Читать книгу Im Schatten der Prophezeiung - Daniela Hochstein - Страница 10
Kapitel 6 – Der Bruch
ОглавлениеToran lag da, seinen durch Tränen verschwommenen Blick auf den Himmel gerichtet, der sich langsam verdunkelte. Die ersten Sterne leuchteten auf und die Luft wurde merklich kühler. Zu Schmerzen und Selbstvorwürfen gesellte sich mit fortschreitender Uhrzeit auch noch die Verzweiflung. Immer wieder versuchte Toran, nach Hilfe zu rufen, doch selbst das tiefe Luftholen bereitete ihm Qualen in seinem Bein, sodass seine Rufe nicht sehr laut waren. Als die Angst ihn schließlich zu überwältigen drohte, begann er leise und mit zittriger Stimme zu singen, weil er mal gehört hatte, dass man keine Furcht empfinden kann, solange man singt. Naja, die Theorie traf auf Toran jedenfalls nicht zu, also gab er es wieder auf.
Irgendwann beschloss er, sich wider aller Schmerzen dennoch aufzuraffen, um irgendwie nach Hause zu kriechen, aber er schaffte es gerade eben, den Oberkörper etwas zur Seite zu neigen und um ein paar Zentimeter anzuheben, da schrie er schon auf und ließ sich zurück auf den Boden sinken.
Es verging so noch eine Stunde, als Toran plötzlich Gebell hörte. Voller Hoffnung lauschte er und rief sofort wieder nach Hilfe, diesmal sogar lauter, weil er den Schmerz für einen kurzen Moment der Euphorie in den Hintergrund zu drängen vermochte. Und tatsächlich, ein Hund näherte sich. Toran hörte ihn schon lange, bevor er ihn in der Dunkelheit überhaupt sehen konnte. Sobald der Hund ihn erreicht hatte, wedelte er aufgeregt mit dem Schwanz und brach in alarmierendes Gebell aus. Bald darauf tanzten die Lichter von Taschenlampen wie übergroße Glühwürmchen heran, begleitet von Männerstimmen.
Unendlich erleichtert schloss Toran die Augen und wartete, bis die Männer bei ihm angekommen waren.
„Alles in Ordnung, Junge?“, fragte ihn einer der Männer. Toran schlug die Augen wieder auf und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, mein Bein ist gebrochen.“
Der Mann – der Uniform nach Polizist - richtete den Kegel seiner Taschenlampe auf Torans Beine und sog scharf die Luft ein, wobei er mit seinem Kollegen, der mittlerweile neben ihm stand, einen ernsten Blick austauschte.
„Hast du denn noch Gefühl in den Beinen?“, fragte er daraufhin und Toran nickte.
„Allerdings! Wenn es jetzt gerade jedoch etwas weniger wäre, hätte ich nichts dagegen...“ Toran versuchte, zu lächeln, aber es musste wohl eher gequält wirken, denn der Blick der Polizisten drückte lediglich Mitleid aus. Dann zückte der eine sein Funkgerät, entfernte sich ein Stück und verlangte nach einem Rettungsteam.
Torans Bergung war äußerst umständlich gewesen, da es zu dem Unfallort keinen Weg gab, den der Rettungswagen hätte befahren können. Toran hatte allerdings von alledem nicht viel mitbekommen. Der erste Sanitäter, der bei ihm eingetroffen war, hatte ihm direkt ein äußerst wirkungsvolles Mittel gegen die Schmerzen verabreicht, sodass Toran eingeschlafen war.
Als er wieder erwachte, befand er sich im Krankenhaus. Er lag auf einem Bett in dem Halbdunkel einer Nachtlampe. Die Schmerzen waren zwar noch da, aber deutlich milder. Um sein rechtes Bein spürte er etwas Warmes, Festes, und als er an sich herab blickte, konnte er erkennen, dass es hochgelagert war und von oben bis unten in einem Gips steckte.
„Na, wie geht es dir?“, hörte Toran plötzlich Heikes Stimme neben sich. Kurz darauf sah er ihr Gesicht, das sich von der Seite über ihn beugte. Sie hatte wohl neben ihm gesessen und war aufgestanden, nachdem sie gemerkt hatte, dass er erwacht war.
Toran verzog die Mundwinkel.
„Zumindest schon besser, als noch vorhin...“
„Wie ist das denn passiert?“ Heikes Blick drückte vorrangig Sorge aus. Aber eine gewisse Skepsis war gleichfalls nicht zu übersehen.
