Читать книгу Sterbenden nahe sein - Daniela Tausch - Страница 14
Peter
ОглавлениеBeim nächsten Besuch kam Peter vom Arzt. Er hatte einen schlimmen Ausschlag. Ich rieb ihm den Rücken und die Arme mit einer Salbe ein. Der Mund war von einem Pilz befallen. Er litt und fühlte sich elend. Dennoch sagte er: „Ich werde nicht an AIDS sterben.“ Noch immer hatte er Hoffnung, dass diese Krankheit einzudämmen wäre.
An jenem Tag saßen wir lange zusammen. Stefan wusste, dass er an AIDS sterben würde, aber so lange er lebe, wolle er bewusst und in Frieden leben. Peter ärgerte sich über diese Aussage, weil ihm Stefan zu abgeklärt schien. Er war überzeugt, dass sie noch nicht aufgeben dürften.
Dieses auf und ab von Annahme und Aufbäumen erlebte ich sehr lange bei beiden. Der Wunsch nach Leben war da, und immer wieder kam die Resignation. Kein Richtig oder Falsch, es waren ehrliche Äußerungen von einem Prozess, in dem sie schmerzlich standen.
Das nächste Mal wartete Peter auf mich beim Gartentor, um mit mir allein zu sprechen. Es waren in letzter Zeit Schwierigkeiten im Zusammenleben mit dem Freund und der Familie aufgetreten. Der fortschreitende körperliche Abbau und oft die Angst vor dem nächsten Tag, dem nächsten Ausbruch der Krankheit, waren enorme Belastungen für sie und die Familien. Peter sagte damals, dass er bei seinem Freund bleiben wolle, bis er sterben würde.
Ein paar Wochen später musste Peter wegen auftretender Sprach- und Sehstörungen mit seiner Arbeit aufhören. AIDS war nicht aufzuhalten, obwohl er so viel Hoffnung hatte.
Bei einem Besuch sprach Peter zum ersten Mal über seine Religiosität und den Wunsch, an Ostern zur Kommunion zu gehen. Er wusste, dass die katholische Kirche offiziell Homosexuellen in einem festen Verhältnis die Teilnahme verwehrte. Wie ich ihn so vor mir sah, empfand ich ein tiefes Mitgefühl für seine Sehnsucht und die Kirche in ihrem Verhalten diskriminierend. Ich versprach ihm, mit einem mir bekannten Priester zu sprechen. Er solle zur Kommunion gehen, war seine Antwort. Als ich ihm das sagte, umarmte er mich spontan vor Freude. Das war „Ostern“ für mich.
Stefan bekam eine Augeninfektion. Seine Schwester brachte ihn ins Krankenhaus. Ein Virus wurde festgestellt. Dieses Virus kann zur Erblindung führen. Stefan, der die Welt am meisten mit den Augen aufnahm, konnte sich ein Leben ohne sehen zu können nicht vorstellen. „Heute ist mein Karfreitag“, sagte er mir bei meinem Besuch. „Entweder werde ich blind oder bald an etwas anderem sterben.“ So nah schien der Tod noch nie. Er spürte, wie traurig auch ich war und sagte: „Du darfst nicht mit uns sterben, du musst leben.“ Er bedankte sich bei mir. Einen Sommer wolle er noch leben, ganz bewusst, und vor allem nicht erblinden.
In einem Buch zeigte er mir ein wunderschönes japanisches Haus in einem herrlichen Garten. Er sagte mir, dass er sich auch so ein schönes Haus wünschen würde inmitten eines Gartens auf einem Berg. Eine Quelle sollte darinnen sein: Natur und Stille, Sehnsucht nach Ruhe, nach Frieden, nach dem Ursprung. Es war ein Zeichen für mich, dass er sich den Tod wünschte. Ich verstand ihn in diesem Moment sehr gut.
Peter war bei seinen Eltern zu Hause. Er rief mich an und sagte, dass er Salmonellen bekommen hätte. Wenige Tage später besuchte ich ihn das erste Mal bei seinen Eltern. Er freute sich, als ich kam. Wir gingen zusammen spazieren. Beim Anziehen musste ihm der Vater helfen. Peter erzählte mir von seinem Leben im Elternhaus und von dem, was er noch gerne geregelt hätte und was ihn noch belasten würde. Er wollte alles in Ordnung bringen. Als ich ihn fragte, ob er traurig wäre, sagte er nein. Ob er Angst hätte? Auch das verneinte er. Auf die Frage, ob er einen besonderen Wunsch hätte, überlegte er kurz und sagte: „Ja, einmal würde ich gerne noch Jessey Norman in einem Konzert singen hören.“ Ich versprach ihm, wenn irgend möglich, mit ihm zusammen ein Konzert von ihr zu besuchen.
Beim gemeinsamen Kaffeetrinken mit den Eltern sprachen sie von ihren Sorgen und Ängsten, was alles auf ihren Sohn und sie zukommen wird. Auch von ihrem Schmerz, ihn leiden zu sehen und ihn verlieren zu müssen. Der Arzt im Ort, obwohl im Nachbarhaus praktizierend, hatte die Behandlung verweigert. Angst vor AIDS. Die anderen „normalen“ Patienten könnten wegbleiben, wenn es sich herumsprechen würde. Was müssen wir noch alles lernen! – Peter sagte mir, dass er sich manchmal wie ein Aussätziger fühlen würde.
