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1.1 Die Bedeutung der Funde von Qumran

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Qumran – wenige Worte haben im letzten Jahrhundert eine größere, fast magische Anziehungskraft auf Erforscher des Judentums und Christentums, Scharlatane und Sensationslustige, Journalisten und Kriminalautoren, Fachleute und Laien ausgeübt als der Name |4|des Fundortes der Qumran-Rollen am Toten Meer. Filmreif ist nicht nur die Entdeckungsgeschichte durch Beduinen, der erste Ankauf am Vorabend des UNO-Votums zum Teilungsplan des britischen Mandatsgebiets Palästina, sondern auch die Beteiligung des israelischen Geheimdiensts an späteren „Erwerbungen“, der dreißigjährige Krieg um ihre Publikation, Verdächtigungen, der Vatikan verhindere die Veröffentlichung wichtiger Schriften, antisemitische Ausfälle zentraler Beteiligter, „Pirateneditionen“ durch Reverse Engineering junger Computerfreaks, Gerichtsprozesse um Diebstahl geistigen Eigentums und Annahme falscher Identitäten, um andersdenkende Forscher zu diffamieren. Manchen Forschern fiel es nicht leicht, in derartig ungewöhnlichen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch ganz objektiv haben nur wenige archäologische Funde eine ähnliche Neuinterpretation bekannter Daten in gut erforschten Forschungsgebieten ausgelöst. Die Fakten sprechen für sich:

Die Fragmente von mehr als 1000 Schriftrollen stellen die größte Sammlung antiker religiöser Schriftengrößte Sammlung antiker religiöser Schriften dar. Die frühesten datieren aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., die jüngsten aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., einer Schlüsselperiode für die Geburt zweier noch heute lebendiger Religionen: rabbinisches Judentum und Christentum. Vor 1946 gab es eine große Lücke zwischen der vermuteten Redaktionszeit der jüngsten Bücher der Hebräischen Bibel in der hellenistischen Zeit (zweites Jahrhundert v. Chr.) und den ältesten erhaltenen hebräischen Handschriften vom Ende des ersten Jahrtausends n. Chr. Dazwischen liegen zwar die Redaktionszeiten der klassischen rabbinischen Texte, Mischna, Talmud, Midrasch. Doch auch sie waren bis ins frühe Mittelalter nur mündlich überliefert. So bleibt, selbst wenn man die Redaktionszeit des frühesten dieser Texte, der Mischna, im dritten Jahrhundert als Maßstab nimmt, immer noch eine Kluft zwischen dem zweiten Jahrhundert vor und dem dritten Jahrhundert nach Christus.

Mit der Entdeckung gibt es plötzlich Reste hunderter hebräischer und aramäischer Bücher aus eben dieser unbekannten Zwischenzeit. Die entdeckten Handschriften von Büchern der Hebräischen Bibel, ungefähr ein Viertel aller um Qumran gefundenen Rollen, sind immerhin etwa 1000 Jahre älter als die bis dato älteste vollständige Bibelhandschrift. Sie geben völlig neue Einsichten in die Textgeschichte. Zum Beispiel liefern sie für die antike griechische Übersetzung der Bibel (die sogenannte Septuaginta) Belege, dass es den dahinter liegenden hebräischen Text wirklich einmal gegeben hat. Ja, für manche Bücher geben sie sogar Einblick in den Vorgang der Fortschreibung. Nicht nur das! Differenzen in der Orthographie relativieren die traditionelle Tiberiensische Vokalisierung. |5|Die Kanongeschichte kann völlig neu aufgerollt werden. Ohne Zweifel haben die Rollen und Fragmente unser Verständnis der Überlieferung und Überarbeitung der Bücher der Hebräischen Bibel und ihrer Übersetzungen grundlegend geändert.

