Читать книгу Crime Collection IV - Danuta Reah - Страница 16
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Steve McCarthy war seit einer Stunde zu Hause. Er war um halb neun heimgekommen und hatte sich sofort an den Computer gesetzt, um sich ins Internet einzuloggen. Von jetzt ab würde es jeden Abend so sein, bis der Fall abgeschlossen war. Immer mehr neue Informationen kamen herein, mehr Einzelheiten, unter denen oft wichtige Details waren, und er hatte vor, immer auf dem Laufenden zu sein.
McCarthy war ehrgeizig. Nach seinem Schulabschluss war er zur Polizei gegangen, statt zu studieren. Er war sich noch immer nicht sicher, ob das eine kluge Entscheidung gewesen war. Er war gut vorangekommen, wurde früh befördert, manchmal schneller, als es seinen Erwartungen entsprach, und er wusste, dass er als ein Mitglied der Mannschaft mit viel versprechender Zukunft angesehen wurde. Er war zweiunddreißig, und der nächste Schritt auf der Karriereleiter war der wichtigste.
Er arbeitete jetzt in der aktuellen Datenbank und ließ den Computer überprüfen, ob er bei anderen Delikten der letzten Monate in der Gegend um Sheffield bestimmte Muster entdecken konnte. Er gab einen weiteren Befehl ein und ließ die Ergebnisse bei Drogendelikten dazu in Beziehung setzen. Während er wartete, stocherte er mit der Gabel in dem Essen herum, das er auf dem Weg nach Hause vom chinesischen Schnellimbiss mitgenommen hatte. Kalt. Er sah auf den Styroporteller hinunter. Sein Chicken Cho Mein hatte sich in eine graue, klebrige Masse verwandelt. Er schob es ungeduldig weg. Er konnte sich später etwas aus der Tiefkühltruhe holen und es in die Mikrowelle stecken. Resigniert griff er zu dem Becher mit Kaffee, der ebenfalls kalt war. Ohne Kaffee konnte er nicht arbeiten. Er ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein.
Die moderne Wohnung hatte zwei Schlafzimmer. McCarthy hatte sie gekauft, weil sie schon eingerichtet war, sehr praktisch, so dass er sofort einziehen konnte. Er hatte einmal jemanden sagen hören oder irgendwo gelesen, eine Wohnung sei eine Maschine zum Wohnen. McCarthy verstand das. Die Wohnung sollte für ihn zur Verfügung stehen. Er wollte sie betreten und geheizt vorfinden, wenn es kalt war, und sie sollte kühl sein, wenn es draußen heiß war. Er wollte auf Knopfdruck kochen können und mit dem Umlegen des Schalters Wäsche waschen. Er wollte jede Art von Unordnung, die das Wohnen verursachte, wieder in Ordnung gebracht haben, bevor er zurückkehrte.
»Ach Gott, McCarthy«, hatte Lynne, seine letzte Freundin, gesagt, »warum schließt du dich abends nicht einfach in einen Schrank ein?« Ein andermal hatte sie gesagt: »Was du brauchst, McCarthy, ist eine Ehefrau. Eine automatische, wiederaufladbare, superturbo-betriebene Ehefrau mit Treibstoffeinspritzung.« Er hatte gelacht und angefangen, ihr den Rücken zu massieren und mit den Händen über Rücken und Schultern zu streichen, so wie sie es mochte, weil er sich dadurch einer ihrer scharfen Auseinandersetzungen entziehen konnte, und sie hatte ihn zu sich auf den Stuhl gezogen und mit ihm eine schnelle Ruck-zuck-dankeschön-Nummer abgezogen, dann waren sie ins Schlafzimmer gegangen und hatten sich dort fast den ganzen Abend beim Wein miteinander beschäftigt. Aber er und Lynne hatten nur dies gemeinsam: Sex und die Arbeit. Allerdings konnten sie nicht die ganze Zeit miteinander im Bett verbringen oder arbeiten, obwohl es McCarthy manchmal schien, dass sie genau das taten. Und so endete die Beziehung, als Lynne die Stelle erhielt, auf die er es abgesehen hatte. Als tatsächlich sie und nicht er seine Beförderung bekam, fiel nach einem explosionsartigen Ausbruch das ganze wackelige Gebäude ihrer Beziehung in sich zusammen. Er war immer noch wütend und verbittert, was er aber entschlossen verdrängte.
