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Die Illustrationen von Gustave Doré
ОглавлениеEine einsame, schmale Männergestalt steht in einer dicht bewachsenen Waldlichtung, umringt von dunklen, hoch aufragenden Bäumen und blickt fragend über die Schulter zurück. Der Mann ist noch jung, in seinem langen Mantel wirkt er fast wie ein Mönch, den inmitten der bedrohlich mit ihren Wurzeln nach ihm ausgreifenden Baummassen der Mut verlassen hat. Er steht etwas abseits vom hell erleuchteten Wegstreifen, sein Mantelsaum hat sich bereits im sich windenden Dickicht des säumenden Gebüschs verfangen. Im Hintergrund verliert sich der Weg im Waldesdunkel, in dem schemenhafte kahle Bäume erkennbar sind, die eine bedrohliche Silhouette entfalten. Doch auch der rettende Rückweg ist durch das verschlungene Gebüsch im Vordergrund versperrt. Umso eindringlicher wirkt der Hilfe suchende Blick des Mannes, der sich direkt auf den Betrachter zu richten scheint.
Mit dieser eindringlichen Szene beginnt der französische Maler und Graphiker Gustave Doré (1832–1883) seinen Illustrationszyklus zu Dantes „Göttlicher Komödie“. Der Holzstich ist nicht nur eine bildliche Übersetzung von Dantes berühmten Eingangsversen „In der Mitte unserer Lebensbahn/kam ich zu mir in einem finsteren Wald,/denn der gerade Weg war verfehlt“, sondern zugleich ein Appell an den Betrachter, dem Helden und Erzähler auf seiner Jenseitsreise zu folgen. Dieses Ansinnen wird durch die Komposition und vor allem die Lichtregie unterstützt, welche durch die diagonale Ausrichtung nach rechts hinten einen soghaften Effekt ausüben. Gleichzeitig wird durch den dunklen Hintergrund eine klare Orientierung verwehrt und eine geheimnisvolle Spannung aufgebaut, welche buchstäblich zum tieferen Eintauchen in die Geschichte auffordert.
Die Landschaft ist bei Doré weit mehr als nur Schauplatz und rahmende Kulisse. Bereits beim ersten Stich seiner Illustrationsfolge wird deutlich, dass die Natur auch ein Spiegel der Eindrücke des Erzählers ist und damit ein wesentlich intensiveres Mit- und Nacherleben seiner visionären Jenseitswanderung erlaubt als dies durch eine einfache Wiedergabe des Geschehens möglich gewesen wäre. Dabei entstehen, je tiefer der Erzähler in die Hölle hinabsteigt und anschließend durch das Fegefeuer ins Paradies aufsteigt, im Verlauf der Geschichte wahre „Licht-Landschaften“, mit deren Hilfe Doré die eigentlich undarstellbaren Jenseitswelten vor Augen führt.
Scheint die Eingangsillustration durch den rückwärts gewandten Blick zum Betrachter und die in helles Licht getauchte Protagonistenfigur noch eine letzte Aussicht auf Rettung zu beinhalten, so wird im folgenden Bild jede Möglichkeit der Hoffnung zunichte gemacht. Hier steht die weit in den Mittelgrund gerückte Erzählergestalt in ihrem langen Mantel vor einem felsigen Abgrund in einer schwarzdunklen Schlucht, die von riesigem, kahlem Wurzelwerk bewachsen ist, welches jeden Moment auf den Helden zu stürzen droht. Noch bedrohlicher wirkt aber der große Löwe im Vordergrund, der majestätisch auf einen Felsen gestützt aggressiv mit dem hell beleuchteten Schweif schlägt. Ganz im Hintergrund tut sich zwischen den hoch aufgetürmten Felsen ein Dreieck hellen Himmels auf, das für die einsame Gestalt jedoch unerreichbar bleibt.
