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Kapitel 3 – Der Anruf

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Es war dumm von Heike gewesen, so kurz vor ihrem Urlaub die Übergabe eines Kindes zu übernehmen. Keinen Tag hatte sie von ihrem zweiwöchigen Aufenthalt auf Gran Canaria genießen können. Immerzu musste sie an den kleinen Toran denken, an seine blauen, enttäuschten Augen. Ihr Mann, Frank, hatte zwar versucht, sie zu trösten - immerhin hatte er Verständnis für sie gezeigt - aber es hatte ihr nicht viel gegen die bohrenden Schuldgefühle geholfen, die sie mit sich herum schleppte. Am liebsten hätte sie im Kinderheim angerufen und sich nach Toran erkundigt, hatte es dann aber gelassen, weil sie glaubte, dass es ihm zum einen nichts nutzen und ihr zum anderen die ganze Sache nur schwerer machen würde. Es war ja doch so, wie es war. Sie war nicht seine Pflegemutter, sondern bloß eine Angestellte des Jugendamts, die ihren Job erledigt hatte.

So erfüllte es Heike mit sehr ambivalenten Gefühlen, als sie an dem Montag nach ihrem Urlaub das Büro betrat und die Nachricht vorfand, sie möge sich doch bitte möglichst bald bei der Erzieherin aus Torans Wohngruppe melden.

„Nun, Frau Willing, es ist mir selbst beinahe peinlich, Sie damit zu belästigen“, erklärte die Erzieherin am Telefon, „doch mit dem Jungen gibt es erhebliche Probleme...“

Heike stockte für einen Moment der Atem.

„Wie meinen Sie das?“

„Nun“, Heike konnte die Verlegenheit in der Stimme der Erzieherin nicht überhören. „Wir bekommen keinen Zugang zu ihm und er zeigt aggressive Tendenzen. Es geht soweit, dass wir ihn derzeit von der Gruppe isolieren müssen...“

Heike schluckte. Sie wusste, dass Toran damit bald ein weiterer Wechsel bevorstehen würde, in die Wohngruppe für schwer erziehbare Kinder...

Das war nicht richtig! Nicht für Toran, da war sich Heike sicher. Sie kannte den Jungen zwar nicht gut, aber sie glaubte, den Grund für sein Verhalten zu kennen, nein, eigentlich eher zu spüren.

„Haben sich seine Eltern denn inzwischen gemeldet?“, fragte sie hoffnungsvoll, obgleich sie die Antwort bereits ahnte.

„Nein, niemand hat nach ihm gefragt.“

„Und gibt es wenigstens jemanden, der seine Sprache übersetzen kann?“

Es folgte eine kurze Pause an dem anderen Ende der Leitung.

„Nein“, folgte schließlich die Antwort, „tut mir leid. Wir wissen nicht, welche Sprache der Junge spricht. Er hat kein Wort gesagt, seit er hier ist... Einzig Ihren Namen nennt er ab und zu...“

Wieder füllten sich Heikes Augen mit Tränen. Verdammt, warum habe ich den Jungen nur so im Stich gelassen!, dachte sie und fasste einen Entschluss.

„Hören Sie, ich komme heute noch vorbei! Bis nachher.“ Und damit hängte Heike ein. Eilig wählte sie dann eine andere Nummer.

„Frank, ich muss mit dir reden! Dringend!“

Es war keine leichte Diskussion gewesen. Natürlich hatte Frank Bedenken. Ein Pflegekind würde ihren ganzen Alltag auf den Kopf stellen. Sie müssten sich das reiflich überlegen und sich auch finanziell einschränken. Er hatte vollkommen recht damit. Doch Heike hatte es sich in den Kopf gesetzt. Sie wollte Toran bei sich aufnehmen. Es wäre ja zunächst einmal vorübergehend. Nur solange, bis Torans Eltern ausfindig gemacht worden wären. Es ging hier um die Seele eines Kindes, die bereits drohte, nachhaltigen Schaden zu nehmen. Und damit hatte Heike ihren Mann schließlich überzeugt. Zumindest vorerst.

Die nächste Hürde war ihr Vorgesetzter, der entschiedene Einwände gegen ihren abrupten Entschluss erhob. Die Anwartschaft auf Übernahme eines Pflegekindes erforderte eine Menge Formalitäten, Anträge, Prüfungen, Genehmigungen. Es war unmöglich, sofort ein Kind bei sich aufzunehmen! Hier war es schließlich Heikes Bonus als langjährige, zuverlässige Mitarbeiterin, ihre bisher gute Arbeit als Pädagogin sowie die Anerkennung unter den Mitarbeitern, was ihr ausnahmsweise die Erlaubnis verschaffte, Toran übergangsweise bei sich zu Hause zu beherbergen, weil, ja weil es ohnehin geplant war, dass er die Wohngruppe bald wechselte.

