Читать книгу Crime Collection IV - Danuta Reah - Страница 12
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Suzanne war mit Krisen vertraut. Eine Krise war etwas, das man kühl und beherrscht durchstehen musste wie ein Beobachter seines eigenen Lebens. Eine Krise packte einen und ließ einen hinter einer erstarrten Fassade in Angst und Schrecken verfallen. Wenn sie vorbei war, war man ausgelaugt und kaputt. Für Suzanne war der Begriff Krise identisch mit ihrem jüngeren Bruder Adam, der seit sechs Jahren tot war, identisch mit dem schmalen, korrekten Gesicht ihres Vaters und seiner Stimme: Dafür bist du verantwortlich, Suzanne !
Sie hörte, wie die Polizistin Jane erklärte, es käme oft vor, dass Kinder verschwänden, das zuverlässigste junge Mädchen der Welt könne einmal abgelenkt sein, und Suzanne wünschte, sie könnte der Zeit bis zu einem Zeitpunkt nach der Krise vorauseilen, ganz gleich, wie diese ausgehen mochte.
Auf Suzannes Anruf hin waren mit lobenswerter, aber beängstigender Schnelligkeit zwei Polizeibeamte erschienen. Ein Mann und eine Frau. Die Frau stellte sich vor, sie war ruhig, einfühlsam, professionell. »Hazel Austen. Ich bin wegen Ihrer Tochter gekommen. Sie heißt Lucy, nicht wahr?« Mit ein paar schnellen Fragen hatte sie das Wesentliche der Situation erfasst und sprach nun mit Jane der Reihe nach durch, wohin Emma und Lucy zu gehen vorgehabt hatten und wohin sie sonst immer gingen. »… jetzt gleich durch den Park gehen, aber ich möchte nur noch von Ihnen wissen…«
Um sich von ihrer Spannung abzulenken, ließ Suzanne den Blick in dem vertrauten Zimmer umherwandern. Es gab Bilder: gerahmte Drucke, einige von Janes Zeichnungen und Lucys eigene Bilder, die mit Klebstreifen an Wänden und Tür befestigt waren. Ihre Spielsachen und Bücher lagen in einer Ecke aufgetürmt und kreuz und quer durcheinander auf dem Regal, das neben dem Fenster stand. Ein Foto von Lucy mit ihrem Vater Joel war mit einem Reißnagel am Regal festgemacht. Das war etwas Neues. Es sah aus wie eine von Janes Fotografien, und das Format und die hochgebogenen Ecken ließen darauf schließen, dass sie es vermutlich auch selbst entwickelt hatte. Beide Gesichter sahen vor einem Hintergrund diffuser Lichtquellen ernst aus, Lucys helles Haar berührte das dunkle ihres Vaters. Lucys Zeichnungen waren leicht zerknittert und hingen niedrig, etwa in Kopfhöhe, manche ein wenig schief. Die Überschriften hatte Lucy selbst geschrieben, indem sie Janes Schrift sorgfältig abgemalt hatte, jeden Buchstaben in einer anderen Farbe.
Die Bilder gehörten zu Lucys Fantasiewelt. Flossy, meine Katze im Park , ein Bild mit einem gestreiften Tier mit sehr vielen Zähnen; Ich und meine Schwestern im Park , eine kleine Gestalt mit hellen Haaren neben zwei anderen Figuren, eine hell-, die andere dunkelhaarig; Meine Mum und Dad , zwei große Gestalten, beide mit blondem Haar wie Lucy; Ashmans Bruder im Park , ein dunkelhaariges, lächelndes Wesen. Lucys erfundene Familie hatte einen Vater, der präsent war, im Gegensatz zu dem abwesenden Joel, der ständig unterwegs war, und Katzen und Hunde, Schwestern und manchmal Brüder gehörten auch dazu. Der Rest ihrer Welt war mit noch merkwürdigeren Wesen bevölkert, wie zum Beispiel mit ihrem imaginären Freund Tamby und dem finsteren Ashman – und jetzt anscheinend auch mit Monstern.
Suzanne und Jane hatten in diesem Zimmer vor kurzem eine Flasche Wein getrunken und sich mitten in dem Durcheinander unterhalten, während Lucy am Tisch saß und malte. Das Zimmer war ihr beim Plaudern mit Jane und erfüllt mit Lucys Geplapper warm und einladend vorgekommen. Jetzt sah das Wirrwarr nicht mehr freundlich und tröstlich aus, sondern zerstört, als wäre ein heftiger Wind durch den Raum gefegt und hätte alle Gegenstände wahllos zu Boden geworfen.
