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Er hoffte und plante

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Die Begleitung, über die ich berichten möchte, verlief über anderthalb Jahre. Der Mann war vierundsechzig Jahre alt, krebskrank und galt als „austherapiert“, das heißt, er konnte wegen einiger Komplikationen nicht mehr operiert werden.

Er hatte darauf bestanden, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, obgleich sich seine Frau, die durch ein schmerzhaftes Bandscheibenleiden behindert ist, sehr ängstigte und sich fragte, ob sie den Belastungen einer häuslichen Betreuung gewachsen sei.

Sie stand vor dem Problem, keinen Hausarzt in der Nachbarschaft zu haben, der ihren Mann hätte betreuen können. Aber sie fand einen Arzt, der diesen aus ärztlicher Sicht „hoffnungslosen Fall“ übernahm und auch bereit war, Hausbesuche zu machen. Sie hatte außerdem ein Krankenbett und einen Nachtstuhl besorgt. Sie hatte die Zusage der Diakoniestation erwirkt, dass eine Schwester zur täglichen Pflege ins Haus kommen sollte, die auch Spritzen verabreichen würde. Und schließlich wartete sie auf den Besuch einer Hospiz-Begleiterin, die ihr zum allgemeinen seelischen Beistand angekündigt war.

Ich war bereit und entschlossen, mich ganz auf die Situation und das Lebensgefühl des Kranken einzulassen. So kam ich ins Haus und glaubte, völlig offen zu sein! Dennoch stellte ich sehr schnell fest, dass ich voreingenommen war. Ich glaubte natürlich zu wissen oder hatte bestimmte Vorstellungen, welches „Lebensgefühl“ ein so schwerkranker Mann haben würde.

Ich war der Meinung,

... dass wir nun tiefgehende Gespräche führen würden,

... dass Ängste zu bewältigen wären,

... dass wir Vorstellungen über Sterben und Tod, vielleicht auch religiöse Fragen, besprechen würden.

Doch da musste ich ganz schnell umdenken! Ich begriff – staunend zwar – aber auch voller Bewunderung, dass ich hier einen Menschen vor mir hatte, der sich nicht mit der Bedrohung durch seine Krankheit auseinander setzen wollte. Er hoffte vielmehr aufs Gesundwerden. Er plante, möglichst bald wieder sein Rentnerdasein aufzunehmen. Er träumte davon, selber wieder Auto zu fahren, und er malte sich Reisen und kleinere Ausflüge aus.

So absurd diese Gedankengänge, gemessen an dem Befund, manchmal erschienen, so erlebte ich doch einen Menschen, der von Tag zu Tag aufblühte, weil er einfach subjektiv glücklich war.

Er war zu Hause!

Das bedeutete für ihn, dass man ihm seine alltäglichen Wünsche viel besser erfüllen konnte als im Krankenhaus. Zum Beispiel kochte ihm seine Frau alles, was er nur wünschte, und das war wichtig für ihn, denn er war ein großer Genießer. Auch auf seine Beschwernisse konnte man rund um die Uhr ganz individuell eingehen.

Wie passte nun ich in sein Weltbild hinein, wie begegnete er mir? Ohne jeden Vorbehalt! Er schien zwar zu wissen, dass vom Hospiz Sterbende betreut werden, aber was ging das ihn an? Für ihn war ich eine Stütze für seine Frau und mithin ein Rädchen in dem Getriebe, das ihm insgesamt ermöglichte, zu Hause zu sein.

Da ich seinen Hoffnungen niemals düstere Gedanken entgegensetzte, mochte er mich einfach, und ich glaube, er freute sich auf meine Besuche. Jedenfalls strahlte er eine große Herzlichkeit aus, wenn ich kam.

Ich versuchte, dem Lebensmut des Kranken so viel Raum wie möglich zu geben, und wenn er uns in seinem Optimismus und in seinem unbändigen Lebenswillen manchmal drängte, ihm doch einen Spaziergang oder eine Ausfahrt zu ermöglichen, so ermutigte ich die Ehefrau dazu. Rückblickend freuen wir uns, dass wir ihm einige Erfolgserlebnisse schenken konnten.

