Читать книгу Sterbenden nahe sein - Daniela Tausch - Страница 16

Ich kann mir das Nichts einfach nicht vorstellen ...

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„Da sind Sie also!“ Mit diesen Worten begrüßt sie mich, als ich das erste Mal ihr Zimmer betrete. Es schwingt etwas Endgültiges mit. Die braunen Augen begrüßen mich. Da ist Angst und Hoffnung. Als ich ihr die Hand gebe, beginnt sie zu weinen.

„Entschuldigen Sie. Ich bin froh, dass sie kommen. Ich weiß nicht, warum ich so weinen muss.“

„Ich wäre nicht hier, wenn Sie nicht so krank wären. Ist es das?“ Sie nickt.

„Ich habe auch keine Kraft mehr. Gar keine Kraft. Nur noch weinen und beten. Meistens weinen. Ich möchte Sie etwas fragen. Vor vier Jahren, nach der ersten Krebsoperation, schien der Tod ganz nah. Schmerzen und Angst. Aber dann, einmal in der Nacht, war die Mutter da, die Mutter, die ein Jahr zuvor gestorben ist. Vielleicht können Sie das nicht glauben, aber ich habe sie gesehen. Und danach war die Angst weg.“

Sie war scheinbar wieder gesund geworden, war ja auch nicht einmal fünfzig, hatte wieder ein volles Arbeitspensum bewältigt. Und jetzt dies. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und die Angst ist auch wieder da.

„Meine Mutter – glauben Sie, dass meine Mutter wiederkommt, wenn es soweit ist?“

Im dichten Abendverkehr fahre ich nach Hause. Es fällt mir schwer, mich zu lösen von dem Blick dieser Frau: das schöne Gesicht unter dem vollen braunen Haar, die sanfte Stimme, die aus der Seele kommenden, suchenden Fragen.

Weinend in den Kissen liegend –, wenn ich erwartete, sie wieder so anzutreffen, so hatte ich mich getäuscht. Mehr noch als der Aktenordner auf ihren Knien zeigte der energische Gesichtsausdruck, das Aufrechtsitzen im Bett, dass es diesmal nicht um Tod und Abschied geht.

„Ich werde die Zügel in der Hand halten, solange es geht. Man kann schließlich nicht immer ans Sterben denken. Vielleicht werde ich auch wieder gesund. Mein Mann glaubt fest daran. Auch seinetwegen will ich nicht ans Sterben denken.“

Außerdem habe sie noch einen Prozess zu führen und zu gewinnen.

„Ich will mein Recht und ich werde darum kämpfen! Jetzt abtreten! So leicht werde ich es niemandem machen. Koste es, was es wolle, ich muss mein Recht bekommen.“

Ich bin völlig verwirrt. Ist das die gleiche, sanfte, aufs Jenseits gerichtete Frau von der letzten Woche? Der Name eines kompetenten Anwalts interessiert sie zweifellos mehr als das Engelsbild, das ich ihr mitgebracht hatte.

Ich gehe etwas früher. Diese geschäftstüchtige Entschlossenheit ist so unerwartet, dass ich gar nicht damit umgehen kann.

„Mein Recht. Ich will mein Recht!“ Es ist ein Aufbäumen, Trotzen. Recht, im Angesicht des Todes? Oder geht es hier um ein ganz anderes Recht? Hat man mit Fünfzig nicht ein Recht auf Leben? Auf Gesundheit? Kann ich ihr Sträuben, die Zügel aus der Hand zu legen, so verstehen? Denen, die mit ihrem Tode rechnen, will sie es zeigen, den Prozessgegnern, den Angehörigen – auch Gott? O ja, auch Gott gegenüber besteht sie auf ihrem Recht zu leben.

Ich bin gespannt. Wen werde ich diesmal antreffen, die leidend Sanfte oder die energische Geschäftsfrau?

Im Licht der Nachmittagssonne erscheint ihr Gesicht jung, fast blühend. Ein Berg von Briefen liegt neben ihr. Abschiedsbriefe!

„Wissen Sie, ich habe jetzt von meinen Freunden Abschied genommen. Ich lasse mich einfach fallen. Mein ganzes Leben war gepresst: Leistung, Leistung, Erfolg. Jetzt kann ich nicht mehr, und ich bin fast froh darüber.“ Sie lächelt und dabei laufen ihr die Tränen über das Gesicht, das jetzt so weich, so entspannt, so jung aussieht, dass es mir heute schwer fällt, sie für sterbenskrank zu halten.

