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Kapitel 2 – Im Kinderheim
ОглавлениеEs war ein seltsames Gefühl, den Jungen mitzunehmen, ohne Tasche oder sonstige Habseligkeiten. Es gab nichts, außer der Hose und Schuhe, die er am Leib trug, sowie das dünne Hemd, das Heike ihm über die Schultern hängte; und selbst diese Sachen waren ihm aus den Altkleiderkammern der Diakonie notdürftig zusammengesucht worden. Seine eigene Kleidung war zerrissen und dreckig gewesen. Es hieß, sie habe ausgesehen, als stamme sie von irgendeinem mittelalterlichen Markt.
Aber Heike schien es, als sei nicht nur die Kleidung aus einer anderen Welt gekommen. Das ganze Kind kam ihr seltsam fremdartig vor. Sie hatte den Eindruck, er habe all das, was ihn hier umgab, noch nie zuvor gesehen. Auf dem Weg zu ihrem Wagen schaute er sich mit offen stehendem Mund in alle Richtungen um, ängstlich und neugierig zugleich, und hielt dabei Heikes Hand ganz fest in der Seinen.
Auf dem Parkplatz angekommen, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte auf ein Auto, das an ihnen vorüberfuhr.
„Das ist ein Auto. AU-TO...“, erklärte Heike, obgleich sie nicht erwartete, dass der Kleine sie verstand. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er ihn wieder gebannt auf das Auto richtete.
„AU-TO“, sprach er langsam nach und sah dem Fahrzeug hinterher. Erst als es um die Ecke bog und verschwand, ließ er sich von Heike weiterführen. Dabei begutachtete er prüfend die parkenden Wagen und sagte immer wieder vor sich hin: „AU-TO.“
Schließlich waren sie bei Heikes Wagen angekommen. Sie öffnete die Beifahrertür und lud Toran ein, sich auf den Kindersitz zu setzen, den sie zuvor noch aus dem Kofferraum geholt hatte. Es dauerte eine Weile, bis der Junge seine Skepsis überwand und ihrer Einladung folgte. Gespannt beobachtete er, wie Heike den Gurt herauszog und um ihn legte. Dann allerdings schien ihn die Furcht zu packen. Hastig riss er an dem Gurt und wollte ihn beiseite schieben. Er machte Anstalten, sich aus dem Sitz zu winden, um zu fliehen, doch der Schmerz in seiner Schulter ließ ihn jäh zusammenzucken.
Heike lockerte den Gurt sofort.
„Schsch“, versuchte sie, ihn zu besänftigen. „Ich tue dir nichts, Toran. Hab keine Angst... Das ist bloß ein Anschnallgurt.“ Mit ruhiger Stimme redete sie auf ihn ein. Mit Erfolg, denn Toran entspannte sich wieder.
„Sieh mal“, sprach sie weiter und zeigte auf den Gurt neben dem Fahrersitz, „ich brauche den auch gleich.“
Toran folgte ihrem Fingerzeig und schien langsam zu verstehen. Als Heike daraufhin erneut versuchte, den Gurt anzulegen, wehrte er sich nicht mehr, sodass sie wenig später endlich losfahren konnten.
Die Fahrt wurde noch von so manchen Schreckmomenten für den Jungen begleitet, sei es ein Müllauto, das an ihnen vorüberfuhr oder eine Eisenbahn, die ratternd ihren Weg kreuzte, während sie vor der Schranke warteten. Heike zweifelte inzwischen nicht mehr daran, dass Toran bis zu dem heutigen Tag von der Gesellschaft isoliert gewesen sein musste. Hatte er bisher vielleicht in irgendeiner Hippiekommune gelebt, die sich von der modernen Welt abgeschottet hatte? Es war alles so abwegig. Nicht zuletzt der Pfeil in seiner Schulter gab ihr das größte Rätsel auf. Vielleicht könnte der Junge ja eines Tages selbst erzählen, woher er kam. Doch dazu mussten sie erst einmal jemanden finden, der seine Sprache beherrschte, um zu übersetzen.