Später, als er immer schlechter laufen konnte, kam ein Rollstuhl ins Haus, und ich erinnere mich, wie glücklich er war über ein paar Minuten im Garten, als er die Sonnenstrahlen und ein bisschen Wind in sich hineinnahm, als ob dies Hoffnung auf den Frühling, Hoffnung auf Leben sei.

Zu Anfang meiner Begleitung kam ich fast täglich ins Haus. Doch bald hatte sich alles so eingespielt, dass ich auch etwas seltener kommen konnte, das heißt, ich kam nur noch zweimal in der Woche und blieb dann zwei bis drei Stunden. Meistens war es so, dass der Kranke aufgestanden war, dass wir eine Weile zu dritt am Kaffeetisch saßen, bis er sich wieder auf die Couch legen musste wegen seiner Schwäche, und dass wir uns über dies und das unterhielten. Wir haben auch viel miteinander gelacht.

Über einen so langen Zeitraum gibt es nicht nur Sternstunden und geistig-seelische Höhenflüge. So kommt viel Alltägliches ins Spiel. Aber vielleicht war es gerade das, was meiner Anwesenheit am Sterbebett eine solche Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit gab. So hatte über behutsam entstehende ‚Vertrautheit‘ nach und nach wirkliches Vertrauen wachsen können.

Das Vertrauen, das sich zwischen mir, dem Kranken und der Ehefrau aufgebaut hat, war umso tragfähiger, als es in der langen Zeit seines Sterbens auch kleinere Krisen und Unsicherheiten nicht ausklammerte und damit die ganze Palette des menschlichen Miteinander umschloss.

Ich hatte z. B. ein Problem mit mir selbst gehabt. Zeitweise schien es, als ob sich der Zustand des Mannes tatsächlich zum Guten wenden könnte. In uns keimte gegen alle Vernunft so etwas wie Hoffnung auf das viel beschworene Wunder. Das war eine Zeit, in der ich selbst begann, den Gedanken an den Tod zu verdrängen. Ich empfand fast wie eine Angehörige und hatte Furcht, wenn mir das Sterben dieses Mannes in den Sinn kam!

In dieser Zeit brauchte ich dringend die Supervision. Durch sie und die Konfrontation mit der Realität des Sterbens bei einer anderen Nachtwache, zu der ich eingesetzt war, konnte ich mich von meiner eigenen Befangenheit wieder befreien.

Es ergab sich noch ein weiteres Problem in dieser Zeit. Der Patient wollte niemals ein „wirkliches Gespräch“, auch dann nicht, als es begann ihm schlechter zu gehen. Er hatte anscheinend, oder auch nur scheinbar, seelisch nichts zu verarbeiten, dass er den Austausch darüber gesucht hätte. Und so sehr ich dies auch respektierte, so bekam ich doch Zweifel, ob meine Anwesenheit überhaupt sinnvoll und hilfreich war. Ich fürchtete, indem ich mich so völlig auf den Plauderton einließ, gar nichts beizutragen zur wirklichen Bewältigung seiner Probleme.

Doch ich habe von diesem Mann etwas gelernt und ganz tief begriffen, was mir sicher auch für mein weiteres Leben helfen wird, und zwar: Ob jemand Probleme hat oder nicht, dafür gibt es keine objektiven Kriterien. Es ist eine ganz persönliche Entscheidung!

Ich meine das so: Dieser Mann hatte viele Schwierigkeiten, und er hätte also auch nach menschlichem Eremessen viele Probleme haben müssen. Doch er hatte sie nicht, jedenfalls nicht so, dass sie zu einer Aussprache drängten. Ich konnte das nur schwer begreifen, und so versuchte ich immer wieder, ihn in ein Gespräch hineinzulocken. Doch er widerstand meinen „Verlockungen“, er wich aus ... Das musste ich einfach akzeptieren.

