werden konnten! Nicht von ungefähr sollte der junge Staat später viele Kräfte daran setzen, die Rollen in Jerusalem zusammenzutragen und auszustellen. Sie waren immer auch ein politisch unschätzbares Zeugnis der jüdischen Alteingesessenheit im Heiligen Land, eine Verbindung des wiedergeborenen Staates zu den letzten jüdischen Regenten im Lande.

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