„Ich weiß es nicht genau. Ich muss irgendwie abgerutscht sein, glaube ich...“
„Aha...“
Mit seiner Ausrede würde Toran nicht weit kommen, das erkannte er allein an Heikes Tonlage. Aber vielleicht blieb ihm noch etwas Zeit, sich eine glaubhaftere Erklärung auszudenken. Vielleicht ein Tier, das er hatte vor dem Absturz retten wollen, wobei er selbst hinunter gestürzt ist. Oder aber...
Toran kam nicht weiter mit seinen Überlegungen. Unvermittelt riss Heike ihn mit ihrer Frage heraus.
„Toran, bitte sage mir jetzt ganz ehrlich: wolltest du Selbstmord begehen?“
Toran blieb der Mund offen stehen.
„Nein! ... Nein, ich wollte keinen Selbstmord begehen! Was soll denn die Frage?“
Heike betrachtete ihn lange schweigend. Dann tat sie einen tiefen Atemzug.
„Du weißt, Toran, dass du überraschend glimpflich davon gekommen bist, oder? Die Ärzte sprechen von einem Wunder, dass nicht viel mehr und viel Schlimmeres passiert ist. Mensch Toran, du hättest tot sein oder für immer im Rollstuhl landen können! Warum in Gottes Namen bist du denn da runter gesprungen?“
Toran wand sich innerlich.
„Aber warum bestehst du darauf, dass ich gesprungen bin? Ich bin abgerutscht. Das habe ich doch schon gesagt...“
Heike versah Toran mit einem Blick, der nur zu deutlich erkennen ließ, dass sie ihm nicht glaubte.
„Ehrlich!“, setzte Toran daraufhin nach.
„Toran, du kannst mir ja viel erzählen, aber dass du so dumm bist, an einem steilen Abhang herum zu balancieren und dann noch dazu so ungeschickt, dass du abrutschst... Das passt nicht zu dir! Dafür kenne ich dich zu gut. Vielmehr denke ich an das Thema, über das wir heute Morgen gesprochen haben sowie dein Verhalten in den letzten Monaten... Das wäre alles schon sehr zufällig, findest du nicht?“
Toran starrte auf sein eingegipstes Bein und schwieg.
„Naja, du kannst mir die Antwort auch später geben. Weglaufen kannst du ja jetzt vorerst nicht, um dich noch einmal irgendwo herunter zu stürzen... Morgen rufe ich den Psychiater an und werde einen Termin bei ihm vereinbaren.“ Mit diesen Worten ging Heike zur Tür. Am Türrahmen blieb sie noch einmal stehen.
„Ich fahre jetzt nach Hause. Morgen kann ich dich abholen, haben die Ärzte gesagt. Diese Nacht wollen sie dich noch überwachen. ... Schlaf gut und denke vielleicht mal über meine Worte nach.“ Und damit verließ Heike den Raum.
Toran blieb nichts anderes übrig, als mit einem Grummeln im Bauch zurückzubleiben und auf seine Situation zu fluchen. Heike hatte recht. Er konnte nun nicht weglaufen. Genau genommen konnte er zur Zeit gar nicht laufen und war Heikes Plan damit hilflos ausgeliefert.
Am nächsten Morgen wurde Toran früh geweckt, wobei er den Grund nicht wirklich verstand, musste er sich auf diese Weise bloß so lange in seinem Bett langweilen, bis er endlich frühstücken konnte und von Heike abgeholt wurde. Nicht einmal Krücken hatten ihm die Schwestern bereitgestellt, mit denen er solange wenigstens hätte üben können. Erst als Heike eintraf und ihm passende Kleidung zum Anziehen mitbrachte, wurden ihm auch die Gehstützen gegeben. Nachdem sich das Anziehen, zumindest der Hose, als gar nicht so einfach mit dem sperrigen Gipsbein erwies, gestalteten sich jedoch Torans erste Gehversuche als nahezu unmöglich. Trotz Medikamenten und Schiene bereitete ihm doch jede Bewegung oder gar Erschütterung des Beines erhebliche Schmerzen, ganz zu schweigen von dem furchtbaren Pochen, das er darin spürte, sobald es sich unterhalb der Waagerechten befand. So gestaltete es sich schon mehr als mühsam, allein bis zur Tür des Zimmers zu kommen, worauf er für den Rest des Weges bis zu Heikes Auto kurzum in einen Rollstuhl gesetzt wurde. Dort angelangt, wartete dann die nächste Hürde auf ihn, denn es erwies sich als äußerst umständlich, mit dem geradegestellten Bein überhaupt in den kleinen Wagen einzusteigen. Erst nach einigem hin und her saß er endlich auf dem Beifahrersitz und es konnte losgehen. Allerdings hatte dieser Akt Toran schon genügt, um seine derzeitige Situation mehrfach zu verfluchen, und an die nächsten Wochen mochte er gar nicht denken.
