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Kapitel 5 – Die Wandlung
ОглавлениеToran blickte auf sein unbeschriebenes Tagebuch. Er hatte vor, einen Traum hinein zu schreiben, der ihn in seinen Nächten verfolgte, seit er das Fieber vor dreieinhalb Jahren gehabt hatte. Bisher hatte er ihn noch niemandem anvertraut und eine tiefe innere Stimme riet ihm, das auch in Zukunft möglichst zu unterlassen. Dennoch musste er ihn loswerden, sonst würde er von ihm schier erdrückt werden. Anfangs war der Traum nur selten aufgetreten, nur schemenhaft, kaum zu erfassen und bald schon wieder der Erinnerung entronnen. Doch mit der Zeit kam er häufiger, wurde dichter, und letzte Nacht war er schließlich so real, so erschlagend präzise gewesen, dass Toran schweißgebadet davon erwacht war.
Es war immer das gleiche: ein Drache war auf der Jagd. Er kreiste lauernd am Himmel, seine fledermausartigen Schwingen weit ausgebreitet. Dann entdeckte er es, seine Beute, ein Reh mit seltsam geformten Hörnern, wie Toran es noch nie zuvor gesehen hatte. Im Sturzflug sauste der Drache hinab und eine glühend rote Flamme schoss aus seinem aufgerissenen Maul hervor, um das Reh innerhalb von wenigen Augenblicken zu rösten. Es kreischte auf, stürzte und blieb verkohlt liegen, auf dass der Drache davor landete, seine Flügel zusammenfaltete und das Tier zu reißen begann. Im Traum kam es Toran so vor, als stünde er dabei direkt vor ihm, während dieser das Reh in großen Stücken verschlang. Und dann schaute der Drache auf. Er sah Toran direkt in die Augen, sein Blick bohrte sich in den Seinen, und Toran fühlte, wie er sich in sein Herz brannte. Der Schmerz war so vernichtend, dass Toran schrie. Und dies war stets der Moment, in dem er erwachte.
In der letzten Nacht jedoch war es anders gewesen. Diesmal hatte der Drache zu Toran gesprochen. Während er ihn ansah, flüsterte er ihm zu, mit einer Stimme, die eine seltsam hypnotische Wirkung auf ihn ausübte. Seine Worte entstammten einer fremden Sprache und doch konnte Toran sie verstehen. Er sagte: „Das bist du, Toran. Ich bin du und du bist ich. Dort wo du bist, ist nicht deine Heimat. Komm zu mir und jage mit mir!“ Toran wollte ihn fragen, was er damit meine, doch da sah er plötzlich einen Pfeil auf sich zufliegen. Er drehte sich um, rannte fort und als er noch einmal über die Schulter zurückblickte, sah er, wie eine Tür zuschlug und ihn von dem Drachen trennte. Gleichzeitig bohrte sich der Pfeil in seine linke Schulter und er erwachte.
Er konnte den Schmerz noch in seiner Schulter spüren. Dort, wo der Pfeil damals durch sie hindurch gegangen war und vorne wie hinten eine Narbe hinterlassen hatte. Er war verwirrt. Was hatte der Traum zu bedeuten?
Die Worte des Drachen hallten noch in seinen Ohren nach und die Sprache wollte ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie klang so fremd, und doch war sie ihm so schrecklich vertraut, beinahe tat sie ihm weh, rührte tief in seiner Seele, dort, wo es bloß einen schwarzen See gab, den einst ein dunkler Strudel aus verwirrenden Bildern hinterlassen hatte. Toran hörte sie, er formte sie in Gedanken, dann mit den Lippen, mit der Zunge, mit dem Kehlkopf und auf einmal sprach er sie aus. Das erste Mal, seit er bei Heike und Frank lebte, brachte er sie wieder über die Lippen, zunächst flüsternd, dann klar und deutlich.
Mit ihr tauchten jedoch auch die Bilder wieder auf. Bilder, die bis heute in jenem See geschlummert hatten, sicher verborgen, wie ein unheilvoller Schatz. Bilder die Toran nicht sehen wollte, weil sie Erinnerungen weckten. Erinnerungen an eine Zeit, an eine Welt, die so unendlich fern von dieser war; Erinnerungen, die von Furcht und Schmerz begleitet wurden. Gleichzeitig aber weckten sie in ihm auch Wehmut und eine nagende Neugier.