Nach diesem diskussionsreichen Tag befand sie sich nun am späten Nachmittag endlich auf dem Weg zum Kinderheim. Sie konnte es kaum erwarten, Toran in Empfang zu nehmen und zu sehen, wie es ihm ging. Aber als sie schließlich bei der Wohngruppe angelangt und von der Erzieherin hereingebeten worden war, konnte sie ihn unter den Kindern, die gerade zum Abendessen im Aufenthaltsraum versammelt waren, nicht entdecken. Die Erzieherin bemerkte Heikes suchenden Blick und bat sie nach nebenan in die Küche, wo sie sich ungestört unterhalten konnten.

„Wo ist Toran?“, fragte Heike unumwunden.

„Er ist in seinem Zimmer und isst dort alleine. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass er zur Zeit große Probleme macht. Ich kann ihn momentan nicht in die Gruppe lassen“, erklärte die Erzieherin mit einem bedauernden Gesichtsausdruck. „Die einzige Hoffnung, die ich habe, sind Sie, Frau Willing. Ich hatte den Eindruck, dass er zu Ihnen ein gewisses Zutrauen entwickelt hatte. Als sie gegangen waren, hat er sich verschlossen und niemanden an sich heran gelassen. Es gab bald darauf Rangeleien unter den Kindern und zuletzt hat er einen der Jungs derartig verprügelt, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Das war gestern gewesen. Seitdem ist Toran isoliert. Sein Zimmer dürfte nur noch aus Kleinholz bestehen, so hat er darin getobt.“

Heike konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie war davon überzeugt, dass es eine Vorgeschichte gab, die Toran dazu gebracht hat, so wütend zu werden.

„Darf ich zu ihm?“, fragte sie.

Die Erzieherin nickte und begleitete Heike zu Torans Zimmer. Sie schloss die Tür auf und Heike trat ein.

„Lassen Sie mich mit ihm alleine, bitte.“

Wieder nickte die Erzieherin und ging zurück in den Aufenthaltsraum. Heike schloss die Tür.

Toran saß auf dem Boden, inmitten eines heillosen Durcheinanders aus kaputten Spielzeugen, Bilderbüchern und Stiften, die er durch das Zimmer gepfeffert hatte. Überall lagen Federn verstreut, in der Ecke das zerrissene Kopfkissen. Dazwischen fanden sich die Reste des Mittagessens, samt Porzellanscherben, Besteck und Tablett.

Den rechten Arm hatte Toran auf seine angezogenen Knie abgelegt und sein Kinn darauf abgestützt. Den linken Arm ließ er schlaff herunterhängen, auch wenn das nur wenig Linderung gegen seine neu aufgeflammten Schmerzen in der Schulter brachte.

Er hatte Heikes Eintreten wohl bemerkt, zog es aber vor, einfach weiter starr geradeaus zu blicken. Damals hatte sie sich nicht um seine Rufe gekümmert, war einfach fortgegangen und hatte ihn seinem Schicksal überlassen. Damals hätte er sich so sehr gewünscht, dass sie umgedreht wäre, ihn in ihren Arm genommen und von hier fortgebracht hätte. Jeden Tag hatte er am Fenster gehangen und voller Hoffnung hinausgeschaut. Doch sie kehrte nicht zurück, bis er am Ende aufgab, nach ihr zu sehen.

Inzwischen aber hatten die anderen Jungs ihr Urteil über ihn gefällt: fremd, verschlossen, Feind.

Damit begannen sie, ihn zu drangsalieren und zu schikanieren, immer dann, wenn die Erzieherin nicht hinsah oder hinsehen wollte. Am Ende schoben sie stets ihm die Schuld in die Schuhe und ihm fehlten die nötigen Worte, um sich zu verteidigen. Also wurde er bestraft. Und da die Strafe ihn ohnehin jedes Mal traf, hatte er zuletzt beschlossen, die anderen nicht ungeschoren davon kommen zu lassen. Bei der nächsten Gelegenheit hatte er sich einen von ihnen geschnappt und hatte zugeschlagen, getrieben von Hilflosigkeit und Zorn, ausgehöhlt von Einsamkeit und Enttäuschung. So lange, bis seinem Gegner das Blut über das Gesicht lief und er sogar das Bewusstsein verlor. Und als ihn schließlich drei Erzieher packten und in sein Zimmer sperrten, hatte er dort blind weiter gewütet, bis er dessen müde war und den bohrenden Schmerz in seinem Herzen endlich nicht mehr spürte.

Als Heike dann sein Zimmer betrat, fühlte er sich bloß noch richtungslos und leer.

