Читать книгу Crime Collection IV - Danuta Reah - Страница 20
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Als McCarthy sich am Donnerstagvormittag noch einmal Paul Lynmans Aussage durchlas, klingelte sein Telefon. Polly Andrews hatte Lynmans Angaben in den wesentlichsten Details offenbar bestätigt. Und ein Vorrat an Tabletten – fast pures Ecstasy, wenn die vorläufigen Laborergebnisse stimmten – war in der Carleton Road unter dem Dach gefunden worden. Aber Lynman war aus der Wohnung in der Carleton Road 14 weg und zu Polly Andrews gezogen, eine Tatsache, die die beiden zu erwähnen vergaßen. Doch die forensischen Spuren in dem Koffer und dem Plastikbeutel mit den Tabletten waren interessant. Emma Allans Fingerabdrücke wurden gefunden, was zu erwarten war, wenn Lynmans Bericht stimmte. Aber noch zwei andere Leute hatten Abdrücke auf diesen Beuteln hinterlassen. Sie gehörten nicht zu Personen, die mit Hilfe von Polizeiakten zu identifizieren waren, aber die Fingerabdrücke der einen waren identisch mit den anonymen Abdrücken, die man in Shepherd Wheel gefunden hatte. Sie mussten Lynman und Andrews noch einmal vorladen und sie ausquetschen.
Der Anruf war eine unwillkommene Unterbrechung. Er nahm ab. »McCarthy.«
Es war Anne Hays, die Pathologin. »Ich wollte mit Ihrem Chef sprechen, aber er ist in einer Besprechung«, sagte sie. »Ich dachte, ich sollte diese Sache nicht aufschieben. Ich habe weitere Blutuntersuchungen im Fall Allan gemacht. Die Proben vom Vater.« McCarthy brummte zustimmend. Diese Proben hatten schließlich nichts gebracht. Sie hatten keine Spuren von Dennis Allan in Shepherd Wheel gefunden. »Teilweise bin ich einfach einem Gefühl gefolgt …«
McCarthy fragte sich, ob das typisch für Pathologen war, dass sie nie zur Sache kamen. »Und?«
»Es geht hier nur um Blutgruppen, verstehen Sie. Die DNS-Analyse wird länger dauern – die ist jetzt im Labor.«
»Ja.« McCarthy begriff das.
»Also, Emmas Blutgruppe ist Null. Dennis Allans ist AB. Ich habe die Blutgruppe der Mutter in den Akten nachgesehen. Wir haben hier die Obduktion gemacht. Sie war A.«
»Und das heißt?« McCarthy glaubte zu wissen, was es bedeutete, aber er wollte es ausdrücklich von dieser Frau hören, die nie mit klaren Aussagen herausrückte.
»Es heißt, Inspektor«, sagte sie munter, »dass Dennis Allan nicht Emmas Vater ist.«
Eine halbe Stunde später saß Brooke, den McCarthy aus seiner Besprechung geholt hatte, zusammen mit Anne Hays und McCarthy selbst im Büro. Er putzte seine Brille, während er der Pathologin bei der Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse zuhörte. »Ich glaube, ich hatte das irgendwo im Hinterkopf«, sagte sie. »Wir haben Sandra Allans Obduktion erst vor zwei Monaten gemacht. Ich hatte einfach so ein Gefühl.«
»Steve?«
McCarthy hatte sich diese neue Information durch den Kopf gehen lassen und sie mit dem kombiniert, was sie schon wussten. »Zwischen Emma und ihrer Mutter gab es einen großen Streit, und danach einen zwischen Dennis Allan und seiner Frau. Etwas ist an dem Tag geschehen, das sie veranlasste, eine Überdosis Tabletten zu nehmen, eine entscheidende Überdosis. Nehmen wir mal an, er hätte es gerade erfahren. Nehmen wir an, Emma hätte herausgefunden, dass ihr Vater nicht ihr Vater war …« Er sah Brooke an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie sie es erfuhr. Aber wenn sie es erfahren hat, dann hatte sie einen ernsten Streit mit Sandra und ging von zu Hause weg. Es war so ernst, dass sie ihr Heim verließ und nicht zur Beerdigung ihrer Mutter kam.«
»Sie hat auch ihrem Vater nicht vergeben«, sagte Brooke.
»Sie war siebzehn.« Anne Hays hatte selbst eine siebzehnjährige Tochter. »Es ist ein Alter, in dem man leicht verurteilt, alles ist schwarz-weiß. Irren ist menschlich, aber vergeben ist nicht unsere Devise.«
Brooke machte ein sorgenvolles Gesicht. Seine eigene Tochter war fünfzehn. »Dann ist da noch das Problem mit Sophie Dutton. War sie Sandra Allans Kind?«
»DC Barraclough untersucht das«, sagte McCarthy.
Brooke nickte. »Geben Sie mir Bescheid, sobald sie etwas findet. Jedenfalls, Emma und ihre Eltern hatten einen massiven Streit. Sie ging nicht nach Hause zurück. Dann stritten sich Allan und seine Frau. Entweder er wusste es und war wütend, weil sie zuließ, dass die Tochter es erfuhr, oder er hatte es – bis dahin – nicht gewusst.« McCarthy dachte an Allans Verhalten beim Verhör. Er war feindselig gewesen und den Fragen ausgewichen. McCarthy war sicher, dass der Mann nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt hatte.
