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Kaptiel 1 – Der alte Mann

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Per stand auf der Terrasse des Besucherturmes und schaute auf das Land hinab, das weit unter ihm zu den Füßen der Burg lag. Knapp über dreißig Jahre waren seit dem Tod seiner geliebten Frau Selara vergangen und in Pers Leben hatte sich viel verändert. Ebenso wie sich das Land dort unter ihm verändert hatte. Vor zehn Jahren noch wäre es ein herrlicher Ausblick gewesen, den er von hier gehabt hätte. Ein Ausblick auf satte, grüne Wiesen, die Nahrung für Schafherden geboten hätten, gespickt mit goldenen Feldern, blühenden Obstbäumen und warmen, feuchten Wäldern. Nun aber erstreckte sich vor ihm bloß eine trübe Ödnis aus verbrannter Erde. Skelette von toten Bäumen und verkohlte Ruinen verlassener Bauernhöfe waren die einzige, traurige Abwechslung, die sich dem Auge bot. Der einst meist so strahlend blaue Himmel war seit Monaten schon verhangen mit grauen, schweren Wolken, die statt Wasser Asche regnen ließen. Die Menschen starben. Zmaydrak der Tyrann, ein Drachenmagier, hatte die Macht an sich gerissen und den Menschen Krieg und Tod gebracht.

Per tat einen tiefen Atemzug. Beinahe hatten die Drachentöter das Ziel erreicht, die Rasse der Drachenmenschen von der Erde zu tilgen. Die Prophezeiung hatte sie dabei mit großem Ehrgeiz beseelt. Und doch haben die dreizehn verbliebenen Drachen ausgereicht, um jenen Drachenmagier hervorzubringen, der die Prophezeiung zuletzt erfüllt und die Menschheit unterjocht hatte. Fast musste Per lachen, selbst wenn es kein belustigtes, sondern vielmehr ein bitteres Lachen gewesen wäre. Prophezeiungen waren ein zweischneidiges Schwert und mittlerweile wünschte Per sich, die Propheten würden sie für sich behalten. Doch zuletzt war es eben jene Prophezeiung, die ihn hierher geführt hatte. Hierher vor den hohen Rat der weißen Magier, hierher zu der letzten Bastion der Menschen, dem letzten Widerstand. Per war gekommen, weil er es der Menschheit schuldig war. Doch er hegte keine große Hoffnung, dass man ihn ernst nehmen würde.

„Per aus Tragonien, würdet Ihr mir bitte folgen?“ Ein kleiner, hagerer Mann mit schütterem Haar und spitzem Mausegesicht hatte die Tür zur Terrasse geöffnet. Per war überrascht. Er hatte mit einer deutlich längeren Wartezeit gerechnet. Wie verzweifelt musste der hohe Rat sein, dass er sich scheinbar an jeden Strohhalm, an jede kleinste Hoffnung klammerte?

Per nickte und kam der Bitte nach. Der Page führte ihn eine lange, steile Treppe hinab, durch zahlreiche windige Gänge, bis sie schließlich vor einer großen, eisenbeschlagenen Eichentür stehen blieben. Die davor postierten Wachen standen starr wie Statuen, die Lanzen vor der Tür gekreuzt, und erst die Worte des Pagen erweckten sie zum Leben, auf dass sie den Weg freigaben. Die Tür wurde geöffnet und vor ihnen tat sich ein riesiger, von hunderten Kerzen erhellter Saal auf. Damals in der Hochzeit der menschlichen Ära musste er prächtig gewesen sein. Noch immer zeugten der schwarze Granitboden, die meterhohen, weißen Marmorsäulen und die kuppelartige, mit kunstvollen Gemälden versehene Decke von dem ehemaligen Reichtum. Aber darüber hinaus sah man auch hier bereits den Verfall und die Not. Die Nischen, in denen einst goldene, diamantbesetzte Kerzenleuchter, marmorne Büsten vergangener Herrscher oder sonstiger kostbarer Zierrat gestanden haben musste, waren nun leer wie die Höhlen eines Totenschädels und verliehen dem Saal den Geschmack der Verlorenheit.

Am anderen Ende des Saals befand sich eine breite, schlichte Holztafel, an der die Sieben auf einfachen Stühlen saßen. Einstmals hatte die Tafel aus kostbarem, lackiertem Nachtholz bestanden und die rot gepolsterten Stühle waren aus purem Gold gewesen...

Immer noch angeführt von dem hageren Pagen, näherte Per sich den Sieben des Rates. Sie waren die besten Magier des Landes, aber selbst sie hatten nur wenig gegen die dunkle Magie des Drachenmagiers auszusetzen. Gegen die Dämonen, die er aus der Unterwelt heraufbeschworen hatte, waren sie machtlos.

Am Fuße der Tafel verharrte der Page und Per tat es ihm nach.

„Hier ist Per aus Tragonien, Sohn von Direk Andracus, ehemals führendes Mitglied des Drachentöterordens“, kündigte der Page Per an. Der Mittlere der Sieben, allem Anschein nach der älteste von ihnen, mit kurzgeschorenem, weißen Haar und stechend grauen Augen, erhob sich, um Per mit einer bestimmenden Geste zu bedeuten, noch näher zu treten. Per tat wie geheißen und wartete. Der Magier musterte ihn von Kopf bis Fuß und verharrte zuletzt prüfend bei seinen Augen. Bis dahin hatte er kein Wort an Per gerichtet und als er es nun tat, war seine Stimme schneidend und misstrauisch.

„Du bist also Per, der Drachentöter... Per, der in Ungnade gefallene... Per, der glaubt, uns Erlösung bringen zu können... Was verleitet dich zu dieser vermessenen Annahme?“

Per verbeugte sich tief und hoffte, dabei so viel Demut zu demonstrieren, wie ihm möglich war. Er wusste, dass er nur diese eine Chance haben würde.

„Herr, ich bitte um Eure Offenheit! Ich bin gekommen, um Euch den fehlenden Teil der Prophezeiung zu überbringen. Er hat bisher nicht den Weg in die Öffentlichkeit gefunden und ist den Meisten daher unbekannt. Doch ich trage jenes Dokument bei mir, in dem die Prophezeiung vollständig erhalten ist.“

Per zog das zusammengerollte Pergament aus seinem Mantel, wo er es den ganzen Weg, bis hierher, in einer Innentasche aufbewahrt und gehütet hatte wie einen Schatz, ständig besorgt, es könne gestohlen werden oder gar verloren gehen. Daher war er nun überaus erleichtert, das Pergament und damit die ganze Verantwortung endlich an jemand anderes übergeben zu können, der ihm schließlich im Angesicht des Volkes den offiziellen Segen erteilen würde. So hoffte er zumindest.

Skeptisch nahm der Magier das Dokument entgegen, ging damit zurück zu seinem Platz und entrollte es auf dem Tisch, sodass er und seine Ratsmitglieder es lesen konnten. Per kannte seinen Inhalt schon seit so langer Zeit. Auch wenn er ihn damals gänzlich anders gedeutet hatte. Damals, als er noch glaubte, einen eigenen Sohn zu haben. Bis zu jenem Tag, als er die Wahrheit erkannte und letztendlich dadurch in Ungnade fiel. Er hätte die Prophezeiung schon damals öffentlich machen können, doch er hielt es für weiser und sicherer, sie unter Verschluss zu halten, betraf der zweite Teil doch schließlich unmittelbar seine Familie, seine Nachkommen, wie er damals glaubte – ihn selbst, wie er jetzt wusste. Und genau dieses Wissen war es zuletzt gewesen, weswegen er so lange gezögert hatte, es den Magiern zu überreichen, denn es würde von ihm fordern, die Prophezeiung nun zu erfüllen. Doch sie zu erfüllen, würde das Schwerste sein, was er jemals getan hatte.

Nachdem die Sieben das Dokument gelesen hatten, ergriff der Älteste abermals das Wort.

„Wie kommt dieses Pergament in deine Hände, Per Andracus?“ Sein Ton war scharf, beinahe rügend. Per räusperte sich.

„Herr, verzeiht, es wurde mir einst übergeben von dem Orakel, das meine Weihe vollzog. Es sagte, dass es nur für meine Hände bestimmt sei. Wenn es an der Zeit ist, wüsste ich, was ich zu tun habe.“

Der Magier lehnte sich zurück und betrachtete Per nachdenklich. Schließlich beugte er sich wieder vor und sagte: „Die Wege der Bestimmung sind manchmal wunderlich. Hier steht, ein Mann aus dem Geschlecht der Andracus´ ist ausersehen, die Herrschaft des Tyrannen zu beenden.“ Der Magier lachte plötzlich. „Wie lächerlich! Eine Armee aus den stärksten Soldaten, eine Armada der besten Magier, die gewaltigsten Waffen haben nichts gegen den Tyrannen ausrichten können. Und dann soll ein einziger Mann dazu in der Lage sein?“ Der Magier lachte noch lauter. Dann plötzlich hielt er inne und versah Per mit einem fragenden Blick. „Hast du einen Sohn, Per?“

Per schüttelte den Kopf. Daraufhin stand der Magier auf und lehnte sich über den Tisch.

„Also bleibst nur noch du als letzter deines Geschlechts, habe ich recht?“

Per nickte.

„Du, ein Mann von gut sechzig Jahren...“ Der Magier machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann ließ er seinen Blick zu seinen Ratsmitgliedern schweifen.

„Das Pergament scheint mir eine Fälschung zu sein“, schloss er und setzte sich wieder.

Per hatte gewusst, dass sie ihm nicht glauben würden.

„Herr, ich stimme Euch zu, dass es absurd anmutet, aber dieses Dokument ist so echt wie ich, der ich vor Euch stehe. Ihr seht es an dem Siegel des Orakels... Ich habe selbst nicht gedacht, dass es eines Tages mich meinen könnte. Doch ich weiß einen Weg, dem Tyrann Einhalt zu gebieten und ich weiß, dass nur ich es tun kann. Ich bin entschlossen, ja verpflichtet, diesen Weg zu gehen, mit oder ohne Eure Zustimmung. Ich bin lediglich gekommen, um Euch um die Dinge zu bitten, die ich gemäß der Prophezeiung für mein Unterfangen benötige.“ Pers Stimme klang fester, als er sich fühlte. In Wahrheit hatte er Angst. Angst, die Verantwortung für die Menschheit auf seinen Schultern zu tragen. Angst, zu versagen. Aber auch Angst, zu gewinnen.

Der Magier verzog abschätzig seine Mundwinkel.

„Für jemanden, der bereits in Ungnade gefallen ist, bist du äußerst mutig, Per.“

„Jemandem, der nichts mehr zu verlieren hat, bleibt nichts anderes übrig, Herr. Erlaubt mir, Euch in meinen Plan einzuweihen. Dann werdet Ihr verstehen.“

Der Magier zögerte. Er warf einen Blick in die Reihe seiner Ratsmitglieder, die ihm verhalten zunickten, als bliebe ihnen in der Tat nicht mehr viel anderes übrig, als diesen letzten, verzweifelten Versuch zu wagen.

Im Schatten der Prophezeiung

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