Heike tat einen tiefen Atemzug und ließ ihren Blick durch das verwüstete Zimmer schweifen. Dann ging sie auf Toran zu und setzte sich neben ihn auf den Boden. Er ignorierte sie, sie schwieg. So saßen sie eine ganze Weile, bis Heike schließlich ihre Hand hob und dem Jungen sanft über den Rücken streichelte. Er versteifte sich zwar darunter, ließ es aber geschehen. Allerdings drehte er seinen Kopf zur Seite, weg von Heike. Ein grummelndes Gefühl nagte an ihrem Magen und sie legte ihren Arm behutsam um seine Schultern, wobei sie darauf achtete, ihm keine zusätzlichen Schmerzen zuzufügen.

Plötzlich konnte sie ein leichtes Zucken unter ihrem Arm spüren und sie wusste, dass Toran weinte.

„Schsch, Toran, ich bin ja jetzt da... Ich bin ja da...“, sagte sie leise und drückte ihn vorsichtig an sich. Und nun endlich ließ Toran los. Laut aufschluchzend drehte er sich Heike zu, schlang seinen gesunden Arm um ihren Hals und vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter. Sein ganzer Köper bebte und Heike fühlte, wie seine Tränen den Stoff ihrer Bluse durchtränkten. Tröstend hielt sie ihn fest und streichelte ihm über sein Haar, solange, bis er sich langsam wieder beruhigte.

Schließlich zog sie ein frisches Taschentuch aus ihrer Hosentasche, löste sich ein wenig aus Torans Umklammerung, hob sein Kinn mit dem Finger etwas an und tupfte ihm die Wangen trocken. Dann hielt sie ihm das Tuch vor die Nase und machte eine schnufende Geste, damit er wusste, was er zu tun hatte. Geräuschvoll putzte er sich die Nase, wischte sich noch einmal die letzten Tränen aus den Augen und betrachtete Heike. Allerdings konnte sie nicht benennen, was in diesem Blick lag. War es eine Frage, Misstrauen, Furcht oder eine Anklage? Oder wartete er bloß resigniert auf das, was nun kommen würde?

Heike schaute sich um und hob ein zerrissenes Buch vom Boden auf. Mit einem tadelnden Blick hielt sie es Toran entgegen und schüttelte den Kopf. Dann legte sie es wieder beiseite, stand auf, hielt ihm ihre Hand entgegen und lächelte ihm aufmunternd zu. Mit einem verschämten Gesichtsausdruck griff Toran danach und rappelte sich auf. So verließen die beiden das Zimmer, Richtung Aufenthaltsraum.

„Er hat sich wieder beruhigt“, erklärte Heike der Erzieherin. „Es ist besprochen, dass ich ihn heute mit mir nehme“, fuhr sie fort und kramte das Genehmigungsformular aus ihrer Aktentasche, die sie vorhin in dem Gemeinschaftsraum zurückgelassen hatte. Die Erzieherin nahm es entgegen, um es sich näher anzuschauen, nickte dann beinahe erleichtert, während sie es Heike zurückgab und blickte auf Toran. Er erwiderte ihren Blick nicht, sondern sah trotzig in eine andere Richtung.

„Nun, es tut mir aufrichtig leid, dass es sich so entwickelt hat. Ich wünsche Ihnen mehr Glück mit ihm. Vielleicht ist es in der Tat das Beste. Hoffen wir mal, dass seine Eltern bald ausfindig gemacht werden können...“

„Da bin ich ganz zuversichtlich... Gibt es noch etwas, das ich für ihn mitnehmen soll?“

Die Erzieherin nickte knapp.

„Er hat noch ein paar Kleidungsstücke und ein Bilderbuch...“ Die Erzieherin hielt inne und bedachte Toran mit abschätzendem Blick. „Wenn er es nicht zerrissen hat...“, beendete sie ihren Satz.

„Gut, dann packe ich noch rasch die Sachen ein und danach machen wir uns auf den Weg.“ Damit wollte Heike noch einmal zu Torans Zimmer gehen, wurde aber von einer kleinen Hand aufgehalten, die sich plötzlich an die Ihre klammerte. Verständnisvoll lächelte Heike Toran an.

„Keine Angst, ich gehe nicht ohne dich. Komm und hilf mir beim Packen!“, sagte sie und obwohl Toran den Inhalt ihrer Worte sicher nicht verstehen konnte, so wusste er wohl, wovon sie sprach. Bereitwillig begleitete er sie in sein Zimmer und half ihr, seine wenigen Habseligkeiten in eine Tasche zu packen.

Dann brachen sie auf, wobei dem Jungen der Abschied von der Wohngruppe mehr als leicht zu fallen schien.

Im Schatten der Prophezeiung

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