»Er schämte sich dessen, was er herausfand?«, schlug Brooke vor. »Er kam sich blöd vor, dass ihm das Kind eines anderen Mannes untergeschoben worden war?« Das war möglich. Aber es erklärte nicht die Tatsache, dass sowohl McCarthy als auch Brooke den Eindruck hatten, er habe Schuldgefühle, aber nicht, dass er sich schämte. »Gibt es irgendetwas, das ihn mit dem Mord in Verbindung bringt? Mit Shepherd Wheel?«
McCarthy schüttelte den Kopf. »Jede Menge nützlicher Spuren wurden in Shepherd Wheel gefunden – Fingerabdrücke, Haare, Stofffasern –, aber keine Hinweise auf Allan.«
»Was sagen wir also?«, fragte Brooke. »Wir sagen, er könnte seine Tochter getötet haben, weil sie nicht von ihm war? Hätte er da nicht eher seine Frau umgebracht?« Sandra Allans Tod war auf eine Überdosis Tabletten zurückzuführen, die sie genommen hatte, nachdem ihr Mann zur Arbeit gegangen war. Sie hatte die Tabletten erst von der Apotheke geholt, nachdem er weg war. Aber es hatte keinen Brief gegeben.
Wenn Dennis Allan das Mädchen ermordet hatte, das er für seine Tochter hielt, wie hing das mit Sophie Dutton zusammen? Sandra Allan hatte ein Kind gehabt, bevor Emma zur Welt kam. War Sophie Dutton Emmas Halbschwester? Und wenn ja, was hatte diese Beziehung mit ihrem Tod zu tun? Und was war mit den Drogengeschäften? Und mit Ashley Reid?
Diese Information war Grund genug, dass Brooke Dennis Allan zur Befragung bestellte und sich die Wohnung noch einmal ansah, diesmal auf der Suche nach Anhaltspunkten zu Allans Ehe. Barraclough saß an ihrem Schreibtisch und schaute zusammen mit dem Team Tüten voller Unterlagen durch, die aus der Wohnung gebracht worden waren. Sie hatte ein Fotoalbum vor sich und machte sich Notizen zu Namen und Daten, Freunden und Bekannten aus der frühen Zeit von Allans Karriere. »Sieh dir das mal an«, sagte sie zu Kerry McCauley, dem anderen Detective Constable in Corvins Gruppe. Sie betrachtete ein Foto mit Dennis Allan aus dem Jahr 1972. »Da kann man verstehen, was sie an ihm fand.« Ein junger Mann mit kastanienbraunen Locken, die ein attraktives, fast androgynes Gesicht umrahmten, der sich gegen den Kotflügel eines schnittigen Wagens lehnte. Es gab ein weiteres Bild des gleichen Mannes in einer Gruppe, die – mit allerlei Federn und psychedelischen Accessoires – eindeutig wie eine Rockgruppe aus den frühen Siebzigern aussah.
Corvin kam herüber, um einen Blick darauf zu werfen. »Er war im Musikgeschäft«, sagte Barraclough. »Er scheint einigen Erfolg gehabt zu haben – Sportwagen, schicke Klamotten.«
»Das ist nur ’n frisierter Cortina«, sagte Corvin. »Er war nicht so besonders erfolgreich. Damals war fast jeder in ’ner Rockband.«
Die meisten Fotos zeigten Allan mit irgendwelchen Musikern. Als sie die Seiten umblätterte, tauchten die gleichen Gesichter wieder auf: Dennis Allan mit einem Mann und einer Frau. Der Mann hatte lange Haare und einen Bart. Die Frau passte auch sehr gut in die Zeit, ihr kastanienbraunes Haar war in der Mitte gescheitelt und umrahmte das Gesicht wie ein Vorhang. Unter manchen Bildern standen Namen: VELVET, 1975; LINNET, DON G. ’76. Es gab ein Bild mit dem Trio auf der Bühne, die Männer mit Gitarren. Die Frau sang. Velvet. Barraclough erinnerte sich an das Foto, das sie in Emmas Zimmer gefunden hatte: …ELVET, 197… Das Foto, von dem Dennis Allan behauptet hatte, er kenne es nicht. Velvet. Es musste der Name einer Band sein. Don G.? Linnet? Spitznamen? Andere Band?
Es gab noch weitere Fotos: Allan mit einer adretten, eleganten Frau, die ziemlich streng aussah. Die Gesichtszüge glichen ihm – war dies Allans Mutter? Mehrere Fotos von Allan mit jungen Frauen in Miniröcken oder ausgestellten Jeans, alle mit langem, geradem Haar, viel Augen-Make-up und mit blassen Lippen. Soweit Barraclough es beurteilen konnte, tauchte eine Frau nie zwei Mal auf. Keine Spur von Sandra.
Sie blätterte die Seiten um. »Velvet« erschien periodisch wieder. Es gab keine Hinweise darauf, dass sie großen Erfolg hatten. Sie schienen in verschiedenen Gegenden des Landes gespielt zu haben: Leeds, Sommer 75, King’s Head, Barnsley, 75, Castleford, März 76. Die Besetzung schien sich manchmal zu ändern. 1976 tauchte eine andere Person auf den Fotos auf, jemand, der viel mehr wie ein Geschäftsmann, ein Unternehmer aussah, obwohl er sich im Hippiestil kleidete – so würde man es wohl nennen, nahm sie an. Hatte Velvet einen Manager gefunden? Dieser Mann war Pete, Peter. Gegen Ende 1977 war die Frau mit dem kastanienroten Haar nicht mehr auf den Fotos zu sehen. Barraclough schaute genau hin. Hier war zum ersten Mal ein schlankes, sehr hübsches Mädchen, dickes welliges Haar. Sie stand da und hatte ihre Arme um beide Männer gelegt: Sandra. Barraclough schaute auf die Schrift unter dem Bild, aber da stand nur Huttersfield 1977 .