Mich erreicht der Anruf ihres Mannes. Es hat einen Disput mit dem Hausarzt gegeben. Der Arzt hält die Einweisung ins Krankenhaus für nötig. Ich frage: „Und Sie, wie geht es Ihnen?“ Es folgt ein längeres Schweigen. „Ach wissen Sie, das ist, wie wenn man einen Mantel fest um sich zieht. Sie wird nicht wieder gesund werden, aber ich kann, ich will sie mit solchen Gedanken nicht belasten. Man bewahrt eben Haltung.“

Ich freue mich auf den Besuch bei ihr. Ich möchte sie gerne wiedersehen. Ihr zuhören. Wie wird es ihr diesmal gehen? Beide Hände streckt sie mir entgegen. Das Lächeln ist triumphierend: „Meine Leukos sind ganz unten, aber Chemotherapie, das kommt nicht in Frage, nicht mit mir! Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich. Aber mit der Chemo ist Schluss!“

Ihre Augen blitzen kämpferisch. Schön sieht sie aus, so entschlossen. – Gleich darauf nachdenklich: „Am schwersten ist es, die Anderen nicht zu belasten. Immer sagen, es gehe gut, nicht zu weinen ... Das Wohlwollen der Familie tut gut, aber es tut auch weh. Und ich will sie doch nicht so belasten. – Glauben Sie, mein Mann weiß, dass ich nicht mehr gesund werde?“

Nach einer langen Regenwoche ist heute wieder ein heller Tag. Ich freue mich auf die Nachmittagssonne in ihrem Zimmer. Aber es ist dämmrig, als ich hereinkomme. Die Jalousien sind heruntergezogen. Das Licht bleibt draußen. Blass und still hebt sie kaum die Hand. Sie schaut mich nicht an, spricht mehr zu sich selbst: „So gar keine Perspektive mehr, das ist das Schlimmste. Ich habe immer in die Zukunft geplant. Mit guter Planung kann man sehr viel erreichen. Und jetzt ... einfach warten, warten. Keine Perspektive.“

Lange schweigen wir beide. Dann schaut sie mich an: „Wissen Sie, was ich noch einmal möchte? Über den Markt gehen, ein einziges Mal auf den Markt. Die Blumen, das Gemüse ... Ein einziges Mal. Ich bin so traurig.“

Da spüre ich, wie mich ihre Traurigkeit erreicht, einhüllt, mir die Tränen herunterlaufen. Darf ich denn das? Auch weinen? Es ist sehr still im Zimmer.

Ihr Mann kommt herein, bringt uns Tee. Wir trinken ihn und schweigen. Unerwartet fragt sie über ihre Teetasse hinweg: „Sterben – wissen Sie denn, was danach kommt? Ich kann mir das Nichts einfach nicht vorstellen.“– „Ich auch nicht, nicht einmal der Philosoph Bloch konnte das.“ Wir lachen beide, wie befreit, über dieses unvorstellbare Nichts.

„Ich muss Ihnen etwas erzählen: Vorgestern, mein Mann gab mir die Medikamente so wie immer. Und plötzlich fing er an zu weinen – und da wusste ich, dass er es weiß, und er weiß jetzt, dass ich es weiß. Wir haben beide geweint. Es war ganz schrecklich. Aber auch gut. Es ist jetzt viel leichter.“

Mein Telefon läutet. Ihr Mann fast heiser vor Aufregung. Der Hausarzt habe den Krankenwagen bestellt. „Er hat wohl die Nerven verloren. Es geht meiner Frau ja auch sehr schlecht. Aber sie hat sich doch so gewehrt. Sie will um keinen Preis ins Krankenhaus. Es war ein Überfall – unser Protest war ganz zwecklos. Bitte gehen Sie zu ihr ins Krankenhaus.“

Blicklos wendet sie sich der Tür zu, als ich eintrete. Der Telefonhörer liegt neben ihrem Bett. Sie hat vergessen, wer angerufen hat und wann; sie will sich aufrichten, es geht nur mühsam. Ich helfe ihr, stütze sie. Da bricht es aus ihr heraus: „Niemand soll mich anfassen, nicht streicheln, nicht sprechen! Ich will in Ruhe gelassen werden!“

Sie schließt die Augen, und das Gesicht entspannt sich langsam. Ich gehe leise.

Als ich das nächste Mal wiederkomme, streckt sie mir beide Arme entgegen: „Ich hatte Angst, dass Sie nicht mehr kommen würden.“ Als kurz darauf der Arzt hereinkommt, schickt sie ihn fort. Sie brauche keinen Arzt mehr, sie brauche Ruhe. Das sagt sie so kompromisslos, dass er kopfschüttelnd das Zimmer verlässt. Sie seufzt: „Wenn’s ans Sterben geht, zählt jeder Tag in diesem Bienenstock doppelt.“

Nur Ruhe. – Nein, auch nicht mehr beten. „Jetzt ist die Zeit, die nach dem Beten kommt.“ Ob sie nach Hause möchte? „Ach wissen Sie, es kommt nicht mehr so darauf an. Ich gehe sowieso heim.“ Sie deutet mit dem Zeigefinger nach oben und lächelt.