Es ist der graphischen Kunst Gustave Dorés zu verdanken, dass die Felslandschaft trotz ihrer Kargkeit und Unwirtlichkeit nicht als tote Natur, sondern wie verlebendigt erscheint. Tatsächlich erfordert der dunkle Holzstich vom Betrachter ein intensives Einsehen. Sobald sich das Auge aber an das Dunkel der Komposition gewöhnt hat, offenbaren sich die Unterschiede in der Linien- und Lichtführung, welche zur Akzentuierung der einzelnen Figuren und Landschaftselemente dienen. Neben Parallel- und Kreuzschraffuren bediente sich Doré für die Lichtakzente feinster kurzer Striche, Häkchen und Punkte, die einen flimmernden Effekt erzeugen, wie er bei den abfallenden Felswänden im Mittel- und Hintergrund sichtbar ist. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Techniken entfaltet die Graphik eine malerische Wirkung in der Art eines phantastischen Landschaftsgemäldes. Während die Bildräume des Höllenzyklus in immer tieferem, stets jedoch differenziert durchgestaltetem Schwarz versinken und die Szenen des „Fegefeuers“ als Übergangswelt durch ein ausponderiertes Grau dominiert werden, visualisiert Doré die überirdische Lichtfülle des Paradieses durch die Auflösung fester Formen und ein zunehmendes Verschwinden von Linien besonders im Mittel- und Hintergrund der Bilder.
Bereits von Zeitgenossen wurde die besondere atmosphärische Wirkung von Dorés Kompositionen gelobt. So erkannte der einflussreiche Romancier und Kunstkritiker Théophile Gautier schon 1857 Dorés „visionären Blick, […] der sogleich die geheimnisvolle Seite der Dinge durchschaut, der die Natur unter einem seltenen Einfallswinkel sieht, indem er die innerlich verdeckte Form unter der gewöhnlichen Erscheinung freilegt. Seine Ideen sind angeboren. Das, was sich ausdrückt, ist die erstaunliche Homogenität seiner Kompositionen, die sehr locker sind und sehr überstürzt, und trotz der Unordnung, der Schnelligkeit und zu oft auch der Fehlerhaftigkeit im Schaffen verleiht das wirkende Leben ihnen einen Wert, den nicht einmal mehr die untadeligen Werke haben und die mehr vollendeten; seine flüchtig schraffierten Skizzen wurden mit Säbelhieben erdacht, im wahrsten Sinne des Wortes, bevor sie auf den Stein oder das Holz übertragen wurden. Der Maler sieht bereits alles in sich fertiggestellt.“
Mit seiner überbordenden Imagination erscheint Gustave Doré auf den ersten Blick als idealer Illustrator von Dantes „Göttlicher Komödie“, die wie kaum ein anderes Werk der Weltliteratur die Vorstellungskraft des Lesers herausfordert und bei jedem Gesang erneut auf die Probe stellt. Genau in dieser imaginären Gewalt des Textes lag für Doré die spezielle Herausforderung bei seinem Illustrationsvorhaben. Denn als Illustrator hatte er sich nach den Vorstellungen der Zeit grundsätzlich nach dem Text zu richten und diesen möglichst getreu in Bilder umzusetzen; es handelt sich also nicht um eine freie Bildfolge nach einem literarischen Motiv. Anspruchsvolle Illustrationen bieten allerdings keine „wörtliche“ Übertragung des Textes in Bilder, sondern sind stets ein Stück weit Interpretation und erschließen im Idealfall durch die persönliche Sicht des Künstlers Elemente und Sinnschichten des Textes, welche sonst im Verborgenen liegen.
Doré suchte seinen Zugang zur mehr als 550 Jahre alten Textvorlage nicht über den philosophisch-theologischen Anspruch der „Komödie“ als allegorischer Weltentwurf. Er nahm Dantes Beschreibung der Jenseitsreise vielmehr als Ausgangspunkt, um seine eigenen Vorstellungen von Himmel, Hölle und Fegefeuer zu entfalten, in welchen er seine ganze Phantasie und Gestaltungskraft ausleben konnte. Zwar folgt Doré sehr genau der Handlung der „Komödie“ und stellt die von Dante geschilderten Erlebnisse und Begegnungen des Erzählers detailliert dar, doch treten die Personen in seinen Kompositionen häufig in den Hintergrund zugunsten einer Evokation von Raum und Atmosphäre. Durch die geschickte Lichtregie und kompositionelle Strategien wie diagonaler Bildaufbau und Relaisfiguren fühlt sich der Betrachter direkt am dramatischen Geschehen beteiligt und kann sich in die Reaktionen des Erzählers psychologisch einfühlen. Doré lotet damit Tiefen der Erzählung aus, welche in den älteren, überwiegend handlungsorientierten Illustrationen der „Göttlichen Komödie“ nicht in dieser Intensität aufscheinen.