Diesmal verlangte Dennis Allan einen Rechtsanwalt. Er erwies sich als zäher, als McCarthy erwartet hatte, war wortkarg, höflich und unnachgiebig. Hartnäckig behauptete er, nichts über den Tod seiner Tochter zu wissen. »Ich hatte Emma gern, Inspektor«, sagte er und wickelte ein abgerissenes Gummiband um seine Finger. Er zuckte zusammen, als McCarthy ihn nach seiner Vaterschaft fragte. Er errötete, und auch die Augenlider wurden rot. »Ich wusste es nicht«, sagte er. »Ich … deswegen hatten wir Streit. Emma wusste es. Ich weiß nicht, woher, aber sie wusste es, und damals warf sie es Sandy vor. Ich kam dazu. Sie sagte es mir, einfach so.« Er sah McCarthy um Verständnis bittend an. »Ich wollte nicht, dass es herauskam«, sagte er. »Nicht jetzt, wo sie tot sind, jetzt, wo Emma tot ist und Sandy auch.«
McCarthy bedrängte ihn, er wollte wissen, wann und wie Emma zu ihrem Wissen gekommen war, aber Allan schüttelte den Kopf. »Sandy behauptete, dass niemand es wusste.« Aber jemand musste es gewusst haben und hatte es anscheinend Emma erzählt. Auf Anraten seines Anwalts sagte Allan nichts mehr. »Mein Klient hat erklärt, warum er dies bei der früheren Aussage verschwiegen hat«, mischte sich der Anwalt ein. »Ich glaube, jedermann würde diese Erklärung vernünftig finden, Inspektor McCarthy.« Genauso weigerte sich Allan auch, etwas über Sandra zu sagen, nur behauptete er wieder, er wisse nichts von einem früheren Kind. McCarthy war damit nicht zufrieden, aber er beschloss, es jetzt erst mal dabei zu belassen.
Allan konnte ihm nicht viel über die Leute auf den Fotos sagen. Er bestand darauf, ihre Namen nicht zu kennen. »Sie waren etwa drei Jahre in einer Band mit ihnen, Mr. Allan, und ich soll Ihnen abnehmen, dass Sie sich nicht an ihre Namen erinnern können?« McCarthy wartete.
»Ich erinnere mich nicht«, beharrte Allan. »Es war vor fünfundzwanzig Jahren. Ich habe eine Band gegründet, ich hatte bei ziemlich vielen Auftritten gespielt. Dann habe ich mit ein paar Musikern, die ich kannte, Velvet gegründet. Wir hatten nicht viele Engagements. Es waren auch nicht immer dieselben Leute.« Er sah auf das Foto, unter dem die Namen standen. »Das war Linnet«, sagte er und zeigte auf die Frau. Er sah McCarthys Blick. »Ich glaube, sie hieß Lyn, sie sang, damals hieß sie Linnet. Warum nicht? So war das in den Siebzigern. Alle hatten andere Namen.« Mit dem ersten Anflug von Humor, den McCarthy an ihm erlebt hatte, fügte er hinzu: »Wir hatten einen Sänger, der sich Gandalf nannte.« Als McCarthy ihn nach dem Mann fragte, schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Er war einfach Don G.«
Er lachte ziemlich bitter, als McCarthy ihn nach dem elegant gekleideten Mann, Pete, fragte, der auf den Fotos von 1976 auftauchte. »Das war unser Manager, unser so genannter Manager«, sagte er. »Peter Greenhead.« Allan hatte offenbar kein Problem, sich an diesen Namen zu erinnern. »Es war von Anfang bis Ende Beschiss.« Greenhead hatte weniger als ein Jahr mit der Band zusammengearbeitet. Danach besaß er die Rechte für einige Songs, die sie geschrieben hatten, kündigte ihren Vertrag und nahm ihre Sängerin mit. Kurz danach war Allan gegangen. Er wusste nicht, was aus den anderen geworden war.
McCarthy dachte mit ausdruckslosem Gesicht nach. Von dem Foto in Emmas Zimmer abgesehen, schien Velvet eine Sackgasse zu sein. WAS HÄLTST DU DAVON? Aber das hatte wahrscheinlich mit Sandra zu tun. McCarthy beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Der Mann war zu ruhig, zu gefasst. Er brauchte etwas Zeit zum Brüten, ein bisschen Druck, ein bisschen Stress.
McCarthy dachte erst am Spätvormittag – nachdem Dennis Allan gegangen war und versprochen hatte, sich bereitzuhalten, falls er gebraucht würde – wieder an sein Vorhaben, Suzanne Milners Akten einzusehen – wenn es welche gab. »Ich fahre nirgendwo hin«, sagte Allan. Als McCarthy sich an sein Vorhaben erinnerte, fragte er sich, ob es sich lohnte, darauf Zeit zu verwenden. Es schien ein langer, strapaziöser Tag zu werden. Er überlegte, ob er die Gelegenheit haben würde, gleich nach Dienstschluss zu gehen. Es war ein schöner, sonniger Nachmittag. Die Aussicht auf Zuhause war nicht besonders verlockend – dort war es im Moment fast wie in einer Außenstelle seines Büros. Eine abendliche Fahrt ins ländliche Derbyshire und ein Spaziergang auf den friedlichen Höhen lockten ihn eher.
Der Name Milner war selten. Die Suche würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. McCarthy loggte sich in das Suchsystem ein. Wie weit zurück sollte er also gehen? Es fiel ihm ein, dass er nicht wusste, wie alt sie war. Er suchte in seinen Notizen und rechnete nach. Dreißig. Offensichtlich mittlerweile eine respektable Bürgerin. Sie behauptete, ihr ganzes Leben in Sheffield gewohnt zu haben. Okay. Er beschloss, zehn Jahre zurückzugehen, gab seine Frage in den Computer ein, dachte an die Komplikationen mit den Mädchennamen verheirateter Frauen und sah in seinen Notizen nach. Richtig, sie trug ihren Mädchennamen, Milner. Ihr Name nach der Heirat war Harrison gewesen. Er ließ die Suche unter beiden Namen laufen, aber er hatte das Gefühl, dass es hier um etwas aus ihrer Jugend ging. Es würde helfen, das zu erklären, was McCarthy als zwanghaftes Interesse an jugendlichen Straftätern empfand.