»… Tasse Tee.« Suzanne schrak auf. Hazel hatte mit ihr gesprochen. Als sie Suzannes ratlosen Blick sah, wiederholte sie: »Ich glaube, Jane hätte gern eine Tasse Tee.«
Einen Moment waren es nur Worte ohne Bedeutung, dann sagte Suzanne: »Ach ja, natürlich.« Sie lief schnell durch den gemeinsamen Hof zu ihrer Hintertür und brachte Tee und Kekse aus ihrer eigenen Wohnung. Mit einem Tablett kam sie ins Zimmer zurück und beschäftigte sich damit, die Tassen hinzustellen, Tee einzugießen und die Kekse auf einen Teller zu legen.
»Sie ist sehr selbstständig und weiß genau, dass sie nicht mit Fremden sprechen soll, wissen Sie … Sie würde nicht mit jemandem mitgehen.« Jane versuchte sich selbst zu beruhigen, als käme dadurch, dass sie Hazel überzeugte, alles wieder in Ordnung. Es stimmte, dass Lucy erfinderisch und clever war, dachte Suzanne, aber sie war erst sechs Jahre alt.
Sie gab Jane eine Tasse Tee und versuchte, ihr zu helfen. »Lucy ist sehr vernünftig«, sagte sie zu Hazel, und Jane warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Lucys Malblock und Wachsstifte lagen auf dem Tisch, und Suzanne schob sie zur Seite. Sie wollte das Bild nicht ansehen, das Lucy gemalt hatte, aber es zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und schließlich starrte sie es an, während sie zuhörte, wie Hazel zu Jane sagte, dass es noch früh sei und dass die meisten vermissten Kinder gesund und munter wieder auftauchten. Es war ein typisches Kinderbild, auf der oberen Hälfte der Seite ein blauer Himmel und unten grünes Gras. Die zwei Gestalten, eine große und eine kleine, standen auf dem Rasen. Ihre Arme waren seitlich ausgestreckt, jeder einzelne Finger war sorgfältig gezeichnet, und sie hielten einander an den Händen. Lucy und Jane. Suzanne sah genauer hin. Nein, die größere Person hatte braune Haare. Lucy und Sophie? Sie konnte sich vorstellen, wie Lucy am Tisch saß, ganz vertieft und mit ernstem Gesicht über das Papier gebeugt, und wie sie beim Malen halb zu sich selbst, halb mit ihrer Mutter und Suzanne sprach. Und sie sind im Park, dann gehen sie über das große Feld, halten sich an den Händen und lächeln, siehst du … Aber diese Gesichter lächelten nicht, bemerkte sie. Die Mundwinkel waren grimmig nach unten gezogen.
Sie schaute auf und sah, dass auch Janes Blick auf den Block fiel. Sie hätte ihn weglegen sollen. Jane nahm ihn in die Hand. »Das hier hat sie gemalt«, sagte sie, und ihr Blick irrte zwischen den beiden Frauen hin und her. »Gestern Abend. Sie kann gut …« Ihre Stimme wurde leise, und sie schluckte.
Der Polizist war wieder hereingekommen. Er schaute zu Jane und Hazel hin, die miteinander sprachen, und gab dann Suzanne mit einem Blick ein Zeichen. Sie ging zu ihm, und er führte sie aus dem Zimmer. Jane sah auf, als sie hinausging, aber nur einen Augenblick. Der Mann wartete neben dem Telefon im Flur. »Sie sagten, dass Sie das Handy angerufen haben, das das junge Mädchen bei sich hat?«
»Ja. Es wurde nicht abgenommen.«
Er sah sie an. »Aber es war angeschaltet?«
Suzanne schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nie ein Mobiltelefon gehabt und kannte sich damit nicht aus. »Ich weiß nicht. Woran merkt man das?«
Als Antwort wählte er die Nummer und hielt ihr das Telefon hin. Sie hörte ein Krachen, bevor eine Verbindung zustande kam, und dann eine Aufnahme: »Diese Nummer ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später.« Suzanne schaute ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein. Letztes Mal hat es nur geklingelt.«
»Und das war …?«
»Vor einer halben Stunde etwa. Bevor ich Sie angerufen habe.« Er sagte nichts, deshalb fragte sie ihn: »Was hat das zu bedeuten?«
»Es ist nichts. Wahrscheinlich ist es nicht wichtig.«
Damit wollte sie sich nicht zufrieden geben. »Aber vielleicht doch. Was bedeutet es?«
Er zuckte die Schultern. »Es bedeutet wahrscheinlich, dass der Akku leer ist. Oder dass jemand das Handy abgeschaltet hat, seit Sie die Nummer angerufen haben.«
Lucy war im Park gewesen. Sie fanden Spuren von ihr, viel weiter weg als an den Stellen, die ihre Mutter beschrieben hatte. Wenn man etwa anderthalb Kilometer durch den Wald ging, kam man beim Forge Dam, dem letzten Teich, zu einem Spielplatz. Im Café bei dem Spielplatz am Waldrand trat der Besitzer in die Sonne hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, und sagte: »Ja, ein kleines Mädchen, blond, ja, sie war am Vormittag hier, so um zehn herum. Sie hat ein Eis gekauft.« Er dachte nach. »Und ein Stück Kuchen. Ich fragte sie, ob es für die Enten sei. Ich hab sie schon öfter hier oben gesehen, ihre Mum kauft Kuchen für die Enten.«
»Ist sie das?« Der Polizeibeamte zeigte ihm ein Bild, und er nickte.