Neben dem Text der „Komödie“, den er in der französischen Prosaübersetzung von Pier-Angelo Fiorentino gelesen hatte, welcher auch in der Ursprungsausgabe von 1861/1868 neben dem italienischen Originaltext abgedruckt ist, hat Doré Jugenderinnerungen an die romantisch-zerklüftete Bergwelt der Vogesen und Alpen, aber auch Gemälde anderer Meister als Anregungsquelle benutzt. Ebenso wie Dante sich mit der Literatur und Geistesgeschichte von Antike und Mittelalter auseinandergesetzt hat, finden sich in den dramatischen Höllenszenen Dorés Reflexe auf berühmte Kunstwerke, darunter Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle und die Ikonen der Romantik in Frankreich: Eugène Delacroix’ „Dantebarke“ und Théodore Géricaults „Floß der Medusa“, die mit ihren verzerrten Menschenleibern bildgewordener Ausdruck des Leidens und Entsetzens sind.
Besonders auffällig ist der Bezug zu Michelangelos „Jüngstem Gericht“ (1541) in der Illustration zum 3. Höllengesang mit dem Einstieg in der Barke des „Unholdes“ Charon (Vers 115–116). Zwar nimmt Doré der tumultartigen Szene Michelangelos mit der den Schlägen des Fährmannes ausweichenden Menschenmenge in dem völlig überfüllten Boot durch seine Anordnung in den Mittelgrund etwas vom Eindruck der Bedrohung. Doch durch die schlaglichtartige Beleuchtung der nackten Leiber der zusammengetriebenen, um Hilfe schreienden Verdammten lenkt er das Augenmerk auf die Verzweiflung und Ausweglosigkeit der Situation. Entsetzen und Mitleid des Erzählers werden auf diese Weise für den Betrachter verständlich. Weit mehr als die gedrängte Komposition von Michelangelos Fresko vermittelt Dorés Holzstich trotz seiner geringeren Größe zudem ein Gefühl für die Weite und die Tiefen der Höllenlandschaft, die Dante und Vergil auf ihrer Reise durchqueren. Ein ähnliches Kompositionsverfahren wendete Doré auch bei der Schilderung der Überquerung des Styx im 8. Höllengesang (Vers 41–42) an, bei der Dante und Vergil in der von treibenden Leibern umgebenen Barke zu sehen sind. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter im Grau-Dunkel des Wassers die um Hilfe flehenden Verdammten, die in dem berühmten Gemälde der „Dantebarke“ (1822) von Delacroix, das Doré auch in seiner zweiten Illustration zu diesem Gesang zitiert, riesenhaft-bedrohlich im Vordergrund platziert sind. Fast scheint es, dass dem beobachtenden Erzähler erst in diesem Moment gemeinsam mit dem Betrachter das ganze Ausmaß des Schreckens bewusst wird.
Zu den bekanntesten, häufig abgebildeten Illustrationen zur „Komödie“ gehören die Bilder zum 5. Höllengesang, den Doré mit sechs Holzstichen besonders ausführlich illustriert hat. Der Text beschreibt den Abstieg in den zweiten Höllenkreis, dessen Eingang von Minos bewacht wird, der als Höllenrichter das Strafmaß der Verdammten bestimmt. In diesem Höllenkreis befinden sich die Wollüstigen, d.h. die Sünder der Lust, darunter auch einige bekannte Gestalten und Paare der Geschichte und Literatur wie die antiken Gestalten Semiramis, Kleopatra, Paris, Helena und Achilles und der mittelalterliche Held Tristan, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht haben. Sie sind dazu verdammt, von einem starken Sturm getrieben als ruhelose Körper durch das schwarze Nichts zu fliegen. Den Sturm gibt Doré als mächtigen Wirbel wieder, den Vergil und der Erzähler als einzig aufrecht stehende Figuren vom Rand des Abgrunds aus beobachten. In der Illustration zu Vers 31–32 („Der höllische Orkan, der niemals ruht,/reißt die Geister mit seiner Gewalt dahin“) stellt Doré bereits dem Text vorgreifend die Begegnung mit dem Liebespaar Francesca und Paolo dar, die eng umschlungen als hell erleuchtete Gestalten durch das Dunkel treiben. Ihre tragische Liebesgeschichte – Paolo war der Bruder von Francescas Ehemann Gianciotto da Rimini (gest. 1304), der aus Eifersucht das Paar ermordete – machte zur Zeit Dantes Furore. Entdeckt hatte Gianciotto die verbotene Liebe, als Francesca und Paolo gemeinsam den „Lancelot“-Roman lasen, was Doré als romantisch-historisierende Szene in der übernächsten Illustration wiedergibt. Dass der von Mitleid ergriffene Ich-Erzähler nach Beendigung der tragischen Geschichte in Ohnmacht fällt, wird von Doré nicht gezeigt.