Die Rollen von Qumran verschaffen uns die Möglichkeit, das Judentum des Zweiten Tempels Direktzugangdirekt zu studieren. Bis 1946 war dies nur indirekt möglich. Man vergisst oft, dass wir bis auf ein paar Papyrusfragmente alle anderen Texte, Flavius Josephus, Philon, Pseudepigraphen und Apokryphen nur dank christlicher Schreiber aus der Antike und dem Mittelalter haben. Auf jüdischer Seite ist neben der Hebräischen Bibel nur die rabbinische Literatur überliefert worden, die zu einem neuen Kanon des nun erst entstandenen rabbinischen Judentums geworden ist. Alles, was nicht in die christliche oder die rabbinische Sichtweise passte, wurde nicht weiter abgeschrieben. Auf christlicher Seite hieß das oft, dass nur Schriftstücke, die in der Perspektive der kopierenden Mönche einen Beitrag zum Verständnis des Neuen Testamentes leisteten, der Mühe des Abschreibens wert waren. Dazu gehörten neben der Septuaginta und den anderen Übersetzungen der Hebräischen Bibel in erster Linie Josephus (eine der ganz wenigen antiken Quellen, die Jesus, Jakobus und Johannes den Täufer erwähnen); Philon von Alexandrien (der manchen als zum Christentum konvertierter jüdischer Philosoph galt); Schriften wie 1. Henoch, die im Neuen Testament zitiert werden, oder 4. Esra und die Psalmen Salomos, die über die Ankunft des Messias sprechen. Und wo diese Zeugnisse christologisch nicht deutlich genug waren, wurden sie im Laufe der Zeit von den christlichen Kopisten „verbessert“ oder überhaupt erst in die Quellen hineingeschrieben (z.B. in den Testamenten der Zwölf Patriarchen).

Die Rabbinen verzichteten ganz auf die eigenständige Überlieferung nachbiblischer vorrabbinischer Texte und integrierten allenfalls gewisse Traditionen in ihre neuen Kompositionen. Die von rabbinischen und christlichen Schreibern überlieferten Texte und Traditionen schränken also unsere Wahrnehmung des antiken Judentums auf diejenigen Texte und Traditionen ein, die späteren orthodoxen Kreisen genehm waren.

Qumran ermöglicht den direkten Einblick in gewisse Teile des Judentums des Zweiten Tempels ohne die Selektionsgeschichte der christlichen und jüdischen Tradition. Bis 1946 nur äthiopisch, griechisch, lateinisch oder syrisch überlieferte Schriften wie 1. Henoch, das Jubiläenbuch, Tobit oder Sirach wurden in ihrem hebräischen oder aramäischen Original zugänglich. Für eine Anzahl zentraler Genres jüdischer Literaturgeschichte geben die Qumranrollen das älteste Zeugnis ab: für die ersten exegetischen Werke, die den zitierten |6|Text explizit von seiner Auslegung trennen; bestimmten Themen gewidmete halakhische Traktate; liturgische Gebetsbücher; magische Schriften, mystische Vorstellungen, vorher für unmöglich gehaltene Verbindungen von Weisheit und Apokalyptik. Erst in den letzten Jahren sind die Qumranrollen als Zeugnisse für das antike Judentum, nicht nur einer exklusiven jüdischen Sekte, dem Jachad, wirklich ernst genommen worden.

Auch wenn wir die Standardthese vertreten, die die Besitzer der Bibliothek mit den Essenern identifiziert, werden wir in diesem Lehrbuch für die Gruppe hinter diesen Schriftrollen ihre Selbstbezeichnung verwenden, also „JachadJachad“ (und „jachadisch“), um nicht durch die Verwendung von „Essenern“, „Sekte“ oder „Qumrangruppe“ soziologische oder geographische Vorentscheidungen für die Interpretation treffen zu müssen. Auch in englischen Publikationen sind viele dazu übergegangen, neutral von „Yahad“ (und „Yahadic“) zu sprechen.

Die neu entdeckten halakhischen Handschriften gestatten Einsicht in die unterschiedlichen Lehrmeinungen, die in den jüdischen Strömungen zum Ende der Zeit des Zweiten Tempels eine Rolle spielten. Juristische Fachtermini, literarische Genres, Ableitungen aus biblischen Texten stimulieren die Diskussion zu den Entstehungsumständen auch des rabbinischen Judentums.

Und doch wäre all dies vermutlich nur für einen begrenzten Kreis von Spezialisten und Freunden des antiken Judentums von herausragender Bedeutung gewesen, gäbe es da nicht noch die zeitliche, geographische und oftmals inhaltliche Nähe zu Jesus, Johannes dem Täufer und Paulus, zum Urchristentum und seinen Schriften. Bis 1946 musste man zum Studium des Neuen Testamentes vor allem gute Griechischkenntnisse vorweisen. Jesus sprach zwar Aramäisch. Doch dafür gab es keine zeitgenössische Literatur. Hebräisch selbst aber galt meist als tote Sprache, auch wenn Segal angefangen hatte zu beweisen, dass dem nicht so war. Vergleichsliteratur zum Neuen Testament waren die Schriften des hellenistischen Judentums, Kirchenväter und klassische Autoren. Dazu kamen auch die Schriften der Hebräischen Bibel, des Alten Testamentes, relevant allerdings nicht in ihrer hebräischen Fassung, sondern in griechischer Übersetzung, in der Form der Septuaginta. Das Studium der restlichen hebräischen Literatur – Mischna, Talmud, Midraschim – diente in den allermeisten Fällen dazu, die große Differenz des Christentums zum rabbinischen Judentum herauszustreichen. Von jüdischer Seite konnte das Christentum als marginale Interpretation hellenisierter Strömungen des Judentums des Zweiten Tempels abgetan werden.