»Ja, das ist sie. Ist ihr etwas …?«
»War jemand bei ihr?« Aus dem Funkgerät an der Jacke des Mannes krachte es, aber die Worte, die danach kamen, verstand der Cafébesitzer nicht. Der Polizist sprach leise eine kurze Antwort in das Gerät und kam dann auf seine Frage zurück.
»Ja … also, ich glaube schon.«
»Wer? Könnten Sie die Person beschreiben, die bei ihr war?«
Der Cafébesitzer war jetzt beunruhigt und überlegte. Er hatte eigentlich nichts gesehen, wenn er es sich genau überlegte. Sie war zweimal zum Seitenfenster gekommen, einmal wegen Eis und einmal, um Kuchen und ein Getränk zu holen. Er hatte eigentlich niemanden gesehen. »Ich weiß nicht«, sagte er langsam. »Ich hab einfach angenommen… Ich habe niemanden gesehen.«
Es war nicht viel los gewesen an diesem Vormittag, an diesem Tag. Kurz nach neun waren ein paar Spaziergänger vorbeigekommen und tranken eine Tasse Tee. Er hatte Leute gesehen, die zum Teich hinauf- oder dann weitergingen. Der Weg gehörte zum Sheffield Round Walk, und von hier gab es für die Wanderer auch eine Möglichkeit, in den Derbyshire Peak District zu kommen. Es war ein viel genutzter Weg. Einige der Spaziergänger waren vielleicht am Teich geblieben, hatten dort den Tag verbracht, vielleicht geangelt, er wusste es nicht. Er hatte sich um das Café gekümmert – es war nicht viel los, wie schon gesagt, er hatte die Buchführung gemacht, dann eine Weile ferngesehen. Der Beamte machte Notizen und vermutete bereits missmutig, dass irgendjemand alle diese Leute würde finden müssen, wenn aus der Sache eine richtige Untersuchung wurde, und dass sie befragt werden müssten, was sie gesehen hatten, und dass herauszufinden wäre, wer hier durchgekommen war, ohne sich zu melden. Wenn diese Person sich nicht gemeldet hatte, vielleicht deshalb, weil sie nur allzu gut wusste, was mit dem verschwundenen Kind geschehen war.
Suzanne wurde klar, dass die Polizei die Sache mittlerweile aus irgendeinem Grund etwas ernster nahm. Als ein Mann in Zivil, ein Kriminalbeamter, gekommen war, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie fühlte sich in der Nähe der Polizei unbehaglich. Sie hatte zu viele Erinnerungen an Adam, an die Stimme am Telefon. Wir haben Adam leider wieder hier. Er hat … Und ihr Vater. Kümmere du dich darum, Suzanne . Es ist deine Sache . Sie hatte ihnen damals vertraut, hatte auf sie gehört und getan, was sie sagten. Sie hörte noch immer die Stimme der Frau. Sagen Sie uns doch, wo Adam ist. Wir wollen dem Jungen helfen, Suzanne.
Der Mann stellte sich als Detective Inspector Steve McCarthy vor. Er sprach schnell die Fakten durch, nach denen Hazel gefragt hatte, und fügte noch die eine oder andere Frage hinzu. Es beeindruckte Suzanne, wie effizient er vorging, aber sie fand ihn barsch und kalt. Dann fing er an, Fragen über Emma zu stellen, wie gut Jane sie kannte, was sie beruflich tat, wo sie wohnte. Jane wurde blasser, als er ihr sagte, Emma sei überhaupt keine Studentin und offiziell auch nie eine Mitbewohnerin des Hauses Nummer vierzehn gewesen.
Suzanne war nicht klar gewesen, wie sehr sie Emma in gutem Glauben vertraut hatten, weil sie sie kannten oder jedenfalls zu kennen glaubten. Deshalb war die Polizei besorgt. Etwas mit Emma stimmte nicht. Suzanne ging zu Janes Sessel, setzte sich auf die Lehne, legte den Arm um sie und sagte: »Emma kennen wir beide gut. Sie ist Sophies Freundin.« McCarthy hob fragend eine Augenbraue, und sie begriff, wie mager sich diese Empfehlung anhörte.