Im sechsten Höllenkreis, in dem sich die Häretiker befinden, beginnt das Höllenfeuer. Doré schildert in der ersten Illustration zum 10. Gesang die Begegnung von Dante und Vergil mit Farinata, einem Ghibellinen, der nach seinem Tod zum Häretiker erklärt wurde. Im Vordergrund ist das geöffnete Grab zu sehen, aus dem Farinata einer antiken Statue gleich emporsteigt, während die beiden Jenseitswanderer erschreckt zurückzuweichen scheinen. Die dramatische Beleuchtung der Szene erinnert an Theaterinszenierungen. Die Illustration gehört hinsichtlich der innerbildlichen Lichteffekte zu den Meisterwerken des Holzstichs.
Eine Erinnerung an die dunklen, geheimnisvollen Wälder der Vogesen, die Doré als Kind mit seinem Vater durchwandert hatte, und seine Kindheitsphantasien bieten die Illustrationen zum 13. Gesang. Hier hat sich der Wald der Selbstmörder in Menschenbäume verwandelt, in welchen sich die „scheußlichen“ Harpyien verbergen: „Weite Flügel haben sie, Hals und Gesicht von Menschen,/Füße mit Krallen und befiedert den großen Bauch,/auf den Bäumen stoßen sie unheimliche Klagen aus“ (Vers 13–15). Diese mythologischen Wesen waren für ihre Aggressivität berüchtigt und konnten erst von Herkules überwunden werden. Doré gestaltete die Harpyien als gespenstische, ausgemergelte Gestalten, wie sie in der antiken „Aeneis“ beschrieben werden, verlieh ihnen jedoch eine monsterhafte Größe, mit welcher sie auf die klein im Hintergrund herantretenden Jenseitswanderer umso bedrohlicher wirken.
Der Größenkontrast ist auch Hauptgestaltungsmittel in der Illustration zu Vers 142–143 im 31. Höllengesang: „Doch sanft setzte er uns ab in der Tiefe,/die den Luzifer zusammen mit Judas im Schlund hat.“ In mildes Licht getaucht, wirkt die monströse Gestalt des Riesen Antaios jedoch weniger furchterregend als die dunkle Schlucht im Hintergrund. Tatsächlich ist der Riese den beiden Jenseitswanderern freundlich gesinnt und setzt Vergil und den Erzähler sanft auf dem Grund der untersten Hölle auf den Boden.
In den eisigen Gründen des innersten Höllenkreises erkunden die beiden in der folgenden Szene, der ersten Illustration zum 32. Gesang, den gefrorenen See des neunten Höllenkreises (Kokytos), in welchem die Verräter an der eigenen Sippschaft als größte Verbrecher gefangen sind. Die Lichtferne und Eiseskälte, die keinerlei menschliche Wärme durchdringen kann, sind von Doré und seinem kongenialen Stecher Pisan mit einer Vielzahl von parallelen Linien wiedergegeben, welche die Atmosphäre der Starre und klirrenden Stille brillant evozieren. Den Verrätern gegen ihre Wohltäter ist der vierte Teil des innersten Höllenkreises vorbehalten, der vollständig von Eis bedeckt ist und von Luzifer bewacht wird. Die schlimmsten Verräter, die gegen die Grundgesetze der Menschlichkeit verstoßen haben, sind als Strafe für ihr Vergehen selbst zu Eis erstarrt. Dorés Darstellung des eisigen Höllengrundes erinnert an eine grausige Tropfsteinhöhle, in welcher die Verdammten sichtbar bleiben „wie ein Halm im Glas“ (34. Gesang, Vers 12).