Während der Fahrt war Heike sehr schweigsam. Toran wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder es eher als ein Warnzeichen aufnehmen sollte. Hatte sie den Termin bei dem Psychiater schon vereinbart? Gerne hätte er es gewusst, und er überlegte ernsthaft, ob er dem Ganzen nicht entgehen könnte, wenn er mit Heike über die Wahrheit sprechen würde. Die Möglichkeit des Widerstandes oder gar der Flucht blieb ihm in Anbetracht seiner derzeitig sehr bescheidenen Selbständigkeit ja leider verschlossen. Abgesehen davon, wäre das ohnehin keine dauerhafte Lösung gewesen. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, Heike in seine inneren Nöte einzuweihen, in der Hoffnung, dass sie zu ihm stand, wie sie es eigentlich immer getan hatte. Warum vertraute er nicht einfach darauf? Ja, es war absurd, ihr zu erklären, dass er irgendeine eigenartige Verbindung zu einem Drachen hatte und deswegen geglaubt hatte, fliegen zu können. Aber wenn er ihr von seiner Muttersprache erzählte, von dem Pfeil... Wären diese Tatsachen womöglich in der Lage, Heike auch von Dingen zu überzeugen, die zunächst hanebüchen erscheinen mochten?
Toran räusperte sich, doch Heike reagierte nicht darauf.
„Ähm, hast du eigentlich den Termin schon gemacht?“, fragte er kleinlaut.
Heike schüttelte den Kopf.
„Die Sprechzeiten beginnen erst später. Ich rufe gleich bei ihm an, wenn wir wieder zu Hause sind.“
Das war Torans Chance. Er konnte es also noch abwenden.
„Du wolltest doch von mir wissen, warum ich gesprungen bin...“, begann er verhalten, worauf Heike ihm einen flüchtigen Blick von der Seite zuwarf.
„Ja, das würde ich immer noch gerne wissen!“
„Also...“ Toran war sich unsicher, wie er es anfangen sollte. „Du weißt doch noch, wie ich damals zu euch gekommen bin...“
Jetzt musste Heike ungewollt grinsen.
„Na, da bin ich ja jetzt gespannt, was du für eine Geschichte erzählst. Natürlich weiß ich es noch!“
Wieder räusperte Toran sich.
„Ich habe damals ja erst die Sprache lernen müssen, weil meine Muttersprache eine andere war...“
„Ja, richtig.“
„Meine Muttersprache aber...“ Toran zögerte, denn jetzt wurde das Eis wirklich dünn. „Es gibt sie nicht in dieser Welt.“
Toran konnte sehen, wie Heikes Stirn sich kritisch zusammenzog. Kurz schaute sie zu Toran herüber und musterte ihn prüfend.
„Und wo kommt sie dann her?“
Toran antwortete nicht sofort. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Niemals würde sie ihm glauben!
„Ach, nichts. Ich weiß auch nicht, ich habe mir das einfach mal so überlegt...“, brach er ab und starrte aus dem Fenster. Irritiert sah Heike ihn an.
„Okay, mehr möchtest du nicht dazu sagen?“
„Mm“, schüttelte Toran den Kopf.
Mit einer hochgezogenen Braue nahm Heike Torans Entscheidung zur Kenntnis und ließ ihn in Ruhe, sodass die restliche Fahrt in einvernehmlichem Schweigen verlief.
Heike ärgerte sich. So gerne hätte sie erfahren, was Toran ihr sagen wollte, doch vor irgendetwas schien er sich zu fürchten. So sehr hatte sie gehofft, es gäbe einen anderen Grund für Torans Sturz. Auf der anderen Seite aber lag der Verdacht eines Selbstmordversuchs wirklich nahe. Niemand käme auf den Gedanken, im Steinbruch herum zu klettern. Es war hinlänglich bekannt, wie gefährlich es dort war, und jeder, dem sie von dem Vorfall berichtete, jeder, der Toran kannte und seine Veränderung ebenfalls beobachtet hatte, stellte die gleiche Frage. Eine Frage voll Verwunderung, voller Anklage, voll unausgesprochener Gedanken. Heike, die große Pädagogin, hatte versagt. Ihren eigenen Adoptivsohn hatte sie nicht davon abhalten können, Selbstmord zu begehen. Lediglich das Glück war ihm und damit auch ihr wohlgesonnen. Er hatte überlebt, und das sogar ohne dauerhaften Schaden. Doch was würde er das nächste Mal tun? Wie würde es dann ausgehen? Eigentlich gehörte er direkt in die Psychiatrie, das wusste Heike. Aber auf der anderen Seite leugnete er seine Absicht so überzeugend, dass er damit eine leise Hoffnung in ihr weckte und sie zunächst davon abhielt, diesen Schritt zu tun.
Zu gerne würde sie ihn zu Hause behalten und ihm selber helfen. Dazu wäre sie allerdings nur in der Lage, wenn er sich ihr öffnen würde. Stattdessen jedoch verschloss er sich immer mehr, vergrub sich in seiner fernen Welt, seine einzigen, letzten Freunde allein die Drachen. Heike begann sie zu hassen, führten sie ihr doch stetig ihre Hilflosigkeit und ihre Inkompetenz vor Augen. Sie wuchsen zu einer unüberwindlichen Mauer heran, die Toran von ihr abschnitt. Eine Mauer, die sie einreißen sollte, bevor noch größeres Unheil geschah. Bloß wie?
Gott sei Dank besaß das Haus, in deren zweiten und obersten Etage sich die Wohnung der Willings befand, einen Aufzug. Toran hätte nicht gewusst, wie er es sonst bis da oben hätte schaffen sollen. Mit den Krücken war er noch recht ungeschickt und jede Erschütterung tat einfach schrecklich weh.
So war er froh, ohne lange Wege in der Wohnung anzukommen und sich auf dem Sofa im Wohnzimmer niederlassen zu können, wo er das Bein schleunigst wieder hochlegte. Ein Blick auf die schmale Wendeltreppe, die nach oben in sein Zimmer führte, ließ ihn innerlich zusammenzucken. Es war wohl ausgeschlossen, dass er in den nächsten Tagen da hinauf kam.
„Brauchst du etwas?“, fragte Heike ihn in resigniertem Tonfall. Es schien sie doch sehr zu enttäuschen, dass Toran ihr bis jetzt noch keine nennenswerte Antwort auf ihre Frage nach den Motiven für seinen Sprung gegeben hatte.
„Etwas zu trinken vielleicht... Und mein Buch. Es ist oben auf meinem Nachtschränkchen...“ Toran konnte nicht umhin, sich schlecht zu fühlen. Es war ihm unangenehm, Heike so frostig zu erleben und gleichzeitig seine Wünsche an sie zu richten. Lieber hätte er sich jetzt zurückgezogen und um sich selbst gekümmert.
Heike brachte ihm die Sachen, wobei sie den Drachen auf dem Buchcover mit einem unübersehbar missbilligenden Blick bedachte, und zog sich dann in die Küche zurück, um dort noch sauber zu machen, wie sie sagte. Toran versuchte, sich in sein Buch zu vertiefen, döste dabei jedoch bald ein.
„Ja guten Tag, Willing hier... Vom Jugendamt, richtig...“
Heikes Stimme weckte Toran. Als er die Augen aufschlug, stand sie gerade mit dem Rücken zu ihm, den Telefonhörer am Ohr.
„Wäre es möglich, mit Dr. Hansen zu sprechen?... Ja, es ist dringend...“
Sofort begriff Toran, wen Heike da zu sprechen wünschte. Rasch schloss er wieder die Augen und tat, als schliefe er noch. So konnte er dem Telefonat unbehelligt lauschen.
„Ah, das ist prima, danke... Dr. Hansen? Willing hier... Ja...“ Heike lachte. „Gleichfalls... Nein, weswegen ich anrufe: es geht um einen Jugendlichen... Bitte?... Nein, diesmal in eigener Sache...“ Toran konnte an Heikes Stimme hören, dass sie sich gerade zu ihm umwandte, wohl um zu prüfen, ob er noch schlief. Dann entfernte sie sich und schloss die Küchentür, wodurch ihre Stimme nun nur noch gedämpft klang. Mucksmäuschenstill saß Toran da und versuchte konzentriert, zu verstehen, was Heike mit Dr. Hansen besprach.