In den Unterlagen von Suzanne Elizabeth Milner war nichts zu finden. Aber Milner war ein ziemlich ungewöhnlicher Name. Es gab sehr wenige Milners, die sich genauso schrieben. Ein paar Minuten auf die Recherche zu verwenden, das würde sich lohnen. Er wählte mehrere Details aus den Daten aus, die sich ihm boten, und war schließlich auf der Suche nach Informationen über einen gewissen Adam Michael Milner. Michael – Suzannes Sohn hieß so. Zufall? McCarthy rief die ganze Datei auf. Vor etwa zehn Jahren hatte Adam Milner auf eigene Faust eine ganze Serie von Delikten begangen, es hatte mit Ladendiebstahl und Sachbeschädigung angefangen, die ersten Delikte verübte er mit zehn Jahren, dann stieg er zu Autodiebstahl und Einbruch auf.
McCarthys Augen flogen über die Seite. Da war es! Nächste Verwandte: Suzanne Elizabeth Milner, Schwester. Da er jetzt neugierig geworden war, ließ er sich die Akte von unten aus dem Archiv holen und erledigte in der Zwischenzeit einigen bürokratischen Papierkram. Als die Akte kam, sie war ziemlich dick für jemanden, der – McCarthy rechnete schnell nach – jetzt gerade mal zwanzig Jahre alt war, nahm er sie und informierte sich über alles, was er noch nicht wusste. Adam Milner hatte mit seinen Taten vielen Leuten Kopfzerbrechen bereitet, aber zwischen den Zeilen, hatte McCarthy den Eindruck, wirkte dieser Junge eher wie einer, der immer den Kürzeren zog. Er verkehrte in einer ziemlich berüchtigten Clique. McCarthy kannte einige der Namen. Milner war der Jüngste und immer derjenige, der erwischt wurde, immer derjenige, der den Kopf hinhalten musste. Wurde zum Beispiel gemeldet, dass Jugendliche Steine auf Autos warfen, kam der Streifenwagen hin, und man fand nur Adam Milner. Oder jemand rief an, Kinder hätten in einem Laden etwas gestohlen. Adam Milner wurde bei der wilden Flucht zurückgelassen. McCarthy blätterte die Seiten durch und rechnete nach.
Er hatte also Recht gehabt. Sie hatte traumatische Erfahrungen mit der Polizei gemacht, und zwar zu einer Zeit, als sie noch sehr jung war. Er sah auf das Datum und runzelte die Stirn. Sie hatte offenbar damals die alleinige Verantwortung für den Jungen gehabt, und als er zum ersten Mal der Polizei auffiel, konnte sie selbst nur etwa neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen sein. Er verstand, wieso sie der Polizei damals vielleicht die Schuld gab – so wie man den Überbringer schlechter Nachrichten bestraft –, aber wieso die Feindseligkeit, die er jetzt zu spüren glaubte? Oder mochte sie nur ihn nicht?
Was war mit Adam Milner geschehen? Nach dieser Vergangenheit saß er wahrscheinlich irgendwo hinter Schloss und Riegel. Er hatte keine Lust, sich durch die ganze Akte durchzuarbeiten, sondern suchte nach den Namen der Kollegen, die mit ihm zu tun gehabt hatten. Es war möglich, dass … ja! Er kannte jemanden von ihnen, genauer gesagt Alicia Hamilton. Er sah auf die Uhr. Wie wahrscheinlich war es, dass er Hamilton noch erwischte? Er nahm den Hörer.
Und hatte Glück. Sie wollte gerade zum Mittagessen gehen, und da sie alle sich des knappen Zeitplans bewusst waren, war sie vielleicht nicht gerade begeistert, aber doch bereit, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen und ihm die fehlende Information zu geben. »Gibt es da einen Zusammenhang mit der Dame vom See?«, fragte sie, als er ihr erklärte, was er wollte.
»Unwahrscheinlich«, sagte McCarthy und erläuterte die Verbindung zu Suzanne Milner, die er gerade entdeckt hatte.
»Der Name kam mir doch gleich so bekannt vor. Natürlich, Suzanne Milner, Adams Schwester.« Sie hielt inne, als vergegenwärtige sie sich die Einzelheiten, dann sprach sie weiter: »Okay, die Milners. Vater und zwei Kinder – die Mutter hatte MS, starb zwei Jahre, nachdem der Junge geboren wurde. Der Vater schien die Verantwortung für den Sohn weitgehend abgegeben zu haben, soweit ich es beurteilen konnte. Die Sozialarbeiterin, ich kann mich jetzt nicht erinnern, wer es war, aber ich kann es herausfinden, wenn Sie möchten…«
»Ich melde mich wieder, wenn das nötig ist. Im Moment brauche ich nur die grundlegenden Informationen.«
»Okay. Also die Sozialarbeiterin sagte, dass der Vater es seiner Tochter, also Suzanne, überließ, den Kleinen aufzuziehen. Es war keine gute Situation, aber sie fanden, man konnte nicht viel machen. Indirekt bekam ich den Eindruck, dass sie den Vater nicht tadelten, aber Sie wissen ja, wie so etwas läuft.« McCarthy wusste es nicht, aber er nahm an, dass es sowieso nur eine rhetorische Anmerkung war. »Jedenfalls fing der Junge an, Schwierigkeiten zu bekommen – na ja, all das haben Sie ja gesehen, und Suzanne versuchte, alles wieder in Ordnung zu bringen…« McCarthy hörte sich die ganze Geschichte an. Der Junge war eindeutig unreif, gestört und sehr abhängig von seiner Schwester.