Beim Abschied umarmten wir uns. Ich fuhr betroffen und weinend nach Hause.
Stefan wollte so gerne noch ein paar Tage irgendwo Ferien machen, und wir alle versuchten, einen Ort zu finden. Es war aussichtslos. Für AIDS-Kranke gab es keine Orte, und wir fühlten die Ausgrenzung schmerzlich. Nach langem Suchen konnte doch noch ein Ort gefunden werden, wo er zwei Wochen verbringen konnte. Mit meinem Mann besuchte ich ihn dort. Kein Auflehnen mehr, nur noch ein Weinen über sein Leben, das er unvollendet, ein Stück wie ungelebt, beenden würde mit einer großen Sehnsucht in sich. Er war während dieser Zeit noch schwächer geworden und wollte nach Hause, nach Hause, um dort sterben zu können.
Die Schwester von Peter rief mich an. Peter war nicht mehr in der Lage zu gehen. Er war inkontinent geworden und auch verwirrt. Er musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Inzwischen hatte ich eine Konzertkarte für Jessy Norman bekommen. Mit einer Blume und der Karte ging ich ins Krankenhaus. Peter konnte nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen. Er lächelte ein wenig, als ich ihn begrüßte. Seine Eltern waren auch da. Es galt, diese Situation, die nur als Schmerz empfunden wurde, auszuhalten. Als wir Peter fragten, ob wir beten sollten, nickte er. An diesem Tag besuchte ihn auch der Pfarrer meiner Gemeinde, um mit ihm und seinen Eltern Kommunion zu feiern. Trost und Kraft ging für sie von diesem Sakrament aus.
Peter wollte nicht an AIDS sterben, und nun ging es ihm schlechter als seinem Freund. Beide waren Sterbende.
Stefan rief mich an, ob ich bei ihm eine Nacht bleiben könnte. Ich wollte ihm eine Freude machen und brachte ihm ein japanisches Essen mit. Er freute sich sehr darüber. Das Essen war mein Abschied für ihn, und es wurde fast zu einem kleinen Fest. Gegen Mitternacht legte ich mich in das Nebenzimmer. Die Tür war offen und Stefan rief immer wieder nach mir. Er wollte dann etwas zu trinken, wollte umgelagert werden oder verlangte nach der Urinflasche. Aus eigener Kraft konnte er das nicht mehr.
Peters Zustand wechselte sehr. Fast täglich besuchte ich ihn. Oft saß ich ganz still bei ihm und hielt ihm seine Hand. An guten Tagen las ich ihm etwas vor oder wir hörten zusammen Musik.
Während Peter im Krankenhaus lag, bekam Stefan in der benachbarten Blutzentrale eine Transfusion. Die Freunde hatten sich lange nicht mehr gesehen, und ich fand es sehr wichtig, dass sie voneinander Abschied nehmen konnten. Mit der Hilfe eines Pflegers fuhr ich Stefan an das Bett seines Freundes. Danach verließ ich für ein paar Minuten das Zimmer, um sie alleine zu lassen. Mir war bewusst, dass es ihre letzte Begegnung sein würde.
Ich war froh, dass ich auf dem Flur keinen Menschen begegnete. Ich setzte mich auf einen Stuhl und empfand die ganze Tragik und Trauer dieser Situation.
Am nächsten Tag fuhr ich wieder zu Stefan, um noch einmal eine Nacht bei ihm zu bleiben. Es war ein harmonischer Nachmittag und Abend. Einmal jedoch, als jemand kam, wurde er sehr ärgerlich.Von keinem Menschen wollte er sich mehr Zeit stehlen lassen. Bis Mitternacht waren wir wieder wach. Er sprach über sein Sterben. Er bedankte sich bei mir, weil ich immer zu ihm gekommen sei und meinte, dass er ohne den Austausch nicht so lange gelebt hätte. Seine Mutter und seine Schwester taten alles, um ihm Erleichterung zu verschaffen und ihm Freude zu machen. Seine geistige Kraft und sein Lebenswille waren in den letzten Wochen sehr viel stärker gewesen als seine körperliche Kraft. Doch nun waren beide erschöpft.
In dieser Nacht sagte er mir, dass er ein glücklicher Mensch und erfüllt mit Liebe sei.
Am Nachmittag besuchte ich Peter im Krankenhaus. Von Stefan brachte ich einen Blumenstrauß mit. Oft sagte er einfach den Namen seines Freundes, und ich erzählte dann von ihm. So war ich der Bote zwischen ihnen.
Zwei Tage später rief mich die Schwester von Stefan an; Stefan war in der Nacht gegen vier Uhr morgens gestorben. Er war still eingeschlafen.
Ich nahm eine Karte und schrieb ein Gedicht darauf, das für mein Empfinden ganz zu Stefan passte. Es stammt aus Japan.
