Читать книгу Sterbenden nahe sein - Daniela Tausch - Страница 15
Nein!
ОглавлениеNein, nicht gerade er, mein einziger Bruder. Seit Jahren schon verfolge ich die Berichte in den Medien über AIDS mit einem gewissen Gefühl von Angst und ahnungsvoller Panik. Nun ist es schreckliche Wahrheit. Mein Bruder liegt das erste Mal im Krankenhaus. Ein langer und doch kurzer letzter Weg beginnt.
Warum muss es gerade er sein? Wie soll er, wie ich, die grausame Wahrheit ertragen? Das Wissen, dass der Tod uns ab jetzt mit jedem Tag näher kommt. Verzweiflung, Ablehnung, Hader mit dem Schicksal erfüllen ihn und mich. Zorn, aber auch Depression erschüttern unsere Gefühle, unsere Beziehung.
Manchmal erschaudere ich bei dem Gedanken an eine Ansteckung und die Folgen. Trotzdem bin ich da, kümmere mich um ihn, helfe, höre zu und freue mich mit ihm. Ab und zu umsorge ich ihn in seinen Augen zu sehr. Ich erfahre Ablehnung und Zorn. Seine Depression zieht mich ins Dunkel. Ich kämpfe dagegen an, muss es, für mich, für meine Familie, für ihn. Manchmal bin ich es leid, bin zu müde, zu traurig, frustriert. Möchte nichts mehr wissen, keine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit mehr spüren, vor der Wahrheit, dem Leiden, dem Schmerz die Augen verschließen. Gerade dann kommen von ihm Gesten der Liebe und der Dankbarkeit, Worte der Entschuldigung. Mein Schmerz, meine Mühsal werden unwichtig. Es folgen Tage und Wochen voller Lebensfreude, voller Zukunftspläne, die mich staunen machen, Mut fassen lassen. Ich spüre, dass ich richtig handle.
Eine dunkle Phase hat einer hellen Platz gemacht. Meine Gedanken und Gefühle können sich in Ruhe mit dem Schicksal auseinander setzen. Ich lese viel über Sterbende. Das hilft mir. Ich erkenne vieles wieder, weiß später mit vielem besser fertig zu werden.
Plötzlich schlägt die Krankheit wieder zu. Alles wird wieder in Frage gestellt. Meine erneute Verzweiflung ist jedoch nur kurz, macht dem zunehmenden Akzeptieren Platz.
Mein Bruder ist schon weiter. Er hat sein Schicksal fast angenommen. Noch verhandelt er mit dem Tod. Noch möchte er eine begrenzte Zeit relativen Wohlbefindens erkämpfen. Er schafft es. Es gibt noch so viel zu erleben, noch manches zu erledigen. Wir kommen uns immer näher. Blicke und Gesten ersetzen oft Worte. Wir wissen beide um die Kostbarkeit jeder gemeinsamen Stunde.
Die körperliche Kraft lässt nach, der Wille jedoch trotzt dem Schicksal noch manche schöne Stunde ab. Seine Augen in glücklichen Momenten strahlen zu sehen, gibt mir ungeahnte Kraft, lässt mich eine tiefe innere Ruhe finden, lässt mich meine panische Angst vor dem nicht Durchhaltevermögen vergessen. Ich frage mich in dieser Zeit oft: Wer gibt hier wem Kraft, wer tröstet wen?
Bei jedem Wiedersehen spüre ich deutlicher, dass wir uns dem Ziel nähern. Der Zorn, die Depression, die Aggression ist verschwunden. Das Bewusstsein der baldigen, endgültigen Trennung gibt uns Ruhe, lässt uns liebevoll miteinander umgehen. Wir wissen, dass wir akzeptiert haben, dass wir uns loslassen können. Gemeinsam erreichen wir, dass auch unsere Mutter diesen letzten schweren Schritt tun kann.
Lächelnd kann er über die Schwelle treten. Er hat Frieden gefunden, wir durch ihn Trost.
Alle zusammen haben wir letztendlich zu einem Teil unseres vorbestimmten Weges und zu seinem Ende ein gemeinsames Wort gefunden: JA.
Alle Mühen, Kraftanstrengungen, Tränen, alle Verzweiflung und Wut verblassen neben der Freude, den schönen Momenten, der Liebe während dieser unwiederbringlichen letzten Zeit.