Endlich im Kinderheim angekommen, führte Heike den Jungen zu einem kleinen ebengeschossigen Bau, wo sie ihn in der ihm zugedachten Wohngruppe abgeben sollte. Der Junge hatte sich fest an Heikes Hand geklammert, als sei es sein einziger, letzter Halt. Wer konnte es ihm verdenken? Heike versuchte sich vorzustellen, wie ihr zumute gewesen wäre, als siebenjähriges Kind, aus der vertrauten Umgebung in eine fremde Welt gestoßen, der Sprache nicht mächtig, allein, unwissend, was mit ihr weiter geschehen würde. Eigentlich war der Junge sehr tapfer, wie er so neben ihr ging, die Angst spürbar im Nacken, den Willen zu überleben fest in seinem Herzen. Heike konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen des Mitgefühls in die Augen stiegen. Unwillkürlich erwiderte sie Torans Händedruck, um ihm dadurch ein wenig Zuversicht zu schenken. Und doch würde gleich der Moment kommen, in dem sie den Jungen verlassen musste. Noch nie zuvor hatte dieser Gedanke ihr derartig die Kehle zugeschnürt, wie diesmal. Sie konnte ihm diesen Abschied nicht einmal erklären...
Vor der Tür angelangt, drückte Heike auf die Klingel. Bald darauf wurde ihnen von einer Erzieherin geöffnet, die sie durch einen kurzen Flur in den großen Gemeinschaftsraum führte. Ein Tisch, der locker für zehn Leute Platz bot, stand in einer Ecke und die gegenüberliegende Wand zierte ein breites Regal, voll mit Büchern und Spielen. In einer anderen Ecke stand ein abgewetztes Sofa vor einem großen Fernseher.
Obgleich sicherlich acht Kinder hier lebten, so war der Aufenthaltsraum gerade wie ausgestorben. Bloß zwei Jungs lungerten auf dem Sofa herum, vertieft in ein Spiel, das sie zwischen sich aufgebaut hatten. Als Heike mit Toran den Raum betrat, schauten sie neugierig auf und musterten den Neuankömmling von Kopf bis Fuß. Heike spürte, wie sich Torans Rücken darunter versteifte. Er hielt ihre Hand mittlerweile so fest, dass sie sich nur mit sanfter Gewalt aus seinem Griff zu lösen vermochte, begleitet von einem fragenden Blick aus Torans nun wieder ängstlichen Augen. Milde lächelte sie ihm zu und wandte sich dann an die Erzieherin, um ihr die Umstände zu schildern, angefangen bei der Ungewissheit über Torans Herkunft, sowie die Tatsache, dass er die hiesige Sprache nicht verstand.
„Nehmen Sie doch eben Platz, Frau Willing“, bat die Erzieherin Heike, worauf sie sich beide an den Tisch setzten. Die Erzieherin kramte zuvor noch eine leere Akte aus der Schublade einer Kommode hervor und begann nun, die Vordrucke mit den Informationen zu füllen, die Heike ihr gab. Derweil stand Toran etwas verloren da und betrachtete die zwei Jungs, die sich mittlerweile wieder ihrem Spiel widmeten. Schließlich kam er ebenfalls zu dem Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben Heike, wo er wachsam beobachtete, wie der Stift der Erzieherin emsig über das Papier kritzelte.
Je beschriebener die Formulare wurden, desto verzweifelter schlug Heike das Herz in ihrer Brust. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie Toran Lebewohl sagen und ihn erneut seiner Haltlosigkeit überlassen musste. Wie sollte sie ertragen, ihm gleich in seine Augen zu sehen, die voll sein würden von Unverständnis und Enttäuschung? Da saß er neben ihr, Schutz suchend, nein, Schutz findend, nichts ahnend, dass ihm dieser sogleich wieder entrissen werden würde. Mit einer schnellen Bewegung wischte Heike sich eine Träne fort, die sich heimlich aus ihrem rechten Augenwinkel gestohlen hatte.
„Gut, danke, dann hätte ich vorerst alles“, sagte die Erzieherin schließlich, legte den Stift beiseite, schaute zufrieden von ihren Unterlagen auf und schenkte Toran dabei ein freundliches Lächeln. Dieser rückte daraufhin noch ein Stück näher an Heike heran, in deren Magengegend derweil ein dicker, schwerer Stein heranwuchs.
Toran ahnte, dass etwas vor sich ging, das ihm nicht gefallen würde. Die Art, wie Heike ihn zwischendurch ansah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, wie ihre Schultern sich versteiften, verhieß nichts Gutes. Und die Art, wie diese andere Frau ihn musterte, mit ihren Augen abtastete, versteckt hinter ihrem aufgesetzten Lächeln, erfüllte ihn mit Widerwillen. Ebenso wie die verstohlenen Blicke der Jungs, die so taten, als würden sie sich auf ihr Spiel konzentrieren, ihn derweil aber einzuordnen versuchten. Feind oder Freund?
Toran hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen verwandelte sich in dünnes, sehr dünnes Eis. Er konnte ihn schon bedrohlich knacken hören und machte sich innerlich bereit, dem kalten Wasser darunter zu trotzen. Er wollte bei Heike bleiben. Sie war gut zu ihm. Bei ihr war er sicher, das wusste er. Was aber besprach sie mit dieser Frau? Warum schauten sie ihn immer wieder so an? Was hatte das zu bedeuten?
Schließlich war der Zeitpunkt gekommen. Die Erzieherin erhob sich und Heike folgte ihrem Beispiel. Toran sprang daraufhin ebenfalls von seinem Stuhl herunter und griff wieder nach Heikes Hand. Heike blieb nichts anderes übrig, als sich zu ihm herunterzubeugen und ihn anzulächeln. Sie wusste, dass er sie nicht verstehen würde, aber dennoch war es ihr ein Bedürfnis, ihm ihr Handeln zu erklären.
„Toran, ich muss jetzt gehen. Du wirst vorerst hier wohnen, bis deine Eltern gefunden worden sind. Es tut mir so leid, mein Junge...“ Aufmerksam schaute Toran Heike in die Augen, machte aber keine Anstalten, ihre Hand loszulassen. Daher entwand Heike sie ihm sanft, worauf er zunächst irritiert, dann aber verunsichert dreinblickte, als versuche er, ihre Geste zu begreifen. Dieser Blick war schlimmer für Heike, als ein Messer es hätte sein können, das ihr in diesem Moment in den Rücken gestoßen worden wäre. Noch einmal wuschelte sie Toran durch sein störrisches Haar, dann richtete sie sich wieder auf und ging Richtung Ausgang.
„HAIKE!“, rief Toran da entsetzt aus und rannte hinter ihr her, um sich erneut an ihre Hand zu klammern. Die Erzieherin eilte ihm nach und hielt ihn fest, während Heike sich abermals aus seiner Umklammerung befreite, obgleich sie diesmal deutlich mehr Kraft dazu aufwenden musste. Toran wehrte sich mit dem Willen eines Ertrinkenden gegen den unnachgiebigen Griff der Erzieherin, trat um sich und versuchte sich sogar mit seinem verletzten Arm gegen sie zu stemmen. Doch dann konnte Heike sehen, wie sein Gesicht sich plötzlich vor Schmerz verzog. Sofort hielt er inne, was ihr wiederum die Gelegenheit bot, fluchtartig nach draußen zu gelangen, gefolgt von seinen verzweifelten Schreien „Haike! Haike!“
Heike rannte davon, während ihr die Tränen nun ungehemmt die Wangen hinunter rannen. Sie hastete auf ihren Wagen zu, um sich eilig darin zu verschanzen und ihrem Schmerz dort endlich lauthals schluchzend freien Lauf zu lassen.