Sie erzählte ihm von Sophie, ihren Eltern, ihrem Tutor an der Universität und den Kursen, die sie belegt hatte. »So haben wir Emma kennen gelernt«, erklärte sie. Als er nichts antwortete, fragte sie: »Was ist denn? Mit Emma ist etwas nicht in Ordnung, nicht wahr?«
»Wir brauchen einfach Hintergrundinformationen«, sagte er, ihrer Frage ausweichend. Mit ausdruckslosem Gesicht machte er sich Notizen und stellte dann Fragen über Lucys Vater. »Wo wohnt er? Sieht er Lucy häufig? Könnte es sein, dass Lucy zu ihm gegangen ist?«
Jane schüttelte den Kopf. Suzanne konnte sich nicht zurückhalten. »Lucy hat Joel immer nur hier gesehen.« Suzanne wollte Joel nicht Lucys Vater nennen, er verdiente es nicht. Er war fast nie da und widmete seine Zeit, soweit sie wusste, seinen zwielichtigen Geschäften mit Clubs und Partys in Lagerhäusern. Wenn er Lucy tatsächlich einmal besuchte, nahm er alle Vorteile für sich in Anspruch. Er brachte ihr Geschenke, spielte manchmal mit ihr, aber immer in unregelmäßigen Abständen, und wenn sie ihn brauchte, war er nie da. Wenn er Lucy enttäuschte, was sehr oft vorkam, oder wenn er ihren Geburtstag vergaß, hieß es: Es ist doch nur ein Datum auf dem Kalender . Reg dich nicht so auf, Jane . Er versprach, zu ihrer Geburtstagsparty zu kommen, und blieb einfach weg, mit der Erklärung: Ich kann keinen ganzen Nachmittag mit schreienden Kindern aushalten . Oder er sagte: »Natürlich komme ich und sehe mir das Stück an, in dem du mitspielst, Schatz«, tauchte aber dann nicht auf, und Lucy weinte und wollte nicht spielen und sagte: »Wir können nicht anfangen, mein Daddy ist noch nicht da.« Na ja. Etwas ist dazwischengekommen. Hör auf, herumzunörgeln, Jane . Wenn er seine Versprechen gegenüber Lucy nicht einhielt, fand Jane Entschuldigungen und versuchte, ihn in Lucys Augen immer gut dastehen zu lassen. Aber wie sollte man das erklären? Sie versuchte, es kurz zusammenzufassen, und es kam ihr vor, als blickte sie der Polizeibeamte leicht belustigt an. »Joel würde Lucy nicht entführen«, fügte sie hinzu. »Er würde eher jemandem ein Lösegeld zahlen, damit er sie ihm abnimmt.«
Jane vergrub das Gesicht in den Händen und sah dann auf. »Joel wohnt nicht in Sheffield«, sagte sie müde. »Lucy ist nicht bei ihm.« Suzanne bemerkte, dass DI McCarthy und Hazel Austen einen schnellen Blick austauschten. Sie wurde rot. Sie hätte es ihnen gleich sagen sollen. Jane kam der nächsten Frage zuvor. »In Leeds«, sagte sie. »Er wohnt in Leeds. Und im Moment ist er geschäftlich in London.« Ihr normalerweise blasses Gesicht war weiß, und sie sah erschöpft aus. Die Worte brachen aus ihr heraus, als seien sie ihre letzte Waffe, und danach würde sie mit leeren Händen dastehen. »Sie wird doch Hunger bekommen. Sie hat nichts zu Mittag gegessen. Sie ist noch so klein und hat Asthma. Lucy ist sehr tapfer, aber im Dunkeln hat sie Angst. Sie muss wieder zurück sein, bevor es dunkel wird. Sie wird schreckliche Angst bekommen, wenn sie allein ist.« Sie sah den Mann an, der sich alles ungerührt anhörte. »Ich muss sie suchen gehen.«
McCarthy sah Jane einen Augenblick an und schien Mitgefühl mit ihr zu haben. Seine Stimme klang weicher. »Da draußen sind Leute, die nach ihr suchen.« Suzanne sah ihn einen Moment an und las in seinen Augen, dass er glaubte, Lucy sei eine der wenigen, bei denen sich die Sache als nicht harmlos herausstellt. Sie fühlte sich schrecklich hilflos.
