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Kapitel 8 – Die Heimat

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Es war wie eine Offenbarung, als das blendende Licht nachließ und Toran sich auf dem Gipfel eines grün bewachsenen Hügels wiederfand. Unter ihm erstreckte sich in sanften Wellen eine unberührte Landschaft. Wiesen und Wälder soweit das Auge reichte, gleich in welche Richtung Toran sich drehte. Darüber wölbte sich ein glasklarer Himmel und die Luft, die Torans Lungen bei seinem ersten, erstaunten Atemzug füllten, war so rein, dass er überrascht war, wie soetwas möglich war. Das Gefühl unendlichen Glücks überschwemmte ihn plötzlich, sodass er nicht anders konnte, als einen lauten Jubelschrei auszustoßen. Er wäre auch gerne in die Luft gesprungen und hätte sich überschwänglich im Kreise gedreht, wenn sein Bein es zugelassen hätte. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Rucksack und die Krücken fallen zu lassen und sich neben sie auf die Wiese zu setzen, um dieses unbeschreiblich schöne Bild in sich aufzusaugen, wie ein Verdurstender das rettende Wasser.

Dabei vergaß er völlig, auf die Tür hinter sich zu achten, die ihn überhaupt hier her geführt hatte. So merkte er nicht, wie eine Krähe vor ihr landete, den Ring in den Schnabel nahm und damit davon flog. Wie ein Nebel zerstob das Tor, löste sich lautlos in Nichts auf und raubte Toran damit unwiederbringlich die Möglichkeit einer Rückkehr.

Nicht, dass es ihn in diesem seligen Moment gekümmert hätte. Aber es sollten noch andere Zeiten kommen.

Toran genoss die Aussicht. Der Duft des in der Sonne leuchtenden Grases umschmeichelte seine Nase und das sanfte Zirpen der Grillen erfüllte ihn mit einem tiefen Frieden. Schließlich ließ er sich rücklings auf die Wiese sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte in den Himmel. Der Schatten des Mondes zeichnete sich blass in dem kräftigen Blau ab und als Toran genauer hinsah, entdeckte er sogar noch einen zweiten Mond. Unglaublich! Überrascht suchte er den Himmel ab, in der Hoffnung, vielleicht noch einen dritten zu finden. Doch es blieb bei den beiden.

Irgendwann jedoch waren die Sinne gesättigt und der Hunger meldete sich zurück. Der Schokoriegel war vergessen und Torans Magen forderte jetzt nach etwas Gehaltvollerem. Nachdenklich setzte Toran sich auf und schaute sich um. Wo sollte er jetzt hier etwas zu essen herbekommen? Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, noch einmal zurückzugehen und sich an dem Bahnhof noch einen Snack zu ziehen. Er drehte sich um und erschrak.

Die Tür war fort. So schnell er konnte, rappelte er sich auf die Beine und ging zu dem Fleck, wo sie vorhin noch gewesen war. Dort musste doch der Ring noch liegen... Aber so sehr Toran auch nach ihm suchte, er konnte ihn nicht finden. Er fluchte. Wahrscheinlich befand der Ring sich noch auf der anderen Seite, in der anderen Welt, unerreichbar für ihn. Noch einmal fluchte er, diesmal lauter. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Auch wenn er den Ring vielleicht niemals mehr brauchen würde, so wäre es doch beruhigend gewesen, ihn zu haben. Allein schon für Situationen wie diese, in denen er inmitten einer menschenleeren Gegend auf einem Hügel stand, mit einem Bärenhunger und einem lahmen Bein... Ein Einheimischer mochte vielleicht wissen, wie er sich in dieser Welt Nahrung beschaffen konnte, aber Toran war hier so gut aufgehoben, wie ein Blinder in einem Spiegelkabinett. Tiere jagen konnte er von vornherein vergessen und über die Pflanzen, die ihn umgaben, wusste er nichts; weder was essbar, noch was giftig war. Er wusste nicht, was schmeckte und was nicht. Er hatte einfach nicht die geringste Ahnung.

Weil ihm nichts besseres einfiel, setzte er sich den Rucksack auf den Rücken, nahm die Krücken, die er am liebsten einfach liegen gelassen hätte, und wählte willkürlich eine Richtung, in die er gehen wollte. Er hoffte einfach darauf, irgendwo auf eine Menschenseele zu treffen, die ihm etwas zu essen geben konnte. Und so humpelte er los.