»Er spielte den starken Mann«, fuhr Hamilton fort, »was er aber nicht war. Ich glaube, er war dabei sich zu bessern, aber dann passierte einfach eines dieser dummen Dinge, die eben vorkommen, als er und seine Kumpel in ein Lager einbrachen. Süßigkeiten, stellen Sie sich vor. Und der Wachtposten bekam einen Schlag ab, fiel hin, hatte einen Schädelbruch. Nein«, sagte sie als Reaktion auf McCarthys schnelles Nachfragen, »nein, es war nicht Adam Milner, der ihn geschlagen hatte, und der Mann erholte sich wieder. Aber die Clique hatte jetzt eine schwere Anklage am Hals. Milner lief von zu Hause weg und versteckte sich. Aber natürlich wusste die Schwester, wo er war. Ich habe sie überredet, es uns zu sagen. Sonst konnte sie nichts tun. Na ja, er bekam eine Freiheitsstrafe. Im Gericht brach er zusammen, rief nach seiner Schwester, schlug um sich, das ganze Programm. Sie war damals schon verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Jedenfalls wurde er weggeschickt nach …« McCarthy kannte die Institution, eine Gruppe von baufälligen alten Gebäuden, am Anfang eine gute und effiziente Einrichtung mit einem toleranten Programm, das sich mit den dort untergebrachten, sensiblen Jugendlichen beschäftigte. Aber das zerfiel – wie so vieles – unter dem Druck der immer weiter anwachsenden Insassenzahlen, und die Einrichtung verkam zu nichts weiter als einer Anstalt zur Sicherheitsverwahrung.
»Sie wissen ja, wie so etwas läuft«, fuhr Hamilton fort. »Er ging am Morgen von zu Hause weg, wurde am Nachmittag verurteilt, die Begleiter besorgten ihm nichts zu essen, er kam etwa gegen acht Uhr abends dort an, durchlief das Aufnahmeverfahren und wurde in der Wohneinheit mit den anderen zusammengesperrt. Sie kannten ihn genauso wenig wie er sie. Man kann es sich ungefähr vorstellen. Er hatte Angst, Hunger, war meilenweit von zu Hause weg, und Schikanen und Drohungen gehören eben in solchen Einrichtungen dazu, lassen wir uns da nichts vormachen.«
Nach sechs Tagen im Gefängnis, kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag, hatte Adam Milner sein Betttuch zu einem Strick zusammengeknotet und sich in der Dusche erhängt. Es gab eine interne Untersuchung, deren Ergebnisse vertraulich blieben. Jemand bekam wegen eines geringfügigen Verstoßes eine Ermahnung und neue Maßnahmen wurden empfohlen. »Das war’s«, sagte Hamilton. »Das kurze Leben des Adam Milner.« Kurz und bündig. »Wie geht es Suzanne? Ich habe versucht, die Sache weiterzuverfolgen, aber sie wollte nichts mit mir zu tun haben. Das war verständlich. Der Vater starb kurz danach an einem Herzanfall. Das brachte ihm sehr viel Mitgefühl ein. Nicht von mir, kann ich nur sagen. Ich meine, warum gerade dann anfangen, für seine Kinder da zu sein, wenn man es in der Vergangenheit mit viel Erfolg geschafft hat, nicht für sie zu sorgen. Ich hörte, dass Suzanne einen Jungen hat. Ich hoffe, dass es für sie später gut gegangen ist.«
McCarthy murmelte etwas, mit dem er sich nicht festlegte. Nach dem, was er gesehen hatte, war es überhaupt nicht gut weitergegangen. Seine Gedanken schalteten auf den Modus völliger Abschottung um, der ihn durch alles hindurchtrug: Tatortszenen, Verhöre, Obduktionen. Ich berühre nichts und nichts kommt an mich heran . Er dankte Hamilton, und nachdem er versprochen hatte, ihr auch einmal einen Gefallen zu tun, legte er auf. Er betrachtete das Foto von Adam Milner. Einer dieser Jungen mit einem frischen Gesicht, der sich noch nicht einmal rasierte. Lockiges Haar. Um Augen und Mund eine Ähnlichkeit mit Suzanne. Ein recht angenehmes Lächeln. McCarthy presste die Finger gegen die geschlossenen Augen. Quis custodiet ipsos custodes? Oder so etwas Ähnliches.
Okay, das erklärte einiges.
Lucy saß allein auf dem Schulhof und packte ihre Schultasche aus. Sie nahm ihre Schachtel mit den Pausenbroten und ihre Trinkflasche heraus und betrachtete die Brote, die ihre Mutter für sie gemacht hatte. Das Brot sah frisch und krümelig aus, darauf war Ei mit kleinen grünen Petersiliestückchen. Es waren ihre Lieblingsbrote, und sie hatte extra danach verlangt, aber jetzt hatte sie keinen Hunger.
Mit Kirsten sprach sie nicht. Sie sprach mit überhaupt niemandem. Kirsten hatte etwas hinter ihr hergerufen, hatte etwas Schreckliches über Sophie gesagt. »Meine Mum sagt, dass Lucy Fieldings Babysitter …« Kirsten würde nicht noch einmal etwas über Sophie sagen, jedenfalls nicht da, wo Lucy es hören konnte. Lucy hatte ruhig abgewartet, bis Kirsten mutig wurde, bis Kirsten kam und Lucy frech ansah, bis Kirsten dachte, sie hätte gewonnen. Dann stieß Lucy ihre geballten Fäuste direkt in Kirstens Bauch, so fest sie konnte, und Kirsten hatte puuh gemacht und war umgefallen. Miss Boyden war böse, aber sie war auch böse auf Kirsten, genauso wie auf Lucy, das war also in Ordnung.