Lucy kroch um die Büsche herum und horchte. Die Geräusche veränderten sich. Vorher waren es Schritte, die auf den trockenen Blättern zwischen den Büschen weich und gedämpft klangen. Sie war so leise wie möglich gewesen. Zischend hatte sie ein Fahrrad auf dem nassen Weg vorbeifahren hören, aber sie hatte sich nicht bemerkbar gemacht. Sie war dem Ashman davongelaufen, aber im Wald gab es Monster.
Sie hatte zwischen den Steinen Plätze gefunden, wo sie sich verstecken konnte und wo niemand sie finden würde. Einmal hatte sie jemanden »Lucy! Lucy!« rufen hören. Aber es war eine Stimme gewesen, die sie nicht kannte, deshalb war sie ganz still gewesen und hatte sich vorgestellt, sie flüstere Tamby zu wie eine Maus . Sie hörte die Stimmen von Kindern auf dem Spielplatz. Vielleicht war jetzt alles in Ordnung. Sie krabbelte zwischen den Büschen durch und fand zum Weg zurück. Sie ging nicht zum Spielplatz. Sie wollte nach Hause. Sie sollte nicht allein durch den Wald gehen, und vor allem sollte sie Straßen nicht allein überqueren. Sie wünschte, Sophie wäre hier. Sophie würde wissen, was zu tun wäre.
Sie sprang die niedrigen Stufen hinunter, die zum Bach führten, und balancierte auf den Steinen am Rand des Weges. Von einem Stein hüpfte sie auf den nächsten, von einem Fuß auf den anderen, schnell, bevor sie das Gleichgewicht verlor. Dann war sie an der Stelle, wo der Weg sich teilte, und sie kletterte rasch auf den Damm hinauf. Manchmal waren Angler da und oft hatten Lucy und Sophie ihnen zugesehen. Lucy schaute gern in die Behälter mit zappelnden Maden. Einmal sah Lucy einen der Angler die Maden essen, aber Sophie sagte, das sei ekelhaft . »Aber das hat er wirklich getan«, hatte Lucy gesagt. »Wirklich. Ich hab sie in seinem Mund gesehen.« Ekelhaft . Lucy sah sich um, aber Emma war nicht da. Auch keine Angler. Niemand war am Teich, nirgends. Sie wollte, Sophie wäre da. Sie wollte, ihre Mum wäre da. Sie wollte nach Haus gehen. Ihre Brust tat weh, und sie hatte ihre Medizin nicht bei sich, denn Emma hatte sie. Sie lief weiter den Weg entlang bis zum Ende des Damms. Sie war müde . Jetzt war sie bei den Cottages und der langen Reihe von Stufen angekommen, die wieder zum Bach hinunterführten. Sie ging hinunter, vorsichtig immer eine Stufe nach der anderen nehmend, und passte auf, dass ihr Fuß nie auf einen Riss traf. Wenn man dabei nicht aufpasste, würden einen die Monster holen.
Suzanne sah auf ihre Uhr und erinnerte sich schuldbewusst, dass sie in der Schule sein und Michael abholen sollte. Sie hätte beim Konzert seiner Klasse dabei sein sollen, wo er mitsang. Sie hatte es versprochen. Und sie hatte es Dave versprochen. Sie sah zu Jane hin, wollte aber nichts von Kindern erwähnen, die von der Schule abzuholen waren, um Jane nicht daran zu erinnern, dass sie normalerweise jetzt Lucy abholen würde, sondern sagte nur: »Ich bin bald wieder da.«
Sie rannte den Abhang zum Tor der Schule hinunter, die glücklicherweise nur fünf Minuten entfernt war. Sie dachte an Michael, der allein auf dem Spielplatz wartete oder sich vielleicht aufgemacht hatte, um sie zu suchen. Es konnte so leicht passieren, ein Fehler, ein Augenblick der Unachtsamkeit und … Dafür bist du verantwortlich, Suzanne! Plötzlich schien die Luft, die sie atmete, ganz dünn zu werden, als sei ihr aller Sauerstoff entzogen. Gesicht und Hände kribbelten und in der Brust saß ein stechender Schmerz. Sie erreichte den Spielplatz, draußen vor dem Fertigbau, in dem Michaels Klasse Unterricht hatte. Sie blieb stehen, lehnte sich gegen die niedrige Wand und konzentrierte sich darauf, ihren keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekommen.
Früher war es häufig vorgekommen. Sobald sie allein und für Michael verantwortlich war, bekam sie Panik. Sie erinnerte sich an Daves Blick, zuerst voll Mitgefühl, dann voll Sorge und schließlich voll Ärger und Wut. »Postnatale Depression«, hatte ihr Arzt vage diagnostiziert. Aber es war nie besser geworden.