|7|Mit der Entdeckung der Qumranrollen gab es plötzlich ein großes Korpus hebräischer Literatur aus den hellenistischen und römischen Epochen mit Bezügen auf exegetische und halakhische Traditionen der rabbinischen Literatur, aber ebenso oft auch mit Kontrasten. Ohne Übertreibung kann man feststellen, dass vor allem auch aufgrund der aus den Qumranrollen gewonnenen Erkenntnisse das Urchristentum in seinen unterschiedlichen Strömungen heute viel stärker im Judentum des Zweiten Tempels verwurzelt gesehen wird, genauer als eine weitere Strömung innerhalb des mannigfaltigen antiken Judentums Judäas/Palästinas.

Vieles von dem, was vorher als christliches Proprium gegolten hatte, war nun erstmals in antiken jüdischen Texten attestiert, noch dazu auf Hebräisch. Besonders große Aufmerksamkeit galt der Messianologie. Eine eschatologische Heilsfigur als Sohn Gottes? Ein leidender Messias? Die Deutung bestimmter prophetischer Texte auf den Messias? Prophetisch inspirierte Schriftauslegung? Seligpreisungen? Ein Kultmahl mit Brot und Wein? Ausdrücke wie „Werke des Gesetzes“? Nicht alles ist stichhaltig, aber die Präsenz all dieser Punkte in den Qumranrollen muss zumindest diskutiert werden.

Und für die Historiker kommt noch dazu, dass – im Gegensatz zum Urchristentum – die Schriftrollen mit archäologischem KontextSchriftrollen einen archäologischen Kontext haben. Wenn man die Siedlung als Wohnsitz der Eigentümer der Rollen identifiziert, wie es die Mehrheit weiterhin tut, können Rolle und Siedlung, Text und Kontext, Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Realität, Reinheitsliturgie und Mikve, Gleichheitsideal und Friedhof miteinander in Beziehung gesetzt werden. Bis vor wenigen Jahren war dieser Punkt vielleicht der umstrittenste, doch haben die Erkenntnisse der modernen Physik und Chemie hier neue Sicherheiten gewonnen. Wie würden sich Historiker des frühen Christentums oder der tannaitischen rabbinischen Literatur über ähnliche Entdeckungen freuen! Bis zu den ersten archäologisch verifizierten christlichen Bauwerken in Dura Europos und Megiddo müssen wir bis ins dritte Jahrhundert warten – ohne darin bislang die Literatur ihrer Bewohner in ähnlicher Masse gefunden zu haben. Die christlichen Papyri stammen fast ausschließlich von antiken Müllhalden in Ägypten, nur selten aus Bauten mit archäologischem Kontext. Die schiere Masse der Qumranrollen stellt alles andere in den Schatten. Alle christlichen griechischen Papyri bis zum fünften Jahrhundert zusammengenommen entsprechen etwa der Hälfte der Zahl der Qumranrollen.

Auch auf sprachwissenschaftlichem Gebiet haben die Qumranrollen unsere Kenntnis der hebräischen Sprache revolutioniert. Das in den Qumranrollen bezeugte Hebräisch schließt eine große Lücke |8|zwischen den jüngeren Werken der Hebräischen Bibel und den ältesten Straten der rabbinischen Literatur. Dies gilt – vor allem auch aufgrund der Bar Kosba Texte von anderen Fundorten um das Tote Meer – auch für das Aramäische.

Schließlich profitiert auch die antike Buchkunde, Kodikologie (Lehre über den Aufbau von Büchern) und Paläographie (Erforschung der Geschichte der Schrift). Für das Studium einer Religion, die genau in dieser Periode begann, das Buch mehr und mehr ins Zentrum ihres Kultes zu stellen, ist das Wissen über die physische Beschaffenheit von Büchern absolut fundamental. Gab es neben Rollen noch andere Buchformen? Gab es schon Rollen, die die ganze Tora einschlossen? Inwiefern bestimmten Inhalt oder Zweck das Layout einer Rolle? Gab es private Abschriften heiliger Texte? Wie unterscheiden sie sich von liturgischen Rollen? Welche Zusatzzeichen erfanden die Schreiber, um Lesen und Vorlesen zu unterstützen (Aufteilung in Paragraphen, Titel)? Wie wurden Korrekturen angezeigt?

Qumran

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