Doch dann, plötzlich, veränderte sich etwas: Vom Patienten kamen Signale, die uns zeigten, dass er sich nunmehr innerlich ganz anders mit seinem Schicksal auseinander setzte, als es äußerlich den Anschein hatte.

Er wendete sich gedanklich sehr stark seiner Vergangenheit zu. Er ließ zum Beispiel in der Weihnachtszeit, was in zweiundvierzig Jahren seiner Ehe nie geschehen war, die Spielzeugeisenbahn aus seinen Kindertagen aus dem Keller heraufholen. Dann fragte er einmal, warum ihn seine Mutter nie besuche. Diese Frage stellte er, obgleich seine Mutter in Wirklichkeit schon vor vielen Jahren gestorben war.

Einmal hatte er auf sein Hochzeitsbild, das über seinem Bett hing, gedeutet und zu mir gesagt: „Dies sind meine Eltern.“ Und schließlich ein paar Tage vor seinem Tod, fragte er, ob sein schwarzer Anzug noch in Ordnung sei. Dies war für mich ein kaum noch verschlüsselter Hinweis, dass er sich sehr wohl mit seinem Ende beschäftigte, obgleich er den Tod auch jetzt nie wörtlich ansprach.

Ein ganz konkretes Zeichen für das Einverstandensein mit dem Ende schien mir die Tatsache, dass Tabletten, die er angeblich eingenommen hatte, unter seinem Bett lagen. Das war etwa drei Wochen vor seinem Tod. Ich empfand diese Verweigerung als eine Art heimlicher Weichenstellung, die er vornahm.

Für mich war dies ein erschütterndes Signal. Ich fragte mich: wie einsam muss ein Mensch sein, wie eingesperrt in seine eigene Sprachlosigkeit, wenn er keinen anderen Ausweg aus der ihn umgebenden Fürsorge und wohlmeinenden Liebe weiß, als diesen Weg der heimlichen Verweigerung.

Ich sprach darüber mit der Ehefrau, denn ich glaubte, dass dies der Zeitpunkt sei, an dem wir von mancher Illusion Abschied nehmen mussten, an dem wir alle mehr Ehrlichkeit brauchten. Das heißt nicht, dass wir von diesem Augenblick an grausame Wahrheiten deutlich ansprachen! Das wäre nicht richtig gewesen, da das Sprechen über das Ende von ihm immer noch nicht gewollt war.

Notwendig war, dass wir umdachten! Jetzt war gefordert, stillschweigend auf die neuen Bedürfnisse des Kranken einzugehen und sensibel zu werden für die Hilferufe hinter all der Sprachlosigkeit. Ich hatte den Eindruck, gerade dieses Verstandenwerden ohne sprechen zu müssen war für den Kranken sehr wohltuend. Es gab so einen „Raum der Stille“ zwischen uns, in dem sich Verständigung über einen Blick, einen Druck der Hand vollzog oder überhaupt nur durch ein Hören nach innen ...

Es war eine ganz wunderbare Erfahrung, auch für mich, dass so etwas möglich ist.

Die Ehefrau wuchs in dieser Zeit in ihrer mutigen Liebe über sich hinaus. Sie hörte auf zu sagen: „du musst deine Tabletten nehmen ... du musst essen ... du musst dies oder das!“

Ich fragte sie: „Was muss ein Sterbender noch, wenn er sich vom Leben abgewendet hat?“ Er muss nichts mehr, außer dem einen: Seinen Weg zu Ende gehen, sich lösen, die verbleibenden Kräfte darauf konzentrieren, die letzte Strecke zu bewältigen. Und wir? Wenn wir ihn wirklich lieben, können wir ihm jetzt nur noch helfen, indem wir ihm die Ruhe lassen, die er braucht, um seinen Weg ungestört zu gehen, indem wir ihn nicht mehr mit aller Gewalt festhalten, indem wir ihm dennoch unsere mitfühlende Nähe schenken und ihm zeigen, dass auch wir akzeptiert haben, was nun geschieht. Es ist sehr schwer für einen Nahestehenden, all das unwidersprochen mitzutragen. Ich habe selten einen Menschen so bewundert wie diese Frau.

Es war für sie immer wieder qualvoll, den Zweifel zu ertragen, ob es denn richtig sei, ihn nicht mehr ins Krankenhaus zu bringen, so wie sie es ihm versprochen hatte.Vielleicht hätte man dort durch lebensverlängernde Maßnahmen dem Tod noch ein paar Tage abringen können? So lag auf der einen Seite der Waagschale ihr Schuldgefühl bei einem möglichen Wortbruch, und auf der anderen die Verantwortung für ein paar Tage mehr oder weniger Leben.

Ich fand die Gelegenheit, den Sterbenden in einem klaren Augenblick zu bitten, seiner Frau zu helfen, indem er ihr, und sei es auch nur durch ein Kopfnicken, verstehen zu geben, dass auch er sich seiner Lage voll bewusst war und damit diese Entscheidung nicht ihr allein überlassen war. Beide wussten nun, worum es ging. Es ist sicherlich auch für die Witwe heute gut zu wissen, dass sie sich in diesem Punkt ganz im Einvernehmen mit ihrem Mann befand.

In der Beziehung der beiden Eheleute hatte dieses wundervolle Einvernehmen eine Veränderung bedeutet. Sie trugen nunmehr ohne Täuschung das Unvermeidbare gemeinsam. In dieser Zeit waren sie sehr zärtlich und sanft zueinander. Sie hatten auch Momente der Zwiesprache. Sie haben sich gegenseitig für vieles danken und auch um Verzeihung bitten können. Es war auch eine Zeit, in der sie viel miteinander gebetet haben.

Er war voller Vertrauen. Er schlief beruhigt ein, wenn er eine Hand halten konnte. Seine Frau richtete ihr Tun auf eine fast mütterliche Art auf die Linderung seiner Schmerzen. Und wenn die Leiden auch schlimm waren, so gab es doch auch immer wieder Kleinigkeiten, die Glücksgefühle auslösten und ein Lächeln auf das schon so vom Tode gezeichnete Gesicht zauberten. Es stimmt einfach nicht, dass dieser Lebensabschnitt keinen Raum mehr für Freude bietet.

Die Ehefrau brauchte in den letzten Tagen kaum noch Schlaf. Sie war fast rund um die Uhr anwesend und sagte immer wieder: „Schlafen kann ich noch lang!“ Ich selbst war für sie, neben meinen nun fast täglichen Besuchen auch jederzeit telefonisch da, sodass eine enge Verbundenheit entstand, die auch jetzt noch, in der Zeit der Trauer, besteht.

Am Morgen des Todestages kam es noch zu einer schwierigen Situation. Der behandelnde Arzt, der auch längst schon zu einer wichtigen Bezugsperson geworden war, musste selber ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die verzweifelte Suche nach einer Vertretung führte schließlich zum Ziel. Doch die Stunden vorher, die Stunden der Ungewissheit und der heftigen Unruhe ihres sterbenden Mannes, der eine schmerzlindernde Injektion gebraucht hätte, – hier war die Frau allein. Auch ich war nicht da.

Ich nahm das ziemlich schwer. Doch vielleicht liegt ein wenig Trost darin, dass ich glauben kann: Auch das ist ein Stückchen Schicksal, ihres wie meines!

Sie rief mich an, unmittelbar nachdem der Tod eingetreten war, und ich ging sofort zu ihnen. Wir verbrachten Stunden bis zur Abholung am Totenbett, wir erlebten den innigen Abschied von ihrem toten Mann und die schweren Augenblicke, als er endgültig weggetragen wurde.


Sterbenden nahe sein

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