„Es geht um Toran... Ja, ich glaube, ich habe Ihnen damals von ihm erzählt... Richtig... Mhm... Ja... Genau... Nun, es geht um einen aktuellen Anlass... Ja, ich fürchte, das Trauma, das er damals erlebt hat, kommt nun doch hoch... Nein... Ich bin mir nicht sicher, also er hat sich im Steinbruch in eine Schlucht gestürzt... Gestern... Nein, er hat es zum Glück gut überstanden. Sein Bein ist zwar mehrfach gebrochen, aber es konnte gerichtet werden!... Ja, erstaunlich... In der Tat, er hätte tot sein können... Eben, das ist genau meine Überlegung... Natürlich habe ich ihn danach gefragt!... Er behauptet, dass er sich nicht umbringen wollte, doch ich glaube ihm nicht so recht... Ich kann es überhaupt nicht einschätzen. Bis vor einigen Monaten war er noch ein gewöhnlicher Teenager, doch in letzter Zeit hat er sich sehr verändert, sodass ich ihn manchmal kaum noch wiedererkenne... Ach, meinen Sie wirklich?... Doch besser direkt in die Psychiatrie?... Ich hatte gehofft, dass... Mhm... Ja, vielleicht wäre es wirklich das Beste, bevor noch etwas passiert... Ja, zumindest bis klar ist, was mit ihm los ist... Hm, ich muss mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen... Ja, ist gut, ich melde mich dann spätestens morgen noch mal bei Ihnen... Vielen Dank!... Ja, Ihnen auch... Tschüss!“
Die Küchentür öffnete sich und Heike kam heraus, um das Telefon wieder auf seine Ladestation zu stellen. Dabei warf sie einen Blick auf Toran, der sie entsetzt anstarrte.
„Hör zu, Toran“, begann sie, ging zu ihm und setzte sich neben ihn auf das Sofa. „Ich habe gerade mit dem Psychiater gesprochen...“
Das hätte sie Toran nicht zu sagen brauchen. In seinem Kopf fuhren die Gedanken gerade Achterbahn. Sie hatte doch nicht ernsthaft vor, ihn in die Irrenanstalt zu stecken!
„Heike, ich wollte mich nicht umbringen, glaube mir doch bitte“, flehte er sie an. Doch er fand kein Erbarmen in ihren Zügen.
„Warum hast du es denn dann getan, Toran? Gib mir doch endlich eine Antwort, mit der ich etwas anfangen kann!“
Toran räusperte sich und starrte auf seine Hände.
„Ich habe Angst, dass du mir nicht glauben wirst...“, sagte er leise und suchte Heikes Blick.
„Toran, ich würde dir gerne glauben. Doch bis jetzt hast du mir nicht das Geringste erzählt, was ich auch nur versuchen könnte, zu glauben.“
Heikes Worte machten Toran Hoffnung. Mit vor Nervosität zitternder Stimme begann er, ihr von seinem Traum mit dem Drachen zu erzählen. Er berichtete von den Worten, die er zu ihm gesagt hatte, in jener Sprache, die Toran noch aus seiner Kindheit kannte und die einer anderen Welt entstammten. Er gestand ihr, dass er in dem Moment des Sprungs nicht er selbst gewesen war, sondern fest davon überzeugt war, fliegen zu können - wie ein Drache. Um seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen, erwähnte er auch die Narben an Stirn und Rücken, die aus heiterem Himmel zu bluten begonnen hatten. Das, so dachte Toran, müsse doch als Ereignis seltsam genug sein, um Heike zu beweisen, dass an ihm irgendetwas anders war...
Hätte Toran geahnt, was er mit seinem Geständnis jedoch auslösen würde, hätte er sich wohl lieber auf die Lippe gebissen, als auch nur ein Wort über seinen Traum und alles damit Einhergehende zu verlieren. Nun aber war es zu spät.
Entsetzt starrte Heike Toran an, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Niemals hätte sie gedacht, wie tief er sich bereits in sein Wahngebäude verstrickt hatte, und es traf sie wie ein Dolch mitten ins Herz, als er den Drachen erwähnte. Ihr wurde übel und plötzlich wurde sie von einer noch nie gekannten Welle der Wut überrollt. Sie musste mehrfach tief durchatmen, um gegen sie anzukämpfen
„Ich hätte es schon früher sehen müssen, Toran“, sagte sie mit gepresster Stimme. „Ich hätte diese seltsame Manie mit den Drachen nicht noch fördern sollen...“ Mit diesen Worten erhob sie sich von dem Sofa und ging benommen in die Küche, wo sie einfach verschwand, während Toran rat- und hilflos auf dem Sofa zurückblieb.