Auf dem Flur begegne ich dem Arzt noch mal. Er will sie möglichst rasch entlassen, damit sie, ihrem früher geäußerten Wunsch entsprechend, zu Hause sterben kann.

Ich freu mich, dass sie wieder zu Hause sein kann. Aber ist es ihr noch wichtig?

Gleich beim Hereinkommen fragt sie: „Wozu ist so etwas eigentlich gut?“ Wozu ist was gut?

„Die Explosionen ... die Explosionen vor meinen Augen und viel Licht.“

Nach einer Weile sagt sie: „Ich liege jetzt in dem Bett meiner Mutter. In diesem Bett ist sie gestorben. Auch an Krebs.“ Sie schweigt lange. „Hören Sie die Musik? Mein Mann hört sie auch nicht. Es ist ganz andere Musik. Ich kenne sie nicht.“

Sie scheint eingeschlafen. Plötzlich ist sie hellwach. „Die Uhr. Es ist wichtig, dass ich die Uhr immer sehe. Ich muss die Zeit einteilen. Das ist wichtig. Ich brauche eine sehr gute Uhr, die Zeit einzuteilen.“

Entspannt sieht sie aus, als ich am nächsten Tag komme.

„Ich bin so glücklich, nur noch glücklich.“

Mich berührt diese Innigkeit. „Sie sind glücklich?“ – „Ja, ich kann jetzt Schimpfwörter sagen – alle.“ Ich bin verblüfft. „Und das ist gut?“ – „Ja, das ist sehr gut. Nichts spielt mehr eine Rolle. Alles kann ich sagen. Ich bin frei.“

Es klingt fromm und erlöst, wie die „immer Liebe“, „immer Sanfte“, „immer Höfliche“ gewahr wird, dass sie jetzt auch dunkle Gefühle und Ablehnung aussprechen kann. Sie lächelt in sich hinein. „Ich habe ihm gesagt: ich liebe dich, und ich habe ihm auch gesagt: du Eisklotz. Beides habe ich noch nie gesagt, aber es stimmt.“

Sie schläft ein. Nach langer Zeit murmelt sie leise und mit großen Zwischenräumen: „Ich bin reich. Sie nicht. – Ich bin ganz nah. Ich tausche mit niemandem. Auch nicht mit Ihnen. – Sie sind in einer Kapsel. Alle sind in einer Kapsel. Ich nicht. – Ich habe keine Kapsel. – Ich bin frei.“

Sie schaut an mir vorbei auf die Uhr. „Es ist gleich 17 Uhr, meine Gesprächspartnerin kann gehen.“ Ich soll gehen? – „Sie sollen nicht, aber Sie können. Ich brauche niemanden. Wissen Sie, ich habe keine Kapsel. Ich brauche Sie nicht mehr.“ Das klingt siegesgewiss. Ich muss plötzlich lachen und schüttele vorsichtig ihren Arm. „So ist das also: Sie haben keine Kapsel und brauchen niemanden mehr. Für mich fühlt es sich fast so an, als brauchte ich Sie.“

„Das kann wohl sein“, sagt sie und schaut mich lange mit großer Liebe an.

„Trotz der Schmerztherapie ist es ein elendes und langes Sterben“, so empfängt mich ihre Schwester. Sie schlafe jetzt neben ihr. Früher hätte sie sich gefürchtet, „aber wir sind bald alle jenseits der Angst vorm Sterben.“

Nur noch Himbeeren wolle sie haben, jeden Tag. Sie schlafe jetzt meist.

Schmal ist das Gesicht geworden. Ein Schälchen Himbeeren hält sie in der Hand und lächelt. „Die Himbeeren, das ist der Wald – alles ist grün – Sommer – so schön – der Duft.“ Sie schaut mich an. Geht innerlich weit weg. In einen Sommerwald? Kommt zurück ... sucht Worte ... „Es ist nicht mehr wichtig, nichts ist wichtig ... nur eines ... der Geist ... Wasser ... Geist und Wasser ... was ist Schuld? ... Der Eremit ... er hat keinen Beruf, keine Familie, kein Drumrum. Keine Schuld – das Leben ist schuldig. Nichts ist wichtig. Der Geist. Das Wasser. Das Licht.“

Sie schläft.

Ich muss für zwei Tage verreisen, möchte sie noch einmal sehen. Ob sie mich erkennt, weiß ich nicht. Die Augen schauen durch mich hindurch in die Ferne. Das Atmen ist mühsam. Ich halte ihr Gesicht in meinen Händen. Es ist kalt und feucht. Wie warm meine Hände sind. Wir sind etwa gleich alt.

„Ich tausche nicht mit Ihnen“, hatte sie gesagt und: „Nichts ist mehr wichtig.“

Für eine zeitlose Spanne fallen auch von mir die vielen kleinen „Wichtigkeiten“ des Alltags ab.

Ihr Sterben verändert mein Leben – ich spüre eine Dankbarkeit, die beides umschließt.


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