Er nahm den Kaffee mit in sein Arbeitszimmer und schaute auf den Bildschirm. Es stand nicht viel da, was er nicht schon wusste. Er bemerkte, dass Ashley Reid eine Verwarnung wegen Drogenmissbrauchs bekommen hatte. Bei der langen Liste, die im Anschluss an den Namen des jungen Ganoven erschien, hielt McCarthy es kaum für verwunderlich, dass er das vorher übersehen hatte. Und endlich wurde es interessant: Paul Lynman, einer der Mieter der Carleton Road Nr. 14, dem Haus mit den Studentenwohnungen, war wegen Drogenbesitzes verurteilt worden. McCarthy holte sich die Details auf den Monitor. Zugegeben, es sah eher wie eine Sache aus, bei der Paul Punkte gemacht hatte; er war mit Speed erwischt worden, aber nicht genug, dass es für eine Anklage wegen Dealens reichte. Klugerweise hatte er darauf bestanden, es sei nur für seinen eigenen Gebrauch, hatte aber wahrscheinlich auch für einen Freund mitgekauft. Es lohnte sich jedoch, das weiter zu verfolgen. Es gab keine schlüssigen Beweise, keine klaren Zusammenhänge. McCarthy rieb sich die Nasenwurzel und versuchte, sich zu konzentrieren. Er hatte etwas über ein Problem im Alpha-Centre gehört, etwas über Ecstasy und Speed. Und war an der Uni irgendetwas gelaufen? Er musste mit jemandem vom Drogendezernat sprechen.
Er schaute auf die Uhr – halb elf – und fragte sich, was er mit dem Rest des Abends tun könnte. Musik hören? Fernsehen? Er hatte ein Gefühl, als verenge sich die Welt um ihn herum, als schrumpfe sein Leben auf seine eigenen vier Wände zusammen, auf den Weg von und zum Büro, auf das Büro selbst. Vielleicht hatte Lynne Recht gehabt. Vielleicht sollte er sich nach einem Schrank umsehen.
Am Sonntagmorgen stand Suzanne früh auf, war um acht Uhr bereits geduscht und angezogen und saß an ihrem Schreibtisch. Sie hatte geplant, einen vollen Tag lang Arbeit zu erledigen, und alles, was seit Freitag passiert war, zu vergessen. Eine Stunde versuchte sie, zu lesen und aus einem wissenschaftlichen Aufsatz zu exzerpieren, der schon seit einer Woche auf ihrem Schreibtisch lag. Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Als sie am Ende der eng mit kleiner Druckschrift bedeckten Seiten ankam, kam es ihr vor, als hätte sie ihn überhaupt nicht gelesen. Gereizt warf sie den Aufsatz auf die Papierablage, ohne ihn an seinen richtigen Platz zurückzulegen. Sie rieb sich die Stirn und sah auf die weiteren Arbeiten, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Sie dachte an Janes Konzentrationsmethode – es gab da doch eine Art Yoga-Trick. Es hatte etwas damit zu tun, dass man in seinem Bewusstsein völlige Leere einkehren ließ. Sue schloss die Augen und versuchte, sich auf die Leere hinter ihren Augenlidern zu konzentrieren.
Sammle dich … Was hatte Richard gemeint, als er sagte, dass Keith Liskeard sehr ärgerlich war? Keith hatte Suzannes Forschungsarbeit nie mit Begeisterung betrachtet. Sie erinnerte sich, dass er zustimmend genickt hatte, als einer der Sozialarbeiter – Neil, glaubte sie sich zu erinnern – gesagt hatte, die Jungs des Alpha-Projekts seien keine Ratten in einem Labyrinth, mit denen Forscher ihre Spielchen treiben konnten. Suzanne hatte die giftige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinuntergeschluckt und noch einmal beruhigend versichert, dass sie in diesem Stadium nur beobachten und nichts ohne die Zustimmung der Mitarbeiter tun wolle und dass sie sie ständig informieren werde. Es war zeitaufwendig und frustrierend gewesen, und sie hatte sich darüber geärgert, dass sie in eine Schublade gesteckt und mit stereotypen Merkmalen belegt wurde, genau so, wie sie es ihr in Bezug auf die jungen, zum Alpha-Programm verurteilten Männer vorwarfen. Sie hatte es satt, als Mittelklasse und Akademikerin beschimpft zu werden… Und sie war sich darüber klar, dass Keith eine Chance, sie loszuwerden, gerade recht käme.