Als Heike nicht zurückkehrte, versuchte er, sich ein wenig vorzubeugen, um eventuell einen Blick in die Küche zu erhaschen. Doch es gelang ihm nicht. Also nahm er sich die Gehstützen, schob sein Bein vorsichtig von dem Sofa herunter und stand mühsam auf. Es dauerte eine Weile, bis er die Küche erreicht hatte. Im Türrahmen blieb er stehen.
Heike hatte sich an den Küchentisch gesetzt und schien einfach ins Leere zu schauen. Als sie Toran heranhumpeln hörte, schaute sie in seine Richtung und er glaubte, tiefen Kummer in ihren Augen lesen zu können.
„Glaubst du mir jetzt, Heike?“, fragte er hoffnungsvoll und ängstlich zugleich.
Heike tat einen tiefen Atemzug.
„Ganz ehrlich, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Toran. Wie wahr ist deine Geschichte für dich? Wie sehr bist du von ihr überzeugt?“
Nun verstand Toran, in welche Richtung Heike wohl dachte, und es genügte, ihn zutiefst zu beunruhigen. Es war jetzt so unglaublich wichtig, die richtige Antwort zu geben, denn er wollte nicht in der Psychiatrie enden und für verrückt gehalten werden. Doch wie sollte sie am besten aussehen? Unsicher schwieg Toran einfach.
„Ich werde die Drachen wegräumen!“, sagte Heike plötzlich und Toran wäre vor Schreck beinahe eine Krücke weggeknickt.
„Nein!“, insistierte er fassungslos. Doch für Heike schien das nur eine Bestätigung zu sein. Entschlossen stand sie von ihrem Stuhl auf, kramte aus dem Schrank eine Rolle mit Müllbeuteln hervor und trat vor Toran, der noch immer im Türrahmen verharrte.
„Lass mich bitte durch, Toran!“, forderte sie ihn auf, doch er wollte nicht weichen.
„Bitte, Heike, tu das nicht! Sie haben doch keine Schuld! Ich will nicht, dass du sie wegschmeißt! Sie gehören mir!“
„Geh jetzt zur Seite, Toran! Diese Drachen tun dir nicht gut und es ist das Beste, du befreist dich endlich von ihnen. Eine andere Lösung fällt mir nicht mehr ein. Ich habe bereits alles versucht...“ Damit schob sie sich an Toran vorbei, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Er war noch damit beschäftigt, sich zu fangen und nicht zu stürzen, als Heike schon die Stufen der Wendeltreppe hinaufstieg.
„Nein, verdammt, ich will das nicht!“, schrie er ihr hinterher und versuchte, ihr zu folgen. Doch bereits an der ersten Stufe scheiterte er mit seinen verfluchten Gehstützen, die einfach nicht genügend Halt fanden, um ihm sicher zu erscheinen. Am liebsten hätte er sie quer durch den Raum geschleudert, so wütend war er in diesem Moment.
„Heike! Bitte!“, rief er noch einmal. Doch die einzige Antwort war das Rascheln der Tüte, wenn Heike den nächsten Drachen hineinwarf.
Toran konnte sich ärgern, er konnte schreien, weinen, flehen, aber all das nützte ihm nichts. Unerbittlich entsorgte Heike einen Drachen nach dem anderen, in dem Glauben, Toran damit etwas Gutes zu tun; nicht wissend, dass sie ihm damit das Letzte nahm, was ihm von seiner Welt, ja seiner Heimat geblieben war, die er so früh gezwungen gewesen war, zu verlassen.
Nachdem Toran eingesehen hatte, dass er Heikes Reinigung nichts entgegenzusetzen hatte, hinkte er resigniert zurück zu dem Sofa, ließ sich darauf nieder und wartete, bis Heike drei riesige Mülltüten voller Drachen und Fantasy-Büchern die Treppe hinunter, an ihm vorbei nach draußen schleppte. Schweigend beobachtete er sie dabei, während ihm das Herz blutete. Doch sein Gesicht blieb starr wie Stein.
Warte nur, bis ich wieder laufen kann, dachte er bloß und schmiedete heimlich Pläne.