Ihre frühere Lebensfreude war in einem schwarzen Abgrund aus Angst, Schuldgefühlen und Nervosität versunken, und sie gestand sich ein, dass sie es nicht schaffen würde. Nicht jetzt, wo Lucy weg war, nicht jetzt, wo das Wochenende vielleicht wer weiß was alles bringen würde. Diese Entscheidung half ihr, sich zu beruhigen und das Klassenzimmer zu betreten, um noch bis zum Ende des Konzerts dabei zu sein.
Sie winkte Michael zu, dessen Gesicht strahlte, als er sie sah. Lisa Boyden, Michaels Lehrerin, huschte zu ihr herüber, um sie flüsternd nach Lucy zu fragen. Natürlich, die Polizei hatte bestimmt auch in der Schule nachgefragt. Sie schüttelte den Kopf, es gebe keine Neuigkeiten, und wartete ungeduldig auf das Ende des Konzerts.
Es war schon nach vier, als sie mit Michael aus dem Schultor kam. Er redete die ganze Zeit, war froh, sie zu sehen, freute sich auf sein Wochenende und quoll über von den Erlebnissen des Schultages und vom Konzert, und vergab ihr, dass sie so spät gekommen war, weil sie wenigstens am Ende doch noch aufgetaucht war. Sie lächelte mit starrem Gesicht und sagte: »Wirklich? Tatsächlich?« und »Schön«, als sie die Straße entlanggingen. Dabei konzentrierte sie sich darauf, tief und ruhig zu atmen, und hörte nichts von dem, was er sagte. Sie merkte, wie das Gespräch langsam erstarb und wie unaufmerksam sie war. Sie hätte ihn gern hochgehoben, um ihn zu umarmen und ihm zu sagen, dass es ihr Leid tat, sagte aber stattdessen: »Wir gehen zuerst bei Daddy vorbei.« Er sah sie an und nickte resigniert, ein bisschen zu reif, ein bisschen zu wissend – das tat ihr weh. Verantwortlich!
Dave wohnte auf der anderen Seite des Parks, ganz in Gedanken versunken trat sie mit Michael durch das Tor. »Sieh mal, so viele Polizisten!« Er war begeistert. »Ein Räuber ist da gewesen«, sagte er.
Suzanne sah sich um. Zwei Streifenwagen parkten beim Sportplatz, und Männer in Uniform sprachen mit Spaziergängern und zeigten ihnen Fotos. Und ein Transporter, ein Polizeitransporter, stand da, auf dem unter der normalen Aufschrift etwas in dunklen Buchstaben geschrieben stand. Sie kniff die Augen zusammen, um es lesen zu können. UNDERWATER SEARCH. Die Teiche. Sie war schockiert, bekam keine Luft. »Ja, ich vermute, sie haben ihn gefangen«, sagte sie und strengte sich an, dass ihre Stimme nicht zitterte. »Komm, wir gehen, lass uns zu Dad gehen. Mal sehen, was er macht.«
»Ich will zusehen. Ich will dableiben«, sagte Michael mit weinerlicher Stimme und zog an ihrer Hand. Er merkte, dass sie schnell weg wollte.
Sie bezwang ihre Ungeduld. Aber sie mussten aus dem Park draußen sein, bevor… »Komm, Michael.« Ihre Aufregung klang wie Ärger, und sie hasste sich deswegen. Er gab nach und kam mit, zeigte aber seinen Zorn, indem er mit den Schuhen in die Erde kickte und immer wieder an Suzannes Hand zog.
Als sie sich Daves Haus näherten, hörte Suzanne schon die Musik aus der Stereoanlage, die disharmonischen Klänge moderner Komponisten, die sie verabscheute und die Dave liebte. Wenigstens war er zu Hause. Sie drückte auf die Klingel, erinnerte sich dann, dass sie nicht funktionierte, und klopfte an. »Dad hört das nicht«, war Michaels Kommentar, und er hämmerte mit den Fäusten an die Tür.
»Schon gut. Ich hab’s gehört.« Daves bissiger Gesichtsausdruck wurde freundlicher, als er Michael sah, und dann wieder unfreundlich bei Suzannes Anblick. Er hob sich seinen Sohn zur Begrüßung auf die Schultern. »Hi, Mike, kleiner Kumpel. Bist du früher gekommen?«
»Kann ich Cartoons sehen?« Suzanne merkte, dass er sie mitsamt dem Räuber im Park vergessen hatte und einfach nur froh war, zu Hause zu sein, und es gab ihr einen Stich ins Herz.
»Geh, Mike. Ich komm gleich«, sagte Dave, der Suzanne immer noch mit unfreundlichem Blick betrachtete. Er wusste, warum sie hier war. »Und?« Er würde ihr nicht entgegenkommen. »Schaffst du es nicht einmal…?« Er sah sie genauer an, und auf seinem Gesicht lagen Ärger und Ungeduld.