Aber sie spürte immer noch den komischen Schmerz mitten in der Brust. Mum sagte, Sophie sei tot, genauso wie Emma. Lucy hatte gemeint, dass ihre Mum sich irrte. Ihre Mum war oft durcheinander. Sie beschäftigte sich mit ihren Zeichnungen und dabei hörte sie nicht richtig zu . Aber jetzt wusste Lucy, dass ihre Mum Recht hatte.
Das Monster war in der Bücherei gewesen, bei den geheimen Regalen. Sie hatte geglaubt, sie kenne alle Orte, zu denen die Monster gingen. Sophie hatte es ihr gesagt. Aber Sophie konnte es ihr jetzt nicht mehr sagen. Und Emma konnte es ihr auch nicht mehr sagen. Und die Monster waren aus dem Park herausgekommen. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen. Und Tamby würde vorsichtig sein müssen. Sei vorsichtig , flüsterte sie.
Sehr, sehr vorsichtig , beruhigte er sie.
Suzanne sah in ihrem Kalender nach. Sie war nervös, und bei dem Gedanken an das, was sie vorhatte, spürte sie die Spannung im Magen. Sie hatte die Karte für Richard, er würde sich also ihr gegenüber verpflichtet fühlen. Aber sie zweifelte, ob das ausreichte, dass er auch mit ihr sprechen und ihr sagen würde, was sie wissen wollte. Es gab eine bessere Methode. Sie wusste, an welchen Tagen er an der Universität war, das heißt, wann er nicht im Alpha-Centre sein würde. Und heute war einer dieser Tage. Sie ging zu ihrem Bücherregal, um Offending Behaviour herauszunehmen, die Bibel der Bewährungshelfer, die er ihr vor zwei Wochen geliehen hatte. Sie konnte sie zuerst nicht finden, dann fiel ihr ein, dass sie bei den Büchern war, die sie noch nicht auf das Regal zurückgestellt hatte, die Bücher, die auf ihrem Schreibtisch aufgestapelt waren. Sie steckte das Buch in ihre Tasche, und dabei fiel ihr ein, dass sie Ashleys Tonband darin hatte. Sie nahm sich noch zehn Minuten Zeit, um die Papiere und Kassetten zu ordnen, die schon wieder alle unordentlich auf dem ganzen Schreibtisch verstreut lagen. Also – sie war ins Alpha gekommen, um Richard zu sehen und ihm sein Buch zurückzugeben, außerdem, falls sie es verwechselt hatte und er zufällig doch da war, um ihm die alte Karte von Beighton zu bringen, und dann ging es mit Plan B weiter. Plan A würde erfordern, dass sie sich zehn Minuten allein in Richards Büro aufhalten konnte.
Die Straße war so zugeparkt, dass sie nur mit Schwierigkeiten das Auto aus dem Parkplatz herausmanövrieren konnte, und sie war schon angespannt und nervös, bevor es überhaupt losging. Als sie zum Alpha-Centre kam, war ihre Kehle trocken und ihr Rücken feucht von Schweiß. Das große Steingebäude, in dem das Zentrum untergebracht war, lag in einem Vorort mit viel Grün, ein Stück von der Straße zurückgesetzt. Die breite, von Bäumen gesäumte Straße machte einen Bogen von fast edwardianischer Eleganz, aber der erste Eindruck von gutbürgerlichem Wohlstand wurde durch Anzeichen von Verfall und Vernachlässigung zunichte gemacht. Auf dem Gehweg lag Abfall. Die Gärten waren zugewachsen und ungepflegt, die Fenster der Häuser dunkel und leer, oder es hingen schadhafte, schmutzige Vorhänge davor. An der Haustür waren mehrere Klingeln. Für das Alpha war kein Schild angebracht, denn das Zentrum sollte anonym bleiben. Es gab immer noch so viele private Wohnhäuser hier, dass die Bewohner dieser Gegend gegen ein Zentrum für junge Straftäter Front machen könnten, besonders, da es sich um junge Straftäter handelte, die in der Vergangenheit durch Gewalttätigkeit und Drogenmissbrauch aufgefallen waren.
Suzanne parkte den Wagen und ging auf das Gebäude zu, das ihr schon so vertraut geworden war, dass sie sich wie zu Hause gefühlt hatte. Sie sah, dass die Graffiti immer noch die Haustür verunzierten: Lees Tag, LB in grellen Blau- und Rottönen, reich verziert, ziemlich kunstvoll. Gröbere Zeichen waren darüber geschmiert, weiße Kringel und Kleckse, die man kaum auseinander halten konnte. Unterschiedliche Gefühle beunruhigten sie, als sie da vor dem Haus stand: Zorn, Schuldgefühle, Angst. Sie war hier, um etwas über Ashley herauszukriegen, um einen Weg zu Ashley zu finden. Das war das Wichtigste. Sie klingelte, und nach einem Moment öffnete Hannah, eine Mitarbeiterin des Zentrums. Sie wirkte überrascht und etwas argwöhnisch, als sie Suzanne sah. Suzanne lächelte, und es kam ihr vor, als habe sie verlernt, wie man das macht, als seien ihre Gesichtsmuskeln zu dieser natürlichen Bewegung nicht mehr fähig. »Hallo, Suzanne?«, sagte Hannah.
Sie würde Suzanne also nicht ohne triftigen Grund hineinlassen. »Ich bin gekommen, um Richard zu sehen.« Es war demütigend. Sie fühlte sich wie eine Angestellte, die gefeuert wurde und dann einen freundlichen Besuch an ihrem früheren Arbeitsplatz machte.