So ging es nicht. Sie machte die Augen auf und sah den Stapel von Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Also, nur lesen ging nicht. Sie musste etwas Konkretes tun. Sie beschloss, Daten in den Computer einzugeben und den ersten Teil ihrer Analyse zu erstellen. Es musste erledigt werden, eine mechanische Aufgabe, die sie bisher aufgeschoben hatte. Sie brauchte sich dabei nicht besonders zu konzentrieren, und doch würde es sie beschäftigen.
Aber auch diese Arbeit schien nicht zu klappen. Suzanne gab die Daten ein, aber bei der anspruchslosen Aufgabe schweiften ihre Gedanken ab und entzogen sich ihrer Kontrolle. Sie dachte an Michaels kleine Gestalt, wie er die Stufen zu Daves Haustür hinaufging. Sie dachte an Lucys ruhige Selbstsicherheit, sie dachte an Joel, der sich lässig und lächelnd an ihre Arbeitsplatte lehnte. Sie dachte an den plötzlichen Funken von Interesse in DI McCarthys Augen. Sie dachte daran, wie enttäuscht Richard ausgesehen hatte. Er war der Einzige, der sie im Alpha-Centre unterstützte. Wie kannst du nur so unzuverlässig sein! – die Verzweiflung und Vorwürfe ihres Vaters hallten in ihrem Bewusstsein nach.
Der Computer piepste. Mist ! Sie hatte aus Versehen auf Steuerung gedrückt. Gott sei Dank war ihr Programm ziemlich idiotensicher. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte sich. Vielleicht würde ihr ein Spaziergang gut tun. In ihrem Kopf war ein einziges Durcheinander. Michael, Dave, ihre Probleme beim Alpha-Projekt, ihre Forschungsarbeit … Emma. Sie versuchte, sich Emma vorzustellen, sah aber nur das weiße Gesicht unten im Wasser, das verschwommen an das von Lucy erinnerte, dann wieder verwischte und zu dem von Adam wurde. Sie presste die Hände auf die Augen. Es half nichts.
Sie ging in die Küche hinunter, stellte Wasser auf, suchte zwischen dem Geschirr in der Spüle nach einer Tasse, die nicht allzu schlimm aussah, spülte sie aus und gab einen Löffel Kaffeepulver hinein. Sie dachte daran, dass Dave Nescafé immer verabscheut hatte. Sie streute zwei Löffel Zucker in die Tasse und goss etwas Milch dazu. Das erinnerte sie an Michael. Sie hatte für dieses Wochenende Vollmilch gekauft.
Als sie dann panischer Schrecken überkam, sank sie auf einen Hocker und hielt ihre Tasse fest. Diese Attacken waren ihr vertraut, so vertraut, aber trotzdem nicht weniger schlimm. Sie war wieder im Krankenhaus und wie trunken vor Freude, in einer Hochstimmung, die sie nie zuvor gefühlt hatte. Es ist ein Junge, Suze! Sie erinnerte sich an Daves Gesicht dicht neben dem ihren. Lass mich ihn halten. Suzanne streckte die Arme aus, war müde, erleichtert und erstaunt. Sie erinnerte sich an das winzige, perfekte Gesichtchen, den kleinen Körper, der in eine Krankenhausdecke gewickelt war. Ihr Kind. Sie hielt es. Seine Augen öffneten sich, und er sah sie zum ersten Mal an. Sie waren von einem klaren, perfekten Blau. Es war wie damals, als sie Adam gehalten hatte, und ihre Mutter im Krankenhausbett lag, als die Schwester ihr vorsichtig das in Blau eingewickelte Bündel reichte. Angst durchzuckte sie, und sie krümmte sich fast zusammen, zitterte, ihr Magen verkrampfte sich, und Panik und drohendes Unheil kamen näher. Ihr schien, als ob ein schreckliches Unglück über dem Kind hing, eine Katastrophe und das Chaos zu drohen schienen – und das lag nur an ihr. Sie durfte es nicht berühren. Sonst würde sie… es irgendwie, sie würde es verletzen, würde diesem Kind so schaden, dass es nicht wieder gutzumachen war. Das Baby bewegte sich und wehrte sich mit einem aufbegehrenden Schrei.