»Es tut mir Leid«, sagte sie. Aufgeregt erzählte sie ihm von Lucy und der Situation, die sich einem unabwendbaren Ende zu nähern schien. »Ich will nicht, dass Michael bei mir ist, wenn … Ich finde, er sollte da nicht in der Nähe sein.« Es hätte vernünftig und praktisch geklungen, wenn sie es klarer hätte ausdrücken können.
»Kann Mike das verstehen? Ach Gott, Suze, ich sehe ein, was das Problem ist… aber wie oft darf Mike schon Zeit mit dir verbringen?« Suzanne fühlte, wie Schuldgefühle in ihr aufstiegen. Dave hatte Recht.
»Es ist schon Stunden her«, sagte sie. »Und da muss es irgendetwas geben, was die Polizei uns nicht sagt. Ich glaube, es ist etwas passiert.« Er sah sie an und nickte. »Wenn ich mich irre, kann Michael morgen wiederkommen, er kann das Wochenende mit mir …«
Dave schüttelte den Kopf. »Er ist doch kein verdammtes Haustier, Suze. Wenn er heute Abend nach Hause kommt, dann bleibt er hier. Du kannst ihn stattdessen nächstes Wochenende nehmen. Ich fahre weg, und es ist ohne Mike praktischer.« Ging es um seine neue Freundin, von der sie gehört hatte? Michael hatte schon einmal von ihr erzählt – wie hieß sie noch mal? Carol? Carol kann Eier mit Gesichtern backen … Sie war verwirrt, orientierungslos, hatte plötzlich das Gefühl, dass ihr alles entglitt. »Wenn du dir solche Sorgen über Jane machst«, sprach er weiter, und vor Ungeduld klang es böse, »dann solltest du dich erst mal selbst in den Griff kriegen.«
Jane. Und Lucy. Sie selbst war jetzt schon eine Stunde weg. Alles Mögliche konnte passiert sein. Sie versuchte, sich von Dave mit einem versöhnlichen Gruß zu verabschieden, aber sein Gesichtsausdruck blieb verschlossen. Michael saß vor den Cartoons und wandte sich ungeduldig ab, als sie ihm einen Kuss geben wollte.
Ihr Kopf dröhnte. Dave hatte Recht. Sie musste sich beruhigen, bevor sie zurückkehrte. Sie beschloss, durch den Park zu gehen, und nahm die Straße, die zu einem anderen Tor führte, das weiter im Wald lag. Sie konnte Jane nicht mehr helfen. Was konnte sie tun oder sagen? Es gab nichts zu tun oder zu sagen. Sie begriff, dass dieser Mann von der Kripo das wusste. Er verstand, dass Worte nichts brachten. Nur was man tat, zählte.
Sie ging in den Park hinein. Mit Michael war sie hier am Suchteam der Polizei vorbeigekommen. Jetzt wollte sie sehen, was weiter drinnen los war. Ihr war unwohl, als sie an das merkwürdige Warnschild dachte, das durch die späteren Ereignisse aus ihrem Gedächtnis verdrängt worden war. Sie hätte jemandem davon erzählen sollen. Sie musste es ihnen sagen, sobald sie zurückkam. Aber es konnte nichts mit dieser Sache hier zu tun haben. Lucy und Emma waren zum Spielplatz im ersten Park gegangen. Eine größere Straße und ein langer Weg führten von dort herüber. Sie sah sich um. Keine Polizei. Kein Streifenwagen, niemand, der die Büsche durchsuchte. Dieser Teil des Parks war menschenleer, als hätten sie aufgegeben und seien weggegangen.
Die Sonne stand jetzt schon tief, und die Schatten der Bäume fielen auf den Weg. Suzanne ging langsam weiter, die Stille beruhigte sie, und sie konzentrierte ihre Sinne auf den Park. Sie sah die Muster von Licht und Schatten auf dem Weg und fühlte die frühe Abendsonne auf ihren Armen. Sie stand unter den Bäumen und horchte auf in der Ferne spielende Kinder, auf die Vögel am Teich, das Geräusch… Das war neu, anders. Ein rhythmischer, knarrender Laut, den sie nicht erkannte, und wirbelndes Wasser, das wie unter Druck schnell floss. Sie sah sich um und versuchte herauszufinden, woher das kam. Man konnte sich bei Geräuschen im Wald irren, sie prallten von Mauern und Bäumen zurück und täuschten einen, so dass man in der falschen Richtung und an den falschen Stellen suchte. Dann wurde ihr klar, dass sie das Geräusch schon eine ganze Weile hörte. Sie sah zu Shepherd Wheel auf der anderen Seite des Bachs hinüber. Das war es, es kam von dort. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie das Geräusch eingeordnet hatte, und dann war sie nicht mehr sicher. Es war bestimmt das Geräusch des Wasserrads, das sich drehte.
Fast wäre sie weitergegangen, aber warum drehte sich das Wasserrad zu dieser Tageszeit? Warum drehte es sich überhaupt? Der Stadtrat hatte schon vor Jahren entschieden, das Gebäude zu schließen. Langsam wandte sie sich um und ging auf der Brücke über den Bach. Als sie sich dem Gebäude näherte, überlegte sie, wie man überhaupt hineinkam. Türen und Fenster waren geschlossen. Sie folgte dem Weg zum Hof. Das Tor war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sie runzelte die Stirn. Jetzt konnte sie das Rad ganz deutlich knarren hören. Sie rüttelte am Tor, das Schloss klapperte. Sie ging zurück und versuchte es mit der Tür. Aber sie war fest verriegelt, und ein glänzendes Vorhängeschloss hing davor.
Die Ereignisse des Tages fügten sich zu einem Bild zusammen, das sie nicht sehen wollte. Lucy. Der fremde junge Mann. Das Rad, das sich drehte. Das Tor mit den hohen Eisenstangen, die oben in einer Reihe von Spitzen ausliefen. Der Zaun war genauso konstruiert, aber von Efeu überwachsen, und sie konnte den Fuß auf einen Ast stellen, sich hochziehen und oben am Zaun festhalten. Der Zweig brach, und sie bekam einen Kratzer am Bein ab, als sie zurückglitt, konnte sich aber trotzdem festhalten und weiter hochziehen, indem sie mit dem Fuß neuen Halt im Efeu suchte. Geschafft! Jetzt hatte sie das Knie oben auf der Querstange des Gitters, auf die sie sich stützen konnte, wenn sie vorsichtig über die rostigen Eisenspitzen kletterte. Was würde sie tun, wenn sie ausrutschte und sich auf den Spitzen aufspießte? Jetzt hatte sie einen Fuß auf der anderen Seite des Zauns. Unbeholfen zog sie sich vollends hinüber, hielt sich an den Spitzen fest und ließ sich dann langsam in den Hof hinuntergleiten.
Ihre Arme taten weh, und der Kratzer an ihrem Bein brannte. Als sie in den Hof sprang, fiel ihr ein, dass sie in Gefahr sein könnte, wenn Betrunkene oder Rowdys hier waren, weil sie sich nicht schnell zurückziehen konnte, aber sie hatte sich von der Stille, in der keine Stimmen zu hören waren, beruhigen lassen, und sie hatte Recht. Niemand war da, nur das Rad drehte sich immer weiter, das Schleusentor war offen, das Wasser fiel auf die Schaufeln, und das Rad drehte sich nach unten, wo es schattig war, weil die Sonne jetzt schon tiefer stand und es hier unter den Bäumen dunkel wurde. Das Wasser bildete einen feinen Schleier aus Wassertröpfchen, die dort, wo die Sonne auf sie fiel, in den Regenbogenfarben leuchteten. Während sie dies alles betrachtete, wurde der Wasserstrom dünner, das Rad drehte sich langsamer und blieb schließlich stehen. Sie ging näher an das Geländer heran und sah in die Dunkelheit hinunter, wo sich das Rad gedreht hatte.
Blumen schwammen auf dem Wasser. Jemand hatte blaue Blumen hineingeworfen, die sich in den Strudeln drehten, und die Strahlen der Sonne, die durch das Blätterdach fielen, ließen die Wasseroberfläche in Mustern aus Silber und Blau schimmern, Licht und Blumen, Wasser und Vergissmeinnicht. Das helle Licht wurde schwächer, als sich eine Wolke vor die Sonne schob, war das Wasser plötzlich durchsichtig, die gelb getönten Steine der Mauer waren im Wasser zu sehen und die Farnwedel wiegten sich unter der Oberfläche hin und her. Da war wieder ihr Spiegelbild, das von tief unten zu ihr heraufsah, tief unter dem Rad, im Schatten, in der Dunkelheit. Aber das Gesicht war ganz weiß, die Augen unbeweglich und starr und das Haar, das sich in der Strömung ausbreitete, war wie blasses Gold.
Sie erinnerte sich später nicht, wie sie aus dem Hof herausgekommen war. Sie erinnerte sich auch nicht, dass sie einen Radfahrer auf dem Weg angehalten hatte. Sie wusste nur noch, dass sie, mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt, auf dem trockenen, steinigen Boden saß, als die Leute an ihr vorbeirannten.
Lucy. Lucy im Wasser unter dem Rad, das sich drehte.