Toran wischte sich mit den Händen durch sein müdes Gesicht. Er fühlte sich erschöpft, obwohl er gerade erst aufgestanden war. Schließlich nahm er die Hände wieder herunter, griff nach dem Kugelschreiber und setzte ihn auf das Papier. Sobald dieser es jedoch berührt hatte, begann er ein Eigenleben. Plötzlich vollzog er Linie für Linie, Zeichen für Zeichen, Wort für Wort eine Schrift, die Toran glaubte, noch nie geschrieben zu haben. Und doch, er fühlte, er dachte, er schrieb und er las sie, erzählte in ihr seinen quälenden Traum. Dabei kam es ihm vor, als hätte er nach Hause gefunden. Nach so langer Zeit, endlich wieder zu Hause...
Ein kräftiges Klopfen riss Toran aus dem Strom seiner Gedanken, die er unermüdlich auf das Papier fließen ließ, Seite um Seite, als hätten sie endlich einen Damm durchbrochen, der über die Jahre marode geworden war. Widerwillig hielt er inne und tauchte auf in das Hier und Jetzt.
„Toran? Kommst du frühstücken?“ Es war Heike, die nach ihm rief.
„Hm“, brummte er bloß zurück, während er noch auf das Tagebuch starrte. Es gab noch so viel, das er niederschreiben wollte. So viel, das gerade an die Oberfläche drängte. Bilder, die er noch nicht einzuordnen vermochte. Doch er war auf der Suche, er war ihnen auf der Spur, kurz vor der Entdeckung eines Zusammenhangs. So kurz davor...
„Toran, ich habe dich schon fünfmal gerufen. Jetzt komm endlich!“
Toran fluchte leise. Warum musste Heike ausgerechnet jetzt so hartnäckig sein? Er konnte regelrecht spüren, wie die Tür in seinem Gedächtnis langsam wieder zufiel, ohne dass er in der Lage war, sie willentlich offen zu halten. Wütend schlug er mit der Hand auf den Tisch. In dem Moment betrat Heike das Zimmer. Hastig klappte Toran das Buch zu und stützte sich mit dem Ellenbogen darauf ab, während er sich zu Heike umdrehte.
„Sorry, ich habe nur noch kurz etwas gemacht... Ich komme jetzt“, sagte er, während er sehr wohl Heikes neugierigen Blick bemerkte, mit dem sie das Buch unter seinem Arm musterte. Lächelnd stand er auf, ergriff das Buch und schloss es in seine Schreibtischschublade.
„Na dann, auf zum Frühstück...“, sagte er bloß, grinste Heike betont unbedarft an und wartete, bis sie endlich mit ihm das Zimmer Richtung Küche verließ.
Der Frühstückstisch war gedeckt und Frank kaute bereits an seinem Brötchen, als Toran und Heike sich dazu setzten. Dass die Stimmung in dem Raum gerade alles andere als heiter war, registrierte Toran sofort, doch er hoffte, nicht der Grund dessen zu sein.
„Guten Morgen“, begrüßte er Frank daher vorsichtshalber besonders fröhlich und angelte sich ein Brötchen aus dem Brotkorb, um es direkt aufzuschneiden. Dabei vermied er es, Frank und Heike in ihre Gesichter zu blicken, aus Furcht, damit eine Ansprache zu provozieren. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass sie auf ihn einredeten und versuchten, in ihn einzudringen. Genau genommen, kam es in der letzten Zeit sehr regelmäßig vor.
„Guten Morgen, Toran!“, folgte so auch gleich Franks Entgegnung und der Ton seiner Stimme verriet nichts Gutes.
„Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Toran... Du musst ja jetzt äußerst ausgeruht sein, wo du uns so lange hast warten lassen.“
Toran ließ sein Brötchen sowie das Messer sinken und stellte sich Franks rügendem Blick.
„Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor.“
Frank tat einen tiefen Atemzug, während Heike ihm einen warnenden Blick zuwarf. Daraufhin ließ er ihn wieder entweichen und sprach deutlich milder, als er wohl zunächst vorgehabt hatte: „Toran, das sagst du jedes Mal. Warum nur hältst du dich nicht auch daran?“
Toran verdrehte die Augen.
„Meine Güte, es ist doch nur ein Frühstück! Und an einem Sonntag kann man doch wohl mal ausschlafen, oder?“
Nun mischte Heike sich ein.
„Toran, du weißt doch, dass es nicht um dieses alberne Frühstück geht! Ich kann mir dein Leben derzeit ansehen, wo ich will, nichts läuft mehr in den richtigen Bahnen. Da können wir direkt mit deinen inzwischen miserablen Schulleistungen anfangen... Deine Versetzung ist akut gefährdet, falls du es noch nicht bemerkt hast.“
Toran wollte Luft holen, um zu insistieren, doch Heike kam ihm zuvor.
„Mit deinen Freunden ist es auch nicht besser geworden. Wo sind sie, Toran? Wann hast du dich das letzte Mal mit einem von ihnen getroffen? Die kleine Sarah, sie war ein nettes Mädchen, eine, die dir gut getan hätte... Und was machst du, du schickst sie eines Tages einfach kaltherzig fort und scherst dich nicht mehr um sie. Weißt du, dass sie noch ein paar Mal hier angerufen und nach dir gefragt hat? Dass wir dir gleichgültig zu sein scheinen, mag an deinem Alter liegen; aber deine Freunde?“
Heike schluckte. Sie hatte sich in Rage geredet und Toran konnte in ihrer Stimme ein leises Beben hören. Es wollte schon gerade so etwas wie Mitleid in ihm aufsteigen, da fuhr sie fort.
„Stattdessen verschanzt du dich Tag ein Tag aus in deinem Zimmer, umgibst dich mit diesen furchtbaren Drachen in allen Variationen und entschwindest mehr und mehr der Realität...“ Heike versagte für einen Moment die Stimme. Sie räusperte sich. „Toran, das ist nicht gesund, was du da tust! Du bist jung, siebzehneinhalb Jahre alt, dein ganzes Leben liegt vor dir und du bist gerade dabei, deinen guten Start gehörig in den Sand zu setzen. Verstehe doch, ich mache mir einfach Sorgen um dich!“, endete sie schließlich und sah Toran lange an. Er jedoch starrte nur betroffen auf seinen Teller.
Heike verstand ihn nicht. Keiner tat das. Dabei konnte man ihm nicht vorwerfen, dass er nicht versucht hätte, sich jemandem anzuvertrauen. Eben jene Sarah war es gewesen, die ihn bloß perplex angestarrt hatte, als er ihr gestand, dass etwas in ihm sei, das leben wollte, aber nicht durfte. Er war verzweifelt gewesen, weil er es spürte, aber keinen Namen dafür fand. Auch seine Freunde konnten nicht annähernd von etwas ähnlichem berichten. Ja, es war ihm manchmal, als lebte noch ein Wesen in ihm, das einfach keinen Platz hatte in dieser Welt. Etwas, das nach Freiheit schrie und immer mehr Raum in seinem Kopf einnahm.
„Ich habe Kontakt mit einem Psychiater aufgenommen“, sagte Heike und ihre Worte trafen Toran wie der Pfeil damals. Abrupt hob er den Kopf und starrte Heike ins Gesicht. Sie nickte nur bestimmt.
„Ich kenne ihn vom Jugendamt her. Er arbeitet viel mit Kindern und Jugendlichen und macht seine Arbeit wirklich gut! Ich bin überzeugt, dass er dir helfen kann, Toran.“
„Aber ich brauche keinen Psychiater! Das ist totaler Quatsch, ich bin nicht verrückt!“, protestierte er. Doch Heike ließ sich nicht erweichen. Sie schüttelte den Kopf.
„Toran, stelle dich einfach mal bei ihm vor. Es geht doch nicht allein darum, ob du verrückt bist. Aber du hast nun mal früher ein Trauma erlebt. Ich denke, es ist jetzt einfach an der Zeit, es aufzuarbeiten... Wenn der Psychiater zuletzt auch davon überzeugt ist, dass alles mit dir in Ordnung ist, dann ist es ja gut. Dann überlegen wir eben auf anderen Wegen, wie du den Bogen wieder kriegst. Aber irgendetwas muss jetzt einfach geschehen, da stimmst du mir doch sicher zu, oder?“
Ja, er stimmte Heike zu, dachte er grimmig. Allerdings hatte er dabei einen anderen Weg vor Augen. Doch er würde den Teufel tun, es ihr zu verraten. Also nickte er stumm, während er dabei stur auf sein Brötchen schaute. Der Appetit war ihm zwar vergangen und Heikes sowie Franks Blicke machten diesen Zustand nicht besser. Dennoch packte er es entschlossen, belegte es mit einer Scheibe Wurst und biss wütend hinein. Dabei funkelte er seine Adoptiveltern böse an, die seinen Blick bloß gelassen entgegen nahmen, sich in Sicherheit wiegend, den Sieg davon getragen zu haben.
Als Toran nach dem Frühstück zurück in sein Zimmer kehrte, fühlte er sich wie ein gefangener Wolf. Unruhig ging er auf und ab, getrieben von Zeitnot, ohne erklären zu können, worin diese eigentlich genau bestand. Schließlich setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, holte sein Tagebuch hervor und versuchte, wieder an jenem Punkt anzuknüpfen, an dem er sich gerade befunden hatte, als er von Heike unterbrochen worden war. Er las seine geschriebenen Zeilen und war abermals verblüfft, dass er sie tatsächlich verstand. Er schloss kurz die Augen, um die Worte noch einmal auszusprechen und ihrem Klang zu lauschen, hoffend, jene Bilder damit wieder heraufbeschwören zu können. Jene Bilder, von denen er sich versprach, dass sie auch der Schlüssel zu dem seltsamen Gefühl in ihm waren.
Doch es gelang ihm nicht. Hinter seinen Lidern blieb es schwarz. Frustriert öffnete er sie wieder, klappte schließlich das Buch zu, verstaute es in seinem Versteck und stand auf. Er trat ans Fenster, schaute hinaus und war ratlos, wie er diese Unruhe loswerden sollte, die sich wie eine aufgescheuchte Schlange durch seinen Brustkorb wand.
Zuletzt beschloss er, joggen zu gehen. Er brauchte jetzt einfach frische Luft und den freien Himmel über sich. Noch länger hier zu bleiben, erschien ihm auf einmal schier erdrückend.
Rasch hatte er sich seine Sportsachen angezogen und war auf dem kürzesten Weg aus der Wohnung geflohen. Im Vorbeigehen hatte er Heike und Frank noch in die Küche gerufen, dass er laufen geht, und weg war er.
In der Nähe der Wohnung lag ein Wald, der an einen Steinbruch angrenzte. Hier lief Toran am liebsten, so auch diesmal. Das erste Stück hatte ihn in den Wald hineingeführt. Allerdings war Toran nicht gelaufen, wie sonst, sondern gerannt. Es war ihm einfach ein Bedürfnis gewesen. Er war gerannt, bis ihm die Muskeln in den Beinen brannten. Erst dann fiel er in einen leichten Trab, der sich bald zu einem Gehen verlangsamte.
Schließlich war Toran bei der Wiese angelangt, die er so sehr liebte, weil er hier stets ungestört war. Fast nie verirrte sich ein Mensch hier her, da es keinen befestigten Weg gab. Toran musste quer durch das Unterholz laufen und dabei das ein oder andere Hindernis überspringen, um zu ihr zu gelangen.
Die letzten Tage waren frühlingshaft warm und sonnig gewesen, sodass die Wiese trocken war. Daher suchte sich Toran ein halbschattiges Fleckchen und legte sich dort rücklings auf den Boden. Den strahlend blauen Himmel über sich, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und genoss einfach die Ruhe und den sanften Wind, der durch sein verschwitztes Haar strich. Die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach brachen und über sein Gesicht tanzten, malten zuckende, rote Flecken auf das Dunkel seiner geschlossenen Lider und erinnerten Toran an die Flammen eines Feuers.
Er musste darüber eingenickt sein, denn als er neben sich ein leises Knacken hörte, vermischte sich dieses noch für einen kurzen, erwachenden Moment mit dem Bild des Drachen, der gerade ansetzen wollte, mit ihm zu sprechen. Etwas verwirrt öffnete Toran die Augen und drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Was er dort sah, ließ ihn jedoch sofort innehalten.
Es war ein Reh, das ihn nicht bemerkt zu haben schien. Es stakste durch das Unterholz und wollte gerade die Wiese betreten, da hielt es an und schaute sich um, während sich seine Ohren lauschend hin und her drehten. Augenblicklich fühlte Toran sich an seinen Traum erinnert. Allerdings empfand er sich nicht als Zuschauer, der er im Traum sonst stets war. Nein, es war seltsam, aber jetzt war es plötzlich anders: er spürte ihn, den Instinkt des Drachen, tief in seiner Brust, dort, wo sein Herz auf einmal schneller schlug, begierig, auf die Jagd zu gehen.
Ganz von diesem Instinkt geleitet, bewegte sich Toran nun bloß ganz langsam und vorsichtig, immer dann, wenn das Reh nicht in seine Richtung schaute. So schaffte er es tatsächlich, von dem Tier unbemerkt auf die Beine zu kommen. Dann allerdings streifte der Blick des Rehs Torans nun aufgerichtete Gestalt. Es zuckte zusammen und preschte los. Ohne zu zögern, rannte Toran hinterher. Eine bisher nie gekannte Kraft schien ihn dabei auf einmal zu durchfluten und er war selbst beeindruckt, wie schnell und leicht er dem Reh zu folgen vermochte, ohne aus der Puste zu geraten, wie noch vorhin. Fast nur nebenbei nahm er den seltsam schneidenden Schmerz auf seinem Rücken wahr, ebenso wie den auf seiner Stirn. Es kümmerte ihn nicht, zu sehr war er darauf erpicht, das Reh zu fassen zu bekommen. Begleitet von einem Ziehen in den Wangen, spürte er, wie sich Speichel in seinem Mund sammelte.
Toran war schnell, ungewöhnlich schnell sogar, doch sein menschlicher Körper bremste seine Möglichkeiten, sodass das Reh dennoch schneller war. Es entwischte ihm nach einer kurzen Jagd und tauchte schließlich im Dickicht unter, in das Toran ihm nicht mehr folgen konnte. Voll Bedauern blieb er vor dem Gebüsch stehen. Seine Brust hob und senkte sich unter seinen kräftigen Atemzügen, die sich nach und nach beruhigten. Schweiß lief ihm über die Stirn und drohte, ihm in die Augen zu laufen, sodass er ihn mit dem Handrücken fortwischte. Doch als Toran die Hand wieder herunter nahm, war sie voller Blut.
Erschrocken betrachtete er auch die andere Hand, die jedoch noch sauber war. Dann erst registrierte er den Schmerz, der von der Narbe auf seiner Stirn auszugehen schien. Gezielt langte er nach ihr und fand seinen Verdacht bestätigt: sie blutete.
Verwundert starrte Toran auf das Blut an seinem Finger. Dann kamen ihm plötzlich die Narben auf dem Rücken in den Sinn. Auch dort fühlte er Schmerzen. Kurzerhand zog er sein T-Shirt aus, um es sich anzusehen. Und auch hier zeigte sich Blut.
Was hatte das zu bedeuten? Toran war ratlos.
Da stand er nun, am Rande des Waldes, vor sich eine Wiese, die nach wenigen Metern abrupt endete, dort, wo der Steinbruch eine steile Felswand hinterlassen hatte. Eigentlich wollte er umkehren, um sich auf den Heimweg zu begeben und zu Hause die blutenden Wunden zu verpflastern. Da jedoch huschte sein Blick noch einmal zu dem Felshang hinüber und eine nicht zu bestimmende Begierde erfasste ihn. Aller Vernunft zum Trotz, entschied sich Toran gegen den Heimweg und ging stattdessen auf die Schlucht zu. Erst dicht am Rand blieb er stehen und sah hinunter. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, doch er blieb, wo er war. Wie hoch mochte die Schlucht sein? Zehn Meter? Fünfzehn Meter?
Für einen Drachen wäre es ein Klacks. Er würde die Flügel ausbreiten und fliegen... Und das war der fatale Gedanke, der auf einmal von Toran Besitz ergriff, mit einer Intensität, die sämtlichem rationalen Verstand widersprach.
Wieder begann Torans Herz aufgeregt zu schlagen, nein, eher ungeduldig. Sein Atem ging schnell. Plötzlich konnte er sie spüren, die Flügel, die in seinem Rücken nur darauf warteten, sich endlich zu entfalten, brennend, schneidend, blutend.
Du bist ich und ich bin du, hatte der Drache gesagt. Jetzt verstand Toran seine Worte. Alles schien plötzlich einen Sinn zu ergeben und hier nun wartete der Beweis.
Toran hätte Angst haben müssen. Doch er hatte keine. Er schloss die Augen, breitete seine Arme aus und ließ sich nach vorne fallen, wissend, dass ihm nichts passieren würde, überzeugt, er würde gleich fliegen.
Im ersten Moment hatte er tatsächlich das Gefühl, zu schweben. Die Bodenlosigkeit umfing ihn wie ein Rausch, der vorbeisausende Wind kühlte seine vor Aufregung erhitzten Wangen. Dann öffnete er die Augen und erschrak. Viel zu schnell raste der Boden auf ihn zu, keine Flügel wuchsen aus seinem Rücken, die ihn hätten auffangen können. Seine Arme ruderten hilflos in der Luft, ohne seinen Sturz noch aufhalten zu können. Und dann kam der Aufprall.
Ein berstender Schmerz durchzuckte Torans rechtes Bein, pflanzte sich fort in seinen Rücken bis hinauf zu seinem Schädel und raubte ihm die Sinne. Schwärze übergoss Torans Bewusstsein und ließ den Schmerz ins Leere gehen.
Allerdings kehrte er schon bald zurück und holte Toran aus seinem watteartigen Zustand, um ihn wieder in die Schlucht zu führen, wo er immer noch auf dem Boden lag, als er die Augen aufschlug. Das erste, was Toran sah, war der wunderschöne, blaue Himmel mit einer strahlenden Sonne, die ihn wärmte. Das nächste, was er fühlte, war ein grausames Pochen in seinem rechten Bein, als müsse es gleich zerspringen. Toran hätte sich gerne aufgerichtet, um danach zu sehen, doch er war nicht in der Lage, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Selbst das Anheben seines Kopfes führte schon dazu, dass er glaubte, jemand würde gerade eine Machete auf sein Bein niedersausen lassen, um es in Stücke zu hauen.
Tränen schossen ihm in die Augen und er schrie auf, vor Schmerz, aber auch vor Wut auf sich selbst. Wie hatte er nur so dumm sein können, zu glauben, er könne fliegen? Was hatte da von ihm Besitz ergriffen? Er konnte sein Handeln nun selbst nicht mehr nachvollziehen... Jetzt lag er hier und konnte sich nicht mehr rühren. Allein nach Hilfe zu rufen, blieb ihm noch. Doch wer kam hier schon vorbei?
So wurde es Abend und Toran betete um die Sorge seiner Adoptiveltern, die ihn hoffentlich suchen würden. Plötzlich tat es ihm leid, mit ihnen gestritten zu haben, ja überhaupt wütend auf sie gewesen zu sein, waren sie doch einfach nur bekümmert, weil sie ihn liebten. Unterbrochen von Tränen, gequält von hämmernden Schmerzen, machte er sich Vorwürfe, haderte mit seiner Existenz, die es seinen Freunden und seinen Eltern so schwer machte, mit ihm zu leben. Warum konnte er nicht einfach so sein, wie alle anderen auch... Dies war eine Frage, das spürte er, die ihn schon länger begleitete, als er sich erinnern konnte. Und eine Antwort darauf war der Pfeil gewesen, der ihn damals in sein jetziges Leben begleitet hatte.