»Erwartet er Sie?« Suzanne sank der Mut. Es hörte sich an, als sei Richard doch da.
»Nein«, sagte Suzanne, »ich habe nur ein paar Sachen, die ich ihm bringen wollte.«
»Sie können sie mir geben. Ich sorge dafür, dass er sie bekommt.«
Hannah klang recht freundlich, und Suzanne unterdrückte ihren Ärger. »Ich muss ihn selbst sprechen. Ist er da?« Sie musste es herausfinden. Und wenn er nicht da war, musste sie es durch diese Tür und in sein Büro schaffen.
»Nein. Heute ist sein Uni-Tag.« Obwohl Hannah freundlich klang, stand sie unnachgiebig in der Tür. Als wäre ich ein Einbrecher .
»Das ist aber ungeschickt. Er hat außerdem ein Buch von mir, das ich mitnehmen muss. Wenn ich vielleicht einfach…«
»Ich werd’s ihm sagen«, unterbrach sie Hannah. »Wenn Sie mir sagen, welches es ist.«
Zum Teufel damit . Sie würde doch nicht hier an der Tür stehen und sich mit Hannah streiten. »Wer ist sonst noch da? Ich muss mit irgendjemandem sprechen«, sagte sie und drückte sich an Hannah vorbei, die zögernd zur Seite trat, um sie durchgehen zu lassen. Neil erschien einen Stock tiefer an der Tür seines Büros. »Hi, Neil«, sagte sie und versuchte, ganz normal und nett zu klingen. »Ich brauche das Buch, das ich Richard geliehen habe. Und ich habe ihm einige Sachen gebracht.«
»Er ist nicht hier.« Neil machte sich nicht die Mühe, freundlich zu sein.
»Ja, Hannah hat es mir gesagt, aber ich brauche das Buch heute. Außerdem habe ich das hier mitgebracht.« Sie hob den Hefter hoch, den sie trug, und klemmte ihn dann wieder unter den Arm. »Ich glaube, Richard hat das Buch auf dem Regal stehen.« Das war schlau, denn die Regale in Richards Zimmer waren voll mit Büchern, und es würde eine gründliche Suchaktion erforderlich machen, um herauszufinden, dass es nicht da war.
Neil schien die Möglichkeiten abzuwägen. Sie hätte am liebsten gesagt: Weshalb sorgst du dich denn? Du hast gewonnen. Nur stimmte das nicht. Noch nicht. »Okay«, sagte Neil, »ich geh mit dir hoch.« Suzanne hatte gehofft, dass sie allein sein würde, aber sie lächelte liebenswürdig.
»Danke. Entschuldige, dass ich deine Zeit in Anspruch nehme, aber ich habe einen Tutorenkurs …« Das war ein Fehler. Die Vorlesungszeit war vorbei. Es gab keine Tutorenkurse. Er bemerkte es nicht, sondern führte sie die Treppe hinauf und durch die gewundenen Gänge des Alpha-Gebäudes. Suzanne bemerkte, dass er einen Umweg nahm, der das Café und das Billardzimmer umging. Offensichtlich wollte er nicht, dass sie mit den Jungs sprach. Sie wurde wütend und das half ihr, sich auf das zu konzentrieren, was sie geplant hatte. Sie brauchte keine Schuldgefühle zu haben, wenn man sie so behandelte.
Neil schloss die Tür zu Richards Büro auf und wartete, während sie den Hefter auf seinen Schreibtisch legte. Sie nahm einen Zettel, schrieb eine Mitteilung darauf und spürte dabei, dass Neil sich im Raum umsah. Keine Papiere auf dem Schreibtisch, die Aktenschränke abgeschlossen, nichts lag herum, das sie nicht sehen sollte. Mit gerunzelter Stirn begann sie, in den Regalen zu suchen. »Er hat so viele Bücher…«, sagte sie.
Neil zeigte erste Anzeichen von Ungeduld. Sie suchte weiter, legte den Kopf in den Nacken und ging langsam am Regal entlang, um zu zeigen, dass sie immer noch bei der oberen Reihe war. »Ich hole Hannah«, sagte Neil. »Ich habe eine Sitzung mit einer Gruppe.«
»Okay.« Suzanne ließ ihre Stimme zerstreut klingen, aber ihr Herz fing an, heftig zu klopfen. Neil drehte sich um und war schon im Weggehen, wandte sich dann noch einmal zurück und sagte: »Hannah wird gleich oben sein.«
»Okay«, sagte Suzanne noch einmal, und dann war er gegangen. Sie horchte auf seine Schritte, als er den Korridor entlangeilte. Es musste schnell gehen. Richard hatte die Schlüssel zu seinem Aktenschrank im oberen Fach des Schreibtischs. Sie sah nach. Da lagen fünf kleine, silbern glänzende Schlüssel für Aktenschränke. Er hob offensichtlich alte Schlüssel auf. Es gab nur einen Schrank. Sie nahm sie, ließ einen aus Nervosität fallen, hob ihn auf und probierte ihn im Schloss. Der war es nicht. Sie versuchte es mit dem Nächsten. Ihre Hände zitterten, und es war schwierig, den Schlüssel ins Loch zu kriegen. Beruhige dich! Der nicht . Der Nächste . Keiner funktionierte. Sie sah wieder zum Schreibtisch. Da – ganz hinten im Fach war noch ein Paar Schlüssel an einem Schlüsselring. Sie warf die Schlüssel in die Schublade zurück und probierte die anderen. Sie lauschte, Stille. Kein Laut von jemandem, der den Korridor entlang kam.