Als Suzanne sich daran erinnerte, brach ihr der kalte Schweiß aus.
Seit Emma Allan von zu Hause weggegangen war, hatte sie in dem Studentenwohnhaus in der Carleton Road gewohnt. Sophie Dutton wohnte dort, Emma war offenbar ihre Mitbewohnerin und nach Sophies Auszug allein dort geblieben. »Ganz gegen unsere Vorschriften«, sagte der Beauftragte im Wohnungsbüro der Universität. Er hatte die Liste der Mieter, die bis vor kurzem dort gewohnt hatten. Paul Lynman, der Deutsch studierte und eine Adresse, vermutlich die seiner Eltern in Derby, angegeben hatte. Gemma Hanson und Daniel Grier, die ebenfalls Deutsch studierten, waren als Teilnehmer an einem akademischen Programm nach Deutschland gefahren. »Sie sind im Mai weggegangen«, sagte er.
Barraclough hatte den Auftrag, mit Sophie Dutton Kontakt aufzunehmen, was sich als äußerst schwierig erwies. Nach den Unterlagen des Studentensekretariats war sie am 14. Mai weggefahren. Ihr Tutor glaubte, der Grund sei Examensangst, und er hatte versucht, sie zum Bleiben zu überreden. »Sie hätte bestanden, wahrscheinlich mit keinem schlechten Ergebnis. Und sie musste sowieso nur bestehen. Die Noten vom ersten Jahr zählen nicht für das Abschlussexamen.« Sophie jedoch war nicht umzustimmen gewesen.
Aber sie war, was immer sie ihren Freunden erzählt haben mochte, weder nach Hause gefahren, noch hatte sie ihren Eltern ihre Entscheidung mitgeteilt. »Sie ist in Sheffield«, hatte Sophies Vater gesagt. »Ein ganzes Jahr ist sie schon dort. Sophie soll ihr Studium aufgegeben haben? Quatsch.«
Sein Ärger richtete sich gegen Barraclough, die er offenbar für blöd hielt, oder vielleicht verbarg er nur seine väterliche Angst, dass sein Kind erste Schritte in Richtung Unabhängigkeit getan haben könnte. »Wir erfahren immer als Letzte, was sie treibt.« Aus seinem Ärger wurde Besorgnis, als ihm klar wurde, dass seine Tochter nicht in Sheffield oder jedenfalls nicht dort war, wo sie sie vermutet hatten. Er konnte Barraclough keine neuen, ihr nicht schon bekannten Hinweise auf Sophies Kontaktpersonen geben. »Sophie hat sich nicht oft bei uns gemeldet«, sagte er. »Nach den ersten paar Wochen nicht mehr. Ihre Mutter hat ihr das unter die Nase gerieben, aber Sophie sagte einfach: ›Ach, hör doch auf.‹« Barraclough konnte festhalten, dass Sophie über Weihnachten zu Hause gewesen war, aber nur für ein paar Tage. Sie hatte seit damals zweimal angerufen und ihnen eine Witzpostkarte von Meadowhall geschickt.
Das Studentenwohnhaus war erst kürzlich leer geworden. »Normalerweise wäre der Mietvertrag länger gelaufen, aber da zwei nach Deutschland gingen und der vierte Mieter schon weg war, dachten wir, es sei fair, die letzte Bewohnerin auch gehen zu lassen.« Er sagte dies mit Bedauern. Das Haus stand leer. Alle Studentenwohnungen wurden als Sommerquartiere genutzt und mussten so bald wie möglich dafür vorbereitet werden. »Dieses Haus hier ist von Anfang Juli an vermietet«, sagte er. Alle persönlichen Gegenstände, die noch da waren, wurden entfernt und zur Müllhalde gefahren.
Niemand von dem Reinigungspersonal, das die Häuser auf der Carleton Road geputzt hatte, konnte sich an irgendetwas Besonderes im Haus Nr. 14 erinnern. »Hat das arme Mädchen hier gewohnt, das umgebracht worden ist?«, fragte die Chefin der Gruppe Barraclough. »Das ist schockierend.« Sie schüttelte den Kