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Kapitel 7 – Die Flucht

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Die Gipssäge heulte auf und näherte sich nach nun acht Wochen dem verhassten Symbol der Abhängigkeit. Zumindest empfand Toran es so. In diesen acht Wochen war in seiner Brust ein Knoten gewachsen, der ihm häufig das Atmen schwer machte und zu schmerzen begann, wenn er tiefer über alles nachdachte, was ihm in dieser Zeit widerfahren war.

Bereits einen Tag nach dem Gespräch mit Dr. Hansen hatte Heike ihre Drohung wahr gemacht und Toran in der Psychiatrie vorgestellt. Brühwarm hatte sie ihnen dort alles erzählt – über seinen Sprung ebenso wie von seiner Überzeugung, fliegen zu können. Der Geschmack nach Verrat lag Toran klebrig auf der Zunge und er wäre am liebsten im Erdboden versunken, als er ihre mitleidigen Blicke auf sich spürte. Für einen kurzen Moment wurde ihm sogar unterstellt, Drogen genommen zu haben.

Glücklicherweise waren sie dann aber nach einer Woche wenigstens davon überzeugt, dass keine Suizidgefahr vorlag. Auch die Drogentheorie war bald wieder vom Tisch. Geblieben war jedoch der starke Verdacht einer Schizophrenie, sodass Toran schließlich gezwungen wurde, Medikamente zu schlucken. Je eher er dazu bereit war, desto schneller konnte er wieder entlassen werden. Also hatte er sie geschluckt. Anfangs, für eine Woche, bis zur Entlassung. Doch sie machten ihn müde, träge und er fühlte sich, als stecke er in einem Anzug aus Watte. Er konnte nicht mehr denken und selbst seine Träume versiegten. Er kam sich vor, wie die leere Hülle seiner selbst. Zu Hause hatte er sich die Tabletten daher zwar noch unter Heikes Kontrolle in den Mund geschoben, sie dann aber solange unter der Zunge versteckt, bis er sie in einem unbeobachteten Moment wieder ausspucken konnte. Bereitwillig hatte Toran sich der ambulanten Therapie ergeben, die täglichen Stunden an sich vorüber ziehen lassen und dabei mühsam den Eindruck erweckt, den sie alle von ihm haben wollten.

In seinem Herzen jedoch sah es ganz anders aus. Dort glühte der Funke der Wut, heiß, rot, züngelnd, bereit, zu einem Feuer zu werden. Toran war wütend auf Heike, die seine körperliche Hilflosigkeit schamlos ausnutzte, um über ihn zu verfügen. Darüber hinaus konnte er es ihr nicht verzeihen, was sie mit seinen Drachen gemacht hatte, selbst wenn sie ihm irgendwann gestanden hatte, dass sie sie nicht in den Müll geworfen, sondern nur im Keller deponiert hatte. Ja, sie versprach ihm sogar, sie alle wieder an ihren Platz zu bringen, sobald Toran sich von seiner Krankheit – so nannte sie das jetzt – erholt haben würde.

Ferner war Toran wütend auf Frank, der Heike in ihrem Handeln auch noch voll und ganz unterstützte. Er war wütend auf den Psycho-Fritzen, der in seiner selbstgefälligen Art ernsthaft glaubte, besser über Toran Bescheid zu wissen, als er selbst. Und er war wütend auf sich selbst, weil er sich überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte...

Jetzt aber war das vorbei. Als die Krankenschwester vorsichtig den zerschnittenen Gips auseinanderzog, schenkte sie damit nicht nur Torans Bein die Freiheit, sondern auch der ganzen Person, die an diesem Bein dranhing.

„Willst du den Gips behalten?“, fragte sie Toran, worauf dieser bloß energisch den Kopf schüttelte.

„Überlege es dir noch mal. Ich schmeiße ihn sonst jetzt weg.“

„Tun Sie das! Ich will ihn nie wieder sehen!“, entgegnete Toran und schaute auf sein dünn gewordenes Bein. Es sah so zerbrechlich aus und er hatte Angst, es zu bewegen. Würde der Knochen wirklich halten? Toran konnte sich gar nicht vorstellen, jetzt wieder auf diesem Bein zu laufen. Langsam begann er, seinen Fuß zu kreisen. Es tat weh, war aber gleichzeitig ein befreiendes Gefühl. Dann beugte er vorsichtig das Kniegelenk und schließlich schwang er seine Beine von der Liege, um aufzustehen. Er war ungeduldig, denn endlich war der Tag gekommen, der Tag der Verheißung, der Tag der wiederkehrenden Selbstbestimmung, der Tag, auf den sich all seine Pläne, Sehnsüchte und Hoffnungen der letzten Wochen konzentriert hatten. Doch als er sein Gewicht nun auf das Bein verlagerte, schoss ein plötzlicher Schmerz wie ein Stromschlag von seinem Fuß bis in den Oberschenkel und es knickte ihm weg. Toran konnte sich gerade noch an der Liege festhalten und ließ sich direkt wieder darauf nieder. Grimmig starrte er auf die Gehstützen, die die Schwester ihm lächelnd entgegenhielt.

„Die wirst du auch ohne Gips noch ein oder zwei Wochen brauchen.“

Toran sah die Schwester entgeistert an. Für sie schien das alles ja ganz lustig zu sein, so wie sie grinste. Dabei ahnte sie nicht annähernd, was ihre Aussage für ihn bedeutete. Ein oder zwei Wochen... Das ging nicht. Es war ausgeschlossen. Toran wollte keinen Tag länger warten. Er hatte nun schon zwei lange, lange Monate gewartet. Das Maß war einfach voll!

Zornig riss er der Schwester die Stützen aus den Händen und stand auf, um mit ihnen zu seiner Hose zu humpeln, die Heike zuvor über die Lehne eines Stuhls gelegt hatte. Umständlich zog er sich an und verließ den Raum.

Draußen saß Heike, die auf ihn gewartet hatte und ihn nun anlächelte.

„Willst du nicht noch deinen anderen Schuh anziehen?“ Sie hielt ihm den zweiten Schuh sowie eine Socke entgegen, die sie in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Wortlos ließ sich Toran neben ihr auf der Bank nieder und zog sich nun auch rechts Socke und Schuh an. Dann stand er wieder auf, bereit, endlich nach Hause zu kommen, wo er noch einiges vorbereiten wollte.

Auf der Heimfahrt war Heike redselig. Sie vermittelte den Eindruck, dass sie ganz zuversichtlich war, was Torans Gesundung anging. Auch sie schien erleichtert, dass der Gips endlich verschwunden war und das Leben nun wieder in normale Bahnen zurückkehren konnte. Zwar würde er das Schuljahr nun definitiv wiederholen müssen, jetzt, nachdem er so viel verpasst hatte, aber das täte ihm sicherlich ganz gut. Heike war wirklich guter Dinge. Sie hatte ja nicht die geringste Ahnung...

Zu Hause angekommen, wollte Toran zu allererst in sein Zimmer. In der Tat hatte er es die ganzen acht Wochen nicht betreten. Mit den Krücken war er die Wendeltreppe nicht hinauf gekommen, weil es zu gefährlich war; im Sitzen Stufe um Stufe aufwärts rutschen, war ebenfalls nicht möglich gewesen, weil die Wendeltreppe zu schmal war und sein eingegipstes Bein in der Kurve mit dem Geländer ins Gehege kam. Also hatte er nachts auf der Couch geschlafen und seine Tage, sofern er nicht gerade in irgendwelchen Therapien steckte, überwiegend dort oder am Esstisch verbracht - unter der stetigen Aufsicht von Heike, was ihm seine Situation noch ein Stück unerträglicher gemacht hatte.

Auch jetzt war es noch schwierig, die Treppe hinauf zu kommen. Da Toran noch nicht wagte, sein Bein zu belasten, machte er es tatsächlich so, dass er sich auf die Treppe setzte – die Gehstützen im Schlepptau - und stufenweise nach oben rutschte, mit dem Unterschied, dass er sein Bein jetzt beugen konnte und ihm nun das Geländer nicht mehr im Weg war. Doch als er sein Zimmer zum ersten Mal wieder betrat, versetzte ihm der Anblick der leeren Regale und kahlen Wände unvermittelt einen Stich. Erst jetzt erkannte er, wie viel die Drachen ihm bedeutet hatten. Ja, sie waren seine ganze Existenz gewesen. Beinahe konnte Toran Heikes Kummer verstehen. Für einen Menschen dieser Welt, der nichts von einer anderen wusste, musste es tatsächlich wie eine Besessenheit erscheinen. Für ihn aber war es Ausdruck dessen, was man ihm geraubt hatte, als man ihn damals aus seiner Heimat verstieß.

Die Wut loderte wieder in ihm auf und drängte alles andere in den Hintergrund. Der stechende Schmerz in seinem Bein war ihm egal, als er es entschlossen auf dem Boden aufsetzte und langsam sein Gewicht darauf verlagerte. Er konzentrierte sich darauf, es gerade zu halten. Dann ging er den ersten Schritt, ohne sich auf die Krücken zu stützen. Danach tat er einen zweiten, einen dritten und einen vierten. Es funktionierte. Langsam zwar, aber es ging. Toran stellte die Gehstützen an seinem Schreibtisch ab, hinkte zum Kleiderschrank und kramte einen Rucksack hervor. Er packte Unterwäsche, Wechselkleidung und Socken hinein. Dann humpelte er umständlich, aber zu seiner Freude ohne Krücken, in das kleine Bad, das sich an sein Zimmer anschloss und nur von ihm benutzt wurde, packte seine Kulturtasche und stopfte schließlich auch sie in den Rucksack. Viel würde er nicht mitnehmen auf seine Flucht.

Ja, Flucht. Die ganzen acht Wochen hatte er sich ausgemalt, endlich von hier zu verschwinden. Er war fest entschlossen, nach einem Weg zu suchen, der ihn zurückbringen würde. Zurück in seine Heimat. Heute Nacht schon sollte es soweit sein. Bein hin oder her. Er konnte die Gehstützen ja vorsichtshalber mitnehmen, aber er würde sich davon nicht mehr aufhalten lassen!

„Toran? Kommst du essen? Es steht schon auf dem Tisch“, rief Heike von unten. Schnell versteckte Toran den Rucksack in dem Schrank, nahm die Gehstützen und humpelte zurück zur Treppe. Doch davor blieb er stehen. Er sollte versuchen, sie laufend hinunterzugehen. Heute Nacht wäre es von Vorteil, zu wissen, ob er es schon konnte. Also setzte er das schlechte Bein auf die untere Stufe, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, während er in der anderen die Krücken hielt, und zog eilig das gesunde Bein nach. Es klappte. Und so ging er Schritt für Schritt die Treppe hinab.

Als er unten angekommen war, strahlte Heike ihn an.

„Das geht ja schon super!“, lobte sie ihn und auch wenn Toran sich darüber freute, so konnte es den Schatten nicht verjagen, der sich über seine Zuneigung zu Heike gelegt hatte.

Das Mittagessen verlief unauffällig, wie ein außenstehender Betrachter es vielleicht beurteilt hätte. Toran bemühte sich, auf Heikes Unterhaltung einzusteigen und nach Möglichkeit keinen Verdacht zu erregen. Sie sollte ruhig in dem Glauben bleiben, alles wäre in bester Ordnung. Er überwand sich sogar, ihr Essen zu loben, worauf sie sich erfreut bedankte. Dennoch war er froh, als es beendet und Heike in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt war. Er machte sich wieder an den Aufstieg in sein Zimmer und wartete dort ungeduldig auf die Nacht, während er immerzu das Laufen übte. Es war zwar noch schmerzhaft, aber zu ertragen. Der Schmerz in seiner Seele war schlimmer.

Und dann, viel zu viele Stunden später, war der Zeitpunkt gekommen.

Nach dem Abendessen lag Toran auf seinem Bett und wartete. Er lauschte den Stimmen von Heike und Frank, die sich vor dem Fernseher unterhielten. Worüber sie redeten, konnte Toran nicht verstehen. Er hatte seine Tür geschlossen. Irgendwann aber verstummte der Fernseher und wenig später auch Heikes und Franks Stimmen. Das Rauschen des Wassers verkündete Toran, dass sie nun zu Bett gingen und damit die Minuten, die er noch hier verweilen würde, gezählt waren.

Schließlich stand er auf, schlich, sofern das hinkend möglich war, zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt. Er horchte noch einmal in die Stille hinein, doch Heike und Frank schienen zu schlafen. Also kleidete Toran sich wieder an, holte seinen Rucksack aus dem Schrank und setzte sich reisefertig auf sein Bett. Lieber wollte er noch eine Weile warten, bis die beiden da unten tief genug schliefen, um nicht durch ein kleines Geräusch gleich wieder geweckt zu werden.

Wie er so dasaß, kamen ihm noch einmal allerlei Gedanken. Plötzlich tat es ihm leid, seine Adoptiveltern einfach zu verlassen, ohne sich verabschiedet zu haben. Sie hatten es ja in ihren Augen nie böse mit ihm gemeint. Vielleicht war er zu verbohrt gewesen, hatte sich nur selbst gesehen in diesem ganzen Dilemma. Wenn er versuchte, sich in sie hineinzuversetzen, dann musste er zugeben, dass sein Verhalten wirklich nicht ganz einfach für sie gewesen sein musste. Ja, aus ihrer Sicht musste er schrecklich undankbar erscheinen. Und dennoch, das, was er jetzt zu tun gedachte, war unvermeidlich. Solange sie seine Herkunft für ein Hirngespinst hielten, hatte er keine andere Möglichkeit, als alleine nach einem Heimweg zu suchen. Es war einfach Zeit für ihn, zu gehen.

Um allerdings nicht ganz so herzlos zu erscheinen, entschloss Toran sich, wenigstens einen Brief zu hinterlassen. Also nahm er Papier und Stift, schrieb, dass er ihnen für alles dankte, was sie für ihn getan hatten, dass er es nie vergessen würde, dass er nun aber gehen müsse. Sie sollten nicht nach ihm suchen.

Dann legte er den Brief auf seinen Schreibtisch, schulterte den Rucksack und humpelte zur Treppe. Unter dem zusätzlichen Gewicht des Rucksacks schmerzte das Bein noch etwas mehr, aber Toran biss die Zähne zusammen und ging langsam die Treppe hinunter, bemüht, möglichst kein Geräusch dabei zu machen. Endlich unten angekommen, griff er sich die Gehstützen, die er vorsichtshalber unten gelassen hatte, um sie nachts nicht auch noch die Treppe hinunterschleppen zu müssen, und humpelte leise zur Tür. Kurz davor blieb er stehen. Auf der kleinen Kommode im Flur lag Franks Portemonnaie und Toran überlegte, ob er sich noch etwas Geld heraus nehmen sollte. Es wäre Diebstahl, ja, aber auf der anderen Seite brauchte er es. Sein eigenes hatte er zwar auch dabei, aber es war nicht so viel. Lange würde er damit nicht auskommen und er wusste nicht, wann er das nächste Mal die Gelegenheit haben würde, sich etwas Geld zu verdienen. Erst einmal musste er möglichst weit weg von hier.

Kurz entschlossen griff Toran nach der Geldbörse und nahm sich das Geld hinaus, das noch darin war. Nicht ohne schlechtes Gewissen steckte er es ein, öffnete die Tür und verließ die Wohnung.

Den Weg bis zum Bahnhof als beschwerlich zu beschreiben, wäre wohl untertrieben gewesen. Toran merkte schon nach wenigen Schritten, dass die Schmerzen in seinem Bein ein Maß erreichten, das ihn dazu zwang, wieder die Krücken zu benutzen – mit einem dicken Rucksack auf dem Rücken ein mühsames Unterfangen. Toran fluchte, erlaubte sich aber keinen Rückzieher, sodass er tapfer Richtung Bahnhof hinkte, wo er sich schließlich auf eine Bank niederließ und, fest in seine Jacke gehüllt, auf den ersten Zug wartete, der da kommen mochte, gleich in welche Richtung.

Um vier Uhr morgens war es dann soweit. Die Stimme des Lautsprechers weckte Toran aus seinem Schlaf, in den er gefallen war, nachdem er sich zuletzt müde auf der Bank zusammengekauert hatte. Sie kündigte einen Zug Richtung Süden an, Gleis zwei. Sofort war Toran hellwach. Eilig blickte er sich um und stellte fest, dass er den Bahnhof einmal durchqueren musste, um zu dem genannten Gleis zu gelangen. Mit einem Seufzer raffte er sich auf, schulterte den Rucksack, auf den er seinen Kopf zum Schlafen abgelegt hatte, griff nach den Gehstützen und machte sich so schnell er konnte auf den Weg.

Er erreichte den Zug gerade noch rechtzeitig und war überaus erleichtert, als er einen Platz in einem leeren Abteil fand, wo er sogar das mittlerweile unangenehm pochende Bein etwas hochlegen konnte. Nun würde seine Reise beginnen, einem Ziel entgegen, das ihm noch nicht bekannt war. Er würde den Zug einfach fahren lassen und irgendwann irgendwo aussteigen. Sein Gefühl, so glaubte er, würde ihm schon sagen, wann es soweit war.

Als der Zug mit einem Ruck anfuhr, überzog eine Gänsehaut Torans Arme. Fast euphorisch blickte er aus dem Fenster und sah, wie die Stadt, in der er jetzt zehn Jahre gelebt hatte, an ihm vorüberzog. Ob er sie je wiedersehen würde?

Bald wurden die Häuser von Wäldern und Wiesen abgelöst, aus denen sich langsam der Nebel erhob. Der Himmel verfärbte sich in den wunderschönsten Farben, von rosa und hellblau bis orange, und kündigte einen sonnigen Tag an. Genau das richtige Wetter für den Beginn einer Suche, dachte Toran. Er genoss den Anblick noch eine ganze Weile. Dann aber schläferten die vorbeirauschenden Bilder ihn langsam ein und er glitt in die Welt der Träume.

Wieder einmal sah er den Drachen fliegen und jagen. Wieder stand er neben ihm, als er das Reh riss, und wieder sah der Drache ihn an. Doch gerade, als er zu ihm sprechen wollte, wurde Torans Aufmerksamkeit von einer Krähe abgelenkt, die laut krächzend neben ihm landete. Sie trug einen goldenen, schlichten Ring im Schnabel und ließ ihn vor Torans Füße fallen. Neugierig hob Toran ihn auf und betrachtete ihn. Dabei fiel ihm auf, dass sich eine Inschrift auf der Innenseite befand. Angestrengt versuchte er, sie zu entziffern, aber die Schriftzeichen waren ihm nicht vertraut. Ratlos sah er die Krähe an, doch diese erhob sich einfach wieder in die Lüfte und verschwand. Der Drache aber hatte Toran beobachtet. Er schien zu wissen, was es mit dem Ring auf sich hatte und nickte Toran zu.

„Komm zu mir!“, sagte er nun zu ihm. Toran wollte daraufhin auf ihn zugehen, doch plötzlich befand sich eine Tür zwischen ihnen, sodass er nicht hindurch kam. Er hörte noch die Stimme des Drachen: „Du hältst den Schlüssel in der Hand, Toran. Du musst die Tür bloß noch damit öffnen.“

Toran blickte irritiert auf den Ring in seiner Hand. Meinte der Drache etwa diesen Ring? Gleichzeitig suchte Toran ein Schloss an der Tür, doch er konnte nichts daran entdecken, das auch nur eine Ähnlichkeit damit gehabt hätte.

„Wie soll ich die Tür damit öffnen?“, fragte er daher.

„Du kennst den Spruch, Toran. Erinnere dich!“

Und dann verstummte der Drache, das Bild verschwand und Toran erwachte.

Irritiert schaute er sich um und fand sich in seinem Zugabteil wieder. Der Tag draußen war mittlerweile angebrochen und ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es inzwischen sieben Uhr morgens war. Ein lautes Knurren seines Magens machte ihn darauf aufmerksam, dass er frühstücken wollte, und Toran stellte erschrocken fest, dass er gar nicht daran gedacht hatte, sich etwas zu essen mitzunehmen. Wenigstens hatte er eine Flasche Wasser dabei, von der er jetzt trank. Aber das löschte lediglich seinen Durst und es graute ihm bei der Vorstellung, sich nun sein Gepäck schnappen zu müssen, um damit durch den schaukelnden Zug zu humpeln und das Bistroabteil zu suchen. Mit einem tiefen Atemzug raffte er sich dennoch auf, bückte sich, um seinen Rucksack aufzuheben und entdeckte dabei etwas Glänzendes, das unter dem Rucksack hervorlugte. Stutzig hielt er inne. Er ließ den Rucksack wieder los und griff stattdessen nach dem Gegenstand, der dort auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und konnte es kaum fassen, was er da in den Fingern hielt.

Es war ein Ring. Doch es war nicht irgendeiner. Nein, er war aus echtem Gold, wie es schien, denn er wog schwer in seiner Hand. Er glich in seiner Schlichtheit einem Ehering und Toran hob ihn ins Licht, um die Inschrift zu lesen, die sich auf der Innenseite befand. Wahrscheinlich hatte jemand den Ring verloren und man konnte der Gravur entnehmen, wer das war. Doch als Toran die Schriftzüge zu lesen versuchte, war er so verblüfft, dass er sich kurz die Augen rieb, um sicher zu gehen, dass er richtig sah. Die Inschrift blieb allerdings, wie sie war, und Toran wusste nicht, was er davon halten sollte. Es war einfach unmöglich und doch vollkommen logisch.

Die Schrift war die gleiche, die er an dem Ring in seinem Traum gesehen hatte...

Hastig schloss Toran die Faust um den Ring, während das Herz in seiner Brust nervös zu flattern begann. Tränen der Freude traten ihm in die Augen und er hatte das Gefühl, tief Luft holen zu müssen. War es tatsächlich möglich, dass er den Ring gefunden hatte, der ihm die Tür in seine Heimat öffnen konnte? Und wenn ja, wie war er hier her zu ihm gekommen? Konnte es solch einen Zufall geben? Oder gab es jemanden, der ihn geschickt haben könnte?

Plötzlich war Torans Hunger vergessen. Vielmehr wartete er ungeduldig auf den nächsten Halt, bei dem er unbedingt auszusteigen gedachte. Wo würde er die Tür zu seiner Heimat finden, um sie endlich zu öffnen und zurückzukehren? Toran wusste es nicht, aber der geheimnisvolle Zufall mit dem Ring stimmte ihn zuversichtlich. Das Schicksal würde ihn führen, davon war er überzeugt.

Nur eine halbe Stunde später stand Toran an dem abgelegenen Bahnhof einer kleinen Stadt, inmitten einer hügeligen Landschaft. An einem alten Automaten zog er sich für ein paar Münzen einen Schokoriegel, um seinen quengelnden Magen vorübergehend zu besänftigen. Es war die gleiche Sorte, wie Heike ihm damals geschenkt hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Die Erinnerung daran weckte in ihm unweigerlich ein schlechtes Gewissen, ebenso wie den verzweifelten Schmerz, der ihn damals in sein neues Leben begleitet hatte.

Plötzlich blitzte ein Bild vor seinem inneren Auge auf, das anders war, als alle bisherigen, zu denen seine Erinnerung Zugang fand. Es war das Gesicht eines Mannes. Toran fühlte, dass dieser Mann ihm sehr viel bedeutet hatte. Aber da war noch ein Gefühl. Angst. Schreckliche Angst. Sie überwältigte Toran auf einmal wie eine Welle, die ihn in die Tiefe zu ziehen drohte. Toran verschluckte sich an der Schokolade, auf der er gerade herumkaute, und fing an zu husten.

Erinnere dich..., hatte der Drache gesagt. Erinnere dich... Immer wieder hallten diese Worte in Torans Kopf, sodass ihm fast schwindelig davon wurde. Mit überwältigender Klarheit stürzten die Bilder weiter auf ihn ein, als entsprangen sie plötzlich einer lange verschollenen Schatulle, die nun endlich wieder geöffnet worden war.

Der Mann hielt einen Ring in seiner Hand. Toran erkannte ihn und plötzlich erfüllte sein Anblick ihn mit einem namenlosen Schrecken. In Zeitlupe sah Toran, wie der Mann den Ring auf den Boden legte. Dabei murmelte er irgendwelche Worte und Toran erkannte die Sprache. Es war die gleiche, die der Drache mit ihm gesprochen hatte. Toran hörte die Worte, sie fraßen sich wie Würmer in sein Gedächtnis. Erinnere dich...! Sie wurden lauter und lauter. Erinnere dich...!!! Und dann riss die Welt auf. Toran konnte es vor sich sehen, als würde es gerade geschehen, doch ihm blieb keine Zeit, es zu begreifen, denn ein Krachen ließ ihn plötzlich zusammenzucken. Er hörte dieses Krachen, sah das entsetzte Gesicht des Mannes, seines Vaters, der ihn auf einmal bei den Schultern packte und in das Loch stieß, das sich vor ihm geöffnet hatte. Toran wollte zurück blicken, da kam der Pfeil auf ihn zu. Die Tür schlug zu, der Pfeil traf und Toran verlor das Bewusstsein. Erinnere dich...

Fassungslos stand Toran da, den Schokoriegel in der einen Hand, den Ring in der anderen. Tränen strömten ihm über das Gesicht und er war unfähig den Bissen herunterzuschlucken, der ihm noch im Mund steckte. Er hatte die Tür gefunden. Sie war hier bei ihm, überall dort, wo er den Ring zu Boden legen würde. Den Schlüssel hielt er in der Hand und die Worte hatte er im Kopf. Sein Vater hatte sie einst gesprochen und er hatte sie sich gemerkt. Tief vergraben hatten sie seit jeher in seinem Gedächtnis geschlummert und jetzt waren sie wieder da. So nah war er plötzlich seinem lang vermissten zu Hause, dass er es nicht wagte, die Tür nun zu öffnen.

Mit einem kräftigen Schlucken zwang er die Schokolade hinunter, warf den restlichen Schokoriegel fort, packte den Rucksack und die Gehstützen und verließ den Bahnhof, um sich ein ungestörtes Fleckchen zu suchen. Solch eines fand sich schon gleich hinter dem Parkplatz, in Form eines kleinen, angrenzenden Waldstücks. Toran kletterte umständlich über die Leitplanke, die das Waldstück von dem Parkplatz trennte, und humpelte quer Feld ein, bis er soweit gegangen war, dass man ihn nicht so leicht entdecken konnte. Das sollte genügen.

Er stellte den Rucksack auf den Boden, legte die Stützen daneben und richtete sich auf. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er seine Faust und betrachtete den Ring, der kalt und schwer darin lag.

Dann bückte er sich, um ihn auf den Boden vor sich zu legen. Er wusste, dass er nun bloß noch die Worte zu sprechen brauchte und doch brachte er sie nicht über die Lippen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es wohl einen Grund gehabt haben musste, weshalb er hier her gebracht worden war. Wäre es wirklich klug, dorthin zurückzukehren, wo jemand mit einem Pfeil auf ihn geschossen hatte? Was wusste Toran schon von seiner vermeintlichen Heimat? Nichts mehr. Was war das für eine Welt, in die er nun beabsichtigte, zu gehen?

Und doch waren da die Worte des Drachen, der ihn immerzu rief. Zu ihm fühlte er sich hingezogen, als sei er ein Teil von ihm, den man ihm entrissen hatte. Nur an seiner Seite wäre er vollständig, das wusste Toran. Und er begann, sie zu formen, die Worte, die so lange schon zurücklagen und nun zurückgekehrt waren, um ihn endlich heim zu bringen. Wort für Wort sprach er sie aus, anfangs mit zitternder Stimme, dann aber immer entschlossener, ohne den Ring dabei aus den Augen zu lassen. Da bemerkte er auf einmal ein sanftes Leuchten in seinem Zentrum, das stetig an Helligkeit zunahm bis es ihn schließlich blendete. Unbeirrt sprach Toran jedoch weiter, wie ein Gebet ließ er die Beschwörung auf den Ring niedergehen, bis plötzlich ein Strahl gleißenden Lichts in die Höhe schoss und sich unmittelbar darauf teilte, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen.

Es war vollbracht. Toran schwieg. Benommen starrte er in das Licht, in dem er nur schemenhaft die Konturen einer Landschaft erkennen konnte. Ohne es aus den Augen zu lassen, bückte er sich, hob seine Sachen auf und humpelte hinein.

Im Schatten der Prophezeiung

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