Der Schlüssel drehte sich, und die Schublade am Schrank war offen. Was wollte sie? In der oberen Schublade waren Akten mit Vermerken wie Korrespondenz, Konferenzen, Gehälter . Sie schob die Schublade zu und machte mit der Nächsten weiter. Hier! Ordner zu einzelnen Fällen. Andrews, Arnold, Begum , Booth … Sie sah sie schnell durch. Reid . Sie hätte gern die ganze Akte aus der Schublade gezogen, in der Hoffnung, dass sie nicht vermisst würde, hätte sie gern nach Hause mitgenommen, aber sie wusste, dass das nicht ging. Sie blätterte sie durch. Anklagen, Verurteilungen, Berichte, Angaben zur Person . Keine Zeit, es zu lesen. Sie schaute auf das Blatt mit den Angaben zur Person. Geburtsdatum, Adresse – sie fing an, sich auf einem Zettel Notizen zu machen. Ashleys Adresse war ein Wohnheim – dort würde er nicht sein. Früher? Green Park, ein Hochhaus in der Nähe der Stadtmitte. Aber Green Park sollte doch abgerissen werden. Sie horchte. Es war immer noch still draußen. Was war mit Hannah? Adresse, schnell . Sie schickte ein rasches Dankgebet gen Himmel, wer immer es dort hören mochte, dass sie im College Stenographie gelernt hatte. Seine Schule. Schnell überflog sie die Blätter, um das Wesentliche aus Ashleys Leben zu erfassen, die Dinge, die sie nicht wusste. Aber das würde nicht ausreichen. Er würde an keinem der Orte sein, die in dieser Akte verzeichnet waren, sonst hätte McCarthy ihn schon gefunden.
Mit der Hand an der Schublade wartete sie einen Moment. Es war immer noch still im Gang. Sie steckte Ashleys Akte an ihren Platz zurück. Lee. Wenn sie es richtig einschätzte, waren Ashley und Lee Freunde. Vielleicht hatte er mit Ashley Kontakt gehalten. Ashley hatte darüber gesprochen, dass man sich in der Wohnung getroffen hatte, bei der Garage mit Lees Namen dran … Ob das wohl in der Nähe war, wo Lee wohnte? Lees Akte. Wie hieß Lee mit Nachnamen? Denk nach . Bradley! Es war Bradley. Sie hörte im Korridor eine Tür aufgehen. Hannah! Ihre Finger liefen an den Akten entlang – Bradley – und blätterten hektisch in Lees Akte. Da war es. Angaben zur Person . Sie sah die Adresse nach, gab der Schublade einen Schubs, drehte den Schlüssel um und riss ihn aus dem Schloss, als Hannah durch die Tür trat.
Das Fach war noch herausgezogen. Sie stellte sich vor Richards Schreibtisch. »Ich suche immer noch«, sagte sie über die Schulter hinweg. Ihre Stimme klang seltsam, fand sie. Sie ließ die Schlüssel in das Fach zurückgleiten und schob es unauffällig zu, indem sie näher an den Schreibtisch trat. »Ich glaube fast, es ist überhaupt nicht hier.« Sie sah Hannah an. »Mir ist gerade eingefallen, dass Sie sagten, Richard ist in der Universität?«
Hannah nickte. »Ja.«
»Er weiß, dass ich das Buch brauche, vielleicht hat er es im Seminar hinterlegt. Vielleicht sollte ich dort nachsehen. Jedenfalls lasse ich diese Sachen für ihn hier.« Dabei klopfte sie auf den Ordner auf dem Schreibtisch. Sie fragte sich, was Richard sagen würde, wenn Hannah oder Neil ihm von dem Buch erzählten, das sie gesucht hatte. Sie hatte Richard nie ein Buch geliehen und hoffte nur, dass ihnen nicht aufgehen würde, was sie getan hatte.
Hannah räusperte sich und sagte ziemlich verlegen: »Neil hat gesagt, ich sollte dafür sorgen, dass Sie alles, was Ihnen gehört, mitnehmen.«
Sie begleitete Suzanne hinaus. Als Suzanne triumphierend, dass ihr der Coup gelungen war, aber auch sich ihrer List schämend auf ihren Wagen zuging, sah sie Richards Range Rover auf den Parkplatz fahren. Mist! Oder vielleicht war es ganz gut so. Sie wartete und sah zu, wie er seinen langen Körper aus dem Auto herauswand. Er sah sie und schien verlegen und zögernd. »Oh, hi, Sue.«
»Hi. Ich hab gerade ein paar Sachen für Sie gebracht. Sie liegen auf Ihrem Schreibtisch.« Sie holte tief Luft. Am besten dem Angriff zuvorkommen . »Ich sollte Ihnen wohl sagen, ich hab so getan, als hätte ich ein Buch gesucht, das ich Ihnen geliehen hatte. Hannah und Neil wollten mich nicht reinlassen, und ich war ziemlich sauer. Ich wollte mich nicht wie eine Kriminelle behandeln lassen.«
Richard sah mitgenommen aus. »Na ja, im Grunde ist Ihre Befugnis …« Er ging schlurfend ein paar Schritte. »Neil nimmt alles zu genau«, sagte er.
»Gibt’s was Neues von Ashley?« Sie sah ihn an. Er schüttelte den Kopf. »Also –« sie gab ihm die Hand – »ich gehe dann. Ich sehe Sie vielleicht in ein paar Wochen. Wiedersehen.« Sie wandte sich um und ging zu ihrem Wagen. Sie freute sich, dass ihm das Ganze unangenehm zu sein schien. Er würde sich noch ein ganzes Stück mieser vorkommen, wenn er die alte Karte von Beighton fand, die sie auf seinem Schreibtisch zurückgelassen hatte.