Natürlich kam er nur extrem langsam voran. Gerade Hügel abwärts, auf unebenem Boden, war es doch noch sehr anstrengend für ihn, sich stetig darauf zu konzentrieren, sein Bein richtig aufzusetzen. Aber seinen Muskeln würde es gut tun, dachte er sich. Sobald sie kräftiger geworden waren, würde es immer besser gehen. Nichts desto trotz hätte er mit seiner Flucht wohl wirklich noch ein oder zwei Wochen warten sollen... Aber jetzt war es zu spät.

Es vergingen Stunden, die Toran sich durch die Wildnis kämpfte, während der Hunger in Wellen seine Eingeweide durchwühlte. Er bereute mittlerweile inständig, den restlichen Schokoriegel vorhin so gedankenlos fortgeworfen zu haben, anstatt ihn einfach mitzunehmen. Aber es half alles nichts. Er musste weitergehen und auf sein Glück hoffen. Wenigstens hatte er auf seinem Weg einen Bach gekreuzt, von dem er hatte trinken und seine mittlerweile leere Flasche wieder auffüllen können.

Der Tag ging langsam zu Neige. Das Licht wurde schwächer und Toran konnte sich an einer Hand ausrechnen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es so finster war, dass er genau diese nicht einmal mehr vor Augen sehen konnte. Natürlich hatte er auch kein Feuerzeug oder Streichhölzer dabei, um sich ein Lagerfeuer zu machen. An was hatte er überhaupt gedacht? Die Zahnbürste, die hatte er mitgenommen. Damit konnte er jetzt viel anfangen...

Die letzte halbe Stunde Helligkeit nutzte Toran dazu, sich einen einigermaßen geschützten Unterschlupf zu suchen, wo er sich zusammenkauern und schlafen konnte. Dabei hoffte er inständig, dass es keine gefährlichen Tiere gab, die ihm nachts zusetzen würden, denn er wäre ihnen hilflos ausgeliefert.

Toran hatte nicht viel in der Nacht geschlafen. Zu viele Geräusche hatten ihn immer wieder in Schrecken versetzt und es ihm unmöglich gemacht, zur Ruhe zu kommen. Aber woher sie auch stammten, ihm war nichts geschehen und er war noch unversehrt und lebendig. Sein Bein allerdings fühlte sich ziemlich steif an und er musste es erst ein paar Mal bewegen, bis er aufstehen konnte. Aber er hatte den Eindruck, dass es schon weniger wehtat, als noch am Tag zuvor, und er beschloss, sich über diesen kleinen Fortschritt zu freuen.

Der Hunger hingegen war schlimmer geworden und das hohle Zerren in seinem Magen trieb Toran schließlich an, sich weiter auf die Suche nach einem Ort zu begeben, wo Menschen lebten.

Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr Toran, was es bedeutete, wirklich hungrig zu sein, jeden Gedanken immer nur in eine einzige Richtung wandern zu wissen, ohne dem etwas entgegenzusetzen können. Toran erwischte sich dabei, wie er einfach ein Büschel Gras aus der Erde rupfte und sich in den Mund stecken wollte. Ein Käfer, der ihm aus dem Büschel entgegen krabbelte, hielt ihn jedoch im letzten Moment davon ab. So schlimm war es dann doch noch nicht, dachte er angeekelt und warf es wieder fort.

Einige Stunden später, die Sonne hatte sich schon beträchtlich am Himmel empor gearbeitet, sollte Torans Mühe jedoch endlich von Erfolg gekrönt sein. Als er den Rand eines Waldes erreichte, tat sich vor ihm ein Tal auf, aus dem Rauch aufstieg. Hoffnungsvoll kniff er die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und in der Tat konnte er in einiger Entfernung eine Hütte erkennen, aus deren Schornstein weiße Wölkchen herausquollen. Erleichtert atmete er auf. Zwar war es noch ein Stück Weg bis dorthin, und bei seiner momentanen Geschwindigkeit würde er sicher noch eine gute Stunde brauchen, es zu erreichen, aber die Gewissheit, gleich etwas zu essen zu bekommen, ließ ihn dies als notwendiges Übel hinnehmen.

Als Toran sich der Hütte näherte, konnte er das wilde Gebell eines Hundes hören. Ein bärtiger Mann, wohl dadurch alarmiert, erschien an der Tür und schaute hinaus. Mit einem misstrauischen Blick fixierte er den Fremden, der langsam herangehumpelt kam. Toran winkte ihm zu, als Zeichen, dass er keine bösen Absichten hegte, worauf der Mann sich ein wenig zu entspannen schien. Neugierig wartete er, bis Toran nah genug herangekommen war, und musterte ihn kritisch von Kopf bis Fuß.

„Was willst du hier?“, fragte er schließlich in nicht gerade höflichem Ton in der besagten Sprache, die Toran aus seinem Traum kannte. Allerdings musste er sich erst einmal sammeln, ehe er dem Mann antworten konnte, denn selbst wenn er dessen Sprache gut verstand, so fiel es ihm doch noch schwer, sie auch zu sprechen.

„Ich bin eine lange Strecke gewandert und habe Hunger. Hättet Ihr etwas zu essen für mich?“, fragte er, nachdem er sich die Worte zuerst in Gedanken zurecht gelegt hatte, und er war überglücklich, als sich die Gesichtszüge des Mannes zu einem Lächeln verzogen, wenn auch bloß verhalten und ohne die Augen zu erreichen, die Toran weiterhin äußerst skeptisch taxierten.

„Kannst du bezahlen?“

Torans Glücksgefühl wich umgehend einem Schreck.

„Ähm, ich... ich glaube nicht“, gab er beschämt zu, worauf sich das Lächeln des Mannes sofort wieder in Nichts auflöste, während sein Blick an Torans fremdartigen Gehstöcken entlang streifte und schließlich an seinem rechten Bein hängen blieb.

„Warum humpelst du?“

Toran war etwas überrascht über diese Frage und wusste nicht, was das jetzt mit seinem Problem zu tun haben sollte.

„Mein Bein war gebrochen und ist noch nicht ganz verheilt.“

„Mhm...“, machte der Mann bloß und betrachtete abschätzend Torans Gestalt. „Kannst du arbeiten?“

Jetzt verstand Toran, worauf er hinaus wollte.

„Ähm, ja, kommt drauf an, was...“

Wieder nahmen die Augen des Mannes Toran maß.

„Na, mit dem Bein... Du könntest Holz hacken. Wir müssen jetzt nach dem Winter unsere Vorräte wieder aufstocken.“ Damit deutete der Mann mit seinem Kopf neben die Hütte, wo sich das frisch geschlagene Holz stapelte, um kleingehackt zu werden. Toran schluckte. Er hatte noch nie in seinem Leben Holz gehackt.

„Ja, das müsste ich hinkriegen“, versprach er jedoch eilig, begierig jetzt endlich etwas zu essen zu bekommen. Zufrieden nickte der Mann und ließ Toran herein.

„Wir haben einen Gast“, stellte er Toran auf seine schlichte Art der Familie vor, die aus der Frau des Mannes sowie drei Kindern bestand. Das älteste war ein Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren. Das Mittlere war ein wohl zehnjähriger Junge und das Jüngste, ein weiterer Junge, mochte sieben oder acht Jahre alt sein. Die beiden kleineren Kinder saßen vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte, und spielten, während die Mutter in einem Kessel über dem Feuer einen Eintopf zubereitete. Die Große war gerade dabei, hölzerne Schalen auf dem Tisch zu verteilen, welcher den kleinen, einfach eingerichteten Raum nahezu ausfüllte. Alle hielten in dem inne, was sie gerade taten, um Toran neugierig zu betrachten. Sie hatten wohl eher selten Besuch.

Toran warf ihnen ein freundliches Lächeln zu, kam sich dabei aber vor, wie ein Paradiesvogel in einem Taubenschlag. Ihm fiel auf, dass sich allein schon seine Kleidung erheblich von der Ihren unterschied. Bei dem Anblick der Familie sowie ihrer Behausung fühlte er sich an Filme aus dem Mittelalter erinnert, in das er mit seiner Jeans, dem bedruckten Shirt unter seiner Cargojacke und den sportlichen Sneakers überhaupt nicht passen wollte. Ein wenig verloren stand er da, während der Vater sich einfach an den Tisch setzte. Da kam das Mädchen auf Toran zu und lächelte ihn an, während ihre Augen verwundert an ihm rauf und runter wanderten. Was sie sich bei seinem Anblick denken mochte, konnte Toran nicht einschätzen und sie sprach es auch nicht aus. Stattdessen wies sie schließlich mit einer einladenden Geste auf den Tisch.

„Leg dein Gepäck ab und setz dich zu uns. Gleich ist das Essen fertig.“

Darum ließ Toran sich nicht zweimal bitten. Bereitwillig lehnte er Rucksack und Gehstützen an die Wand, setzte sich auf einen der Schemel und nickte dem Mädchen dankbar zu. Derweil trug die Mutter eine große Schüssel Eintopf herbei und stellte sie auf dem Tisch ab. Die Kinder sprangen auf und versammelten sich auf ihren Plätzen. Toran ließen sie dabei nicht aus den Augen. Immer wieder kicherten sie, verstummten aber jedes Mal sofort, wenn er sie ansah.

„Greif zu“, gebot die Mutter Toran und schob ihm die Schüssel entgegen.

Dankend zog er sie an sich heran und schaufelte sich eine Kelle Eintopf in seine Schale. Dann reichte er die Schüssel weiter an den Vater. Wie er es bei Heike und Frank gelernt hatte, wollte Toran mit dem Essen warten, bis alle sich genommen hatten, auch wenn es ihm wirklich schwer fiel. Noch nie hatte er sich so auf einen Eintopf gefreut! Ihm lief das Wasser im wahrsten Sinne im Munde zusammen. Ungeduldig beobachtete er, wie der Vater die Schüssel an die Mutter weitergab. Als er aber sah, wie der Vater, ungeachtet aller Regeln, den Inhalt seiner Schüssel sofort in sich hineinzustopfen begann, griff auch Toran nach seinem Löffel und fiel über den Eintopf her, wie ein hungriges Raubtier. Sehr zur Belustigung des Mädchens, das daraufhin zu kichern begann. Irritiert hielt Toran inne und sah sie fragend an.

„Ich glaube, du hast lange nichts mehr gegessen“, sagte sie und Toran musste verlegen grinsen.

„Es tut mir leid, aber so einen Hunger hatte ich noch nie!“

Nun lachten auch die Mutter und die anderen Kinder. Bloß der Vater hielt sich zurück. Ihm schien Toran weiterhin nicht ganz geheuer zu sein, noch dazu registrierte er nicht gerade mit Freude, dass seine Tochter Gefallen an dem Jungen zu finden schien. Schweigend beobachtete er den Fremden, den er nicht einzuordnen vermochte.

Nach dem Essen ging es an die Arbeit. Toran wurde von dem Vater zu dem Beil geführt und dann dort zu seiner Überraschung stehen gelassen. Eigentlich hatte er auf eine kurze Einweisung gehofft, musste nun aber wohl ohne diese auskommen. Den Vater noch einmal zu fragen, hatte er nicht den Mut.

Das Mädchen war ihnen gefolgt und sah Toran dabei zu, wie er ratlos vor dem Holz stand.

„Worauf wartest du?“, fragte sie ihn schließlich. Toran räusperte sich und kratzte sich verschämt am Kopf.

„Naja, ich hab das, ehrlich gesagt, noch nie gemacht...“

Das Mädchen lachte. Dann kam sie auf ihn zu, zog das Beil aus dem Baumstumpf und stellte ein Holzstück darauf. Dann hielt sie Toran das Beil entgegen.

„Du musst einfach mit dem Beil auf die Mitte zielen und zuschlagen. Wenn das Holzstück dann noch nicht durch ist, musst du noch mal draufhauen. Es ist ganz leicht.“

Zaghaft nahm Toran das Beil entgegen, hob es über das Holzstück, zielte und schlug zu. Doch er hatte nicht fest genug geschlagen. Zwar hatte er das Stück getroffen, immerhin. Aber das Beil steckte im Holz fest, ohne es gespalten zu haben. Das Mädchen kicherte.

„Du musst mehr ausholen“, belehrte sie ihn. Also holte er mit dem Holzstück am Beil weiter aus und ließ es auf den Stumpf sausen. Da endlich zersprang das Holz in zwei Teile und purzelte zu Boden. Das Mädchen klatschte in die Hände, was Toran ein Grinsen entlockte. Aus Spaß verbeugte er sich vor ihr und zuletzt mussten sie beide lachen.

Auf diese Weise machte das Holzhacken in der Tat gleich viel mehr Freude und auch wenn Toran das Holzstück nicht immer traf, so lernte er doch schnell, sodass er nach einer Stunde schon einen, für ihn beachtlichen Berg Kleinholz produziert hatte. Zufrieden betrachtete er sein Werk und wischte sich dabei mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann lächelte er dem Mädchen zu, das es sich auf einem liegenden Baumstamm bequem gemacht und ihm bei der Arbeit zugeschaut hatte. Doch zu Torans Verwunderung erwiderte sie sein Lächeln diesmal nicht. Vielmehr schaute sie ihm neugierig ins Gesicht, als hätte sie dort etwas entdeckt. Langsam erhob sie sich und kam auf ihn zu - die Augenbrauen besorgt zusammengezogen und die Augen konzentriert auf seine Stirn geheftet. Toran wusste nicht recht, was sie dort entdeckt haben mochte. Irritiert tastete er nach seiner Stirn und berührte die Narbe. Doch sie fühlte sich an wie immer.

Das Mädchen hingegen schien etwas daran verwunderlich zu finden. Zaghaft streckte sie ihre Hand nach ihr aus und strich darüber. Dann plötzlich zuckte sie zurück, starrte Toran entsetzt an und rannte weg. Konsterniert sah er ihr nach. Was war denn nun mit dem Mädchen los? So hässlich war die Narbe doch nun auch wieder nicht...

Toran überlegte noch, ob er dem Mädchen nachgehen sollte, doch er entschied sich dagegen. Stattdessen hackte er noch etwas Holz, in der Hoffnung, eine zweite Mahlzeit und vielleicht auch ein Nachtlager dafür zu bekommen.

Tatsächlich wurde Toran für seine Arbeit belohnt. Der Vater bot ihm an, zum Abendessen zu bleiben. Darüber hinaus durfte er die Nacht sogar in dem kleinen Ziegenstall nebenan verbringen. Mehr durfte Toran sich wohl nicht erhoffen, denn die Hütte war sehr klein und bot schon für die Familie allein zu wenig Platz. Aber er wollte damit zufrieden sein. Er war von der Arbeit mehr als müde, seine Arme waren weich wie Brei und er sehnte sich bloß nach einem satten Magen und ungestörten Schlaf. Daher nahm er auch kaum zur Kenntnis, dass die Stimmung beim Abendbrot nicht mehr die geringste Ähnlichkeit zu der am Mittag hatte. Toran glaubte, dass auch die anderen einfach müde waren und die Schweigsamkeit daraus resultierte, dass jeder noch seinen Gedanken nachhing, bevor es ins Bett ging. Die verstohlenen, zum Teil furchtsamen Blicke, mit denen er immer wieder bedacht wurde, entgingen ihm schlicht weg.

Wenig später, gesättigt und bettschwer, wurde Toran zu dem Ziegenstall begleitet. Der Vater wies ihm ein Eckchen mit frischem Heu zu, wo er sich schlafen legen konnte, und wünschte ihm eine gute Nacht, bevor er eilig wieder zurück zur Hütte ging. Toran rückte sich seinen Rucksack zurecht, damit er ihn als Kopfkissen benutzen konnte, bettete sich auf das piksende Heu und fiel augenblicklich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen wurde Toran von Stimmen geweckt. Nur langsam tauchte er aus den Tiefen des Unbewusstseins auf in den Ziegenstall, wo er sich erst einmal verwirrt umschaute, bis die Erinnerung ihn wieder eingeholt hatte. Zu gerne hätte er noch länger geschlafen, denn er fühlte sich noch immer nicht vollständig ausgeruht. Aber etwas hinderte ihn daran, noch einmal seine Augen zu schließen.

Es waren die Stimmen, die durch die Holzwand des Stalls zu ihm herein drangen. Es handelte sich um Männerstimmen. Mehrere. Und sie waren aufgeregt, befehlsartig, barsch.

Sofort war Toran hellwach. Irgendetwas stimmte da draußen nicht. Doch bevor er einfach aufsprang – naja, sich mühsam von seinem Lager erhob, hätte es wohl besser getroffen – und hinauslief, zog er es vor, zunächst einmal zu horchen und sich eine ungefähre Vorstellung von den Geschehnissen zu verschaffen.

„Ihr seid Euch wirklich sicher, dass es ein Drache ist?“, fragte eine der Stimmen.

„Ja, meine Tochter hat das Mal auf seiner Stirn gesehen und wir später auch...“

„Aber seine Vertrauensseligkeit ist doch äußerst ungewöhnlich. Ein Drache ist doch nicht so leichtsinnig... Und er hat noch keinen von euch angegriffen. Was sollte er also hier suchen?“

„Ich weiß es doch auch nicht, aber wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, hätte ich die Taube nicht losgeschickt. Ihr müsst es doch spüren, Drachentöter, die Ihr seid...“ Das war die Stimme des Vaters und was er sagte, genügte Toran, um zu wissen, dass es um ihn gehen musste, auch wenn ihn das Gesagte verwirrte. Eines aber war ihm klar: er musste hier weg, denn er schien etwas zu sein, das hier nicht erwünscht war. Was genau sie jedoch mit `Drache´ meinten, wusste er noch nicht. Zwar hatte er so eine Ahnung, doch er konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich zutraf. Es erschien ihm einfach unvorstellbar. Aber das war jetzt zweitrangig. Vielmehr musste er sich nun schnell überlegen, wie er unbemerkt entwischen konnte, denn weder Schnelligkeit, noch eine besondere Kenntnis über geheime Verstecke in der Nähe waren ihm gerade vergönnt.

Schwerfällig erhob er sich von seinem Schlafplatz, hinkte zur Tür und spähte durch einen schmalen Spalt hinaus. Sein Blick fiel auf eine Gruppe Krieger. Sie waren mit Bögen bewaffnet und in Brustharnische aus gehärtetem Leder gekleidet, auf ihrer Brust ein Wappen, das einen kreisförmigen Drachen zeigte und Toran erschreckend vertraut vorkam. Sie hatten ihre Pferde vor der Hütte an einen Zaun gebunden und waren gerade damit beschäftigt, sich um den Ziegenstall zu verteilen.

Das war schlecht. Sehr schlecht. Eigentlich hatte Toran keine Chance. Wenn er versuchen würde fortzurennen, hätte er schneller einen Pfeil im Rücken, als er Piep sagen könnte.

Und plötzlich war sie wieder da. Seine Erinnerung an damals, als er ein Kind war und fliehen musste, gefolgt von dem Pfeil, dessen Schütze der Grund für seine Vertreibung gewesen war. Damals hatte er überlebt. Nun allerdings würde es keine Rettung mehr geben, das wurde ihm all zu deutlich.

Das war ein kurzer Ausflug in seine Heimat gewesen. Ein Ausflug, der ihm ins Bewusstsein rief, dass es gar nicht so falsch gewesen war, ihn fort von hier zu schicken. Doch diese Erkenntnis half Toran nun auch nicht mehr weiter. Seine Lage erschien ihm so aussichtslos, dass er kaum noch Angst verspürte. Sein Ende war unausweichlich, das wusste er. Also wollte er ihm wenigstens wie ein Mann entgegengehen. Heroisch, wie er es in Filmen immer gesehen und bewundert hatte.

Er tat einen tiefen Atemzug, öffnete langsam die Tür des Ziegenstalls und humpelte mit erhobenen Händen hinaus. Fünf Bogensehnen wurden ruckartig gespannt, die Pfeile auf ihn gerichtet. Doch noch wurde nicht geschossen.

„Welches Verbrechen mir auch immer vorgeworfen wird, ich werde keinen Widerstand leisten!“, rief Toran den Kriegern zu und blieb stehen, wo er war. Niemand regte sich. Es herrschte eine angespannte Stille, das Pendel schwang zwischen Tod und Leben und befand sich gerade genau in der Mitte.

Da zog plötzlich ein Schatten auf.

Im Schatten der Prophezeiung

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