Erst nach der Erfahrung des dunkelsten, schwärzesten Höllengrundes als symbolhaftem Ausdruck des leblosen Nichts kann der Weg der Läuterung durch das „Fegefeuer“ beginnen. In der ersten Illustration zum 2. Gesang des „Fegefeuers“ erscheinen Vergil und der Erzähler noch wie von den Höllenerfahrungen geprägt im Vordergrund als dunklere Gestalten, während im Hintergrund eine hohe Engelsgestalt vor einer Lichtwolke als erstes Zeichen der Hoffnung naht. Durch die majestätische Gestalt des Engels, der seine Flügel „gegen den Himmel reckt“ (Vers 34), wird die flüchtige Schönheit der Himmelserscheinung versinnbildlicht, die nach Dante so strahlend ist, dass sie „das Auge in der Nähe [.] nicht ertrug“ (Vers 39).
Noch näher zum Licht geht es in der ersten Illustration zum 9. Fegefeuergesang. In einem Traum wird der Erzähler von einem goldenen Adler emporgehoben und in den Himmel getragen. Doré veranschaulicht die an die antike Ganymed-Sage angelehnte Szene jedoch nicht als positive Erfahrung, sondern eher als alptraumhafte Entführung, welche durch die spitzen Berggipfel und sich auftürmenden Wolkenmassen zusätzlich an Bedrohung gewinnt.
Die bedrohliche Atmosphäre wird in der zweiten Illustration zum 16. Gesang auch sinnlich erfahrbar. Fast vermeint der Betrachter in der Darstellung der Begegnung mit dem Lombarden Marco den Rauch der Flammen zu riechen und zu schmecken (Vers 34–36).
Ganz dem Thema des Lichts gewidmet sind die Illustrationen zum „Paradies“, in welchem Beatrice nun die Begleiterin des Erzählers ist. Im Holzstich zu Vers 103–104 des 5. Paradiesgesangs veranschaulicht Doré die Vielheit des himmlischen Glanzes in Gestalt schimmernder Lichtgestalten, die näherkommen und mit dem Besucher sprechen wollen. Entgegen dem Text, der jede Beschreibung der äußeren Gestalt vermeidet, verleiht Doré den Lichtwesen Körper. Hier wird auch bereits das typische Verfahren Dorés im „Paradies“ deutlich, der das himmlische Licht überzeugend vermittels eines leeren, weißen Raumes visualisiert.
Eine wahre Explosionsreihe von Lichteffekten findet sich in der Illustration zu Vers 19–21 des 12. Gesangs, in welcher der Kranz der himmlischen Seelen über den auf einer Wolke schwebenden Wanderern an einen Reigen von Wunderkerzen erinnert. Auch in anderen Illustrationen reihen sich die himmlischen Gestalten zu geometrischen Formationen, die als strahlende Lichtgestalten auch den umgebenden Luftraum mit erleuchten, z.B. im Holzstich zu den Eingangsversen des 19. Gesangs: „Es erschien vor mir mit offenen Flügeln das schöne Bild,/welches in süßer Seligkeit/die Geister freudig aneinandergereiht bildeten“ (Vers 1–3). In dieser Illustration stehen Dante und Beatrice als Rückenfiguren und Betrachter im Bild, die von der unendlichen Weite des Himmels und den sich – in freier Interpretation des Textes – zu einem Adler formierenden Himmelsgestalten wie überwältigt erscheinen.
Gustave Doré: Touristen am Wasserfall. Die Holzstich-Illustrationen in Dorés „Die Reise wider Willen“ (dt. Ausgabe Stuttgart 1876) sind Beispiele für sein karikaturistisches Talent und seine Kunst der dramatischen Landschaftsdarstellung.
Auch in den folgenden Illustrationen steigert Doré durch konsequente Aufhellung den überirdischen Eindruck seiner Bilderfindungen. Von der Anlage ganz ähnlich, zeigt der Stich zum 31. Gesang Dante und Beatrice beim Betrachten der Engelsleiter. Die weit oben in die Tiefe geführte Komposition und die unzähligen Stufen vermitteln eine Ahnung von den enormen himmlischen Entfernungen. Der Illustrationszyklus endet im 31. Gesang mit der Vision der strahlenden weißen Himmelsrose und der an barocke Deckengemälde erinnernden Verherrlichung Mariens als Himmelskönigin im Kreise von Heiligen und Engeln.