„Im Meer des Lebens,
Meer des Sterbens,
in beiden müde geworden,
sucht meine Seele den Berg,
an dem alle Flut verebbt.“
Mit einer Blume fuhr ich zu Stefan und seiner Familie, um Abschied zu nehmen. Was sich so lange vorbereitete, war nun Realität. Der Tod, trotz Glauben und Hoffnung, ein Schmerz.
Nie sah ich bei einem Toten diesen Ausdruck, Stefan musste gestorben sein in einem Zustand der Freude, des Glücks. Seine Augen waren weit geöffnet, als hätte er etwas Schönes geschaut. Ein Lächeln war auf seinem Gesicht. Es war erstaunlich, wie viel Frieden und Trost von ihm ausging.
Seine Mutter, die Familie und Freunde waren da. Es wurde geweint und von Stefan erzählt, von seinem Leben und seinem langen Sterben. Bevor ich mich verabschiedete, versprach ich, am Abend Peter die Nachricht vom Tod seines Freundes zu überbringen.
Am Abend ging ich in das Krankenhaus zu Peter. Ich brachte ihm ein Paar Kamelienblüten und eine Kerze von Stefan mit. Ich versuchte, behutsam zu sein. Als die Nachricht vom Tode des Freundes ihn dann erreichte, war sein ganzes Gesicht ein stummer Schrei – er weinte.
Ich erzählte ihm, wie Stefan starb, dass er zum Schluss glücklich war und keine Angst hatte.
Zusammen nahmen wir Abschied. Später las ich Gebete und Psalmen vor, und Peter wurde ganz ruhig.
Fast täglich besuchte ich Peter im Krankenhaus. Er fing an, kleine Sätze zu sprechen. Er äußerte den Wunsch, nach Hause gehen zu dürfen. Immer, wenn ein Hubschrauber vor dem Fenster des Krankenhauses auf der Wiese landete, sagte er: „Ich möchte auch gerne mitfliegen.“ – Vielleicht diesem Körper entfliehen, der für dieses Leben unbrauchbar geworden war, verletzt durch die Krankheit.
Peter durfte nach Hause. Ein Krankenbett musste gebracht werden und die Schwestern der Sozialstation kamen zweimal täglich. Die Eltern wohnten bei ihm. Es war eine große Belastung für sie, trotzdem hielten sie zu ihrem Sohn, wie auch die Mutter von Stefan. Es schien wie ein Wunder, dass er noch einmal zu Hause sein konnte. Er war glücklich.
Am nächsten Tag ging es ihm sehr schlecht. Am Abend fuhr ich mit unserem Pfarrer zu Peter. Mit den Eltern zusammen feierten wir Kommunion. Alles war so selbstverständlich. Er versuchte, das Kreuzeszeichen zu machen, obwohl sein Arm es kaum zuließ. Es wurde eine Form gelebt und vollzogen, die in der Familie immer so gelebt wurde.
Eine Woche lebte Peter noch zu Hause in seiner Wohnung. Während dieser Zeit besuchte ich ihn und seine Eltern täglich, und wir wurden in langen Gesprächen vertraut miteinander.
Zwei Nächte blieb ich bei Peter alleine, damit seine Eltern nach Hause fahren konnten.
In der ersten Nacht war Peter ganz lange wach, und ich las ihm vor. Nach einem Gedicht von Novalis sagte er: „Schön“. Es war das letzte Mal, dass ich ihn ein Wort aussprechen hörte. Wir erlebten zusammen den Übergang von der Nacht zum Tag. Diese Zeit hat eine ganz besondere Qualität. Es war etwas spürbar von einer zukünftigen Welt, die dieses Leiden – so hoffe ich – nicht mehr kennt.
In der zweiten Nacht, in der ich bei ihm war, empfand ich anfangs fast etwas Heiteres in seinem Wesen – Freude. Während ich ruhig bei ihm saß, beschleunigte sich sein Puls, sein Atem veränderte sich, und er bekam Fieber. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich langsam, es war, als ob sich ein Schleier darüber legen würde. Er war in das letzte Stadium seines Lebens, seines Sterbens, eingetreten.
Gegen Morgen öffnete er noch einmal die Augen, aber in ihnen lag der Ausdruck einer Wahrnehmung von etwas, was ich nicht sehen konnte.
Als die Eltern gegen Mittag zurückkamen, schlief Peter fast nur noch. Beim Abschied wusste ich, dass ich Peter nicht mehr sehen würde. Ich fuhr nach Hause und weinte. Vor drei Wochen war Stefan gestorben und nun Peter. Es wurde mir bewusst, wie nah sie mir geworden waren.
Ich zündete zu Hause eine Kerze an – für Stefan und Peter.
Es gab keine Antwort in meinem Kopf auf dieses Leiden, nur in meinem Herzen fühlte ich, etwas davon, dass einmal alle Tränen getrocknet sein würden und es einmal eine Antwort auf dieses Leben hier geben muss.
Um sieben Uhr morgens klingelte das Telefon. Der Vater von Peter. In dieser Nacht um null Uhr dreißig war Peter gestorben. Es war ein ruhiges Ausatmen. Seine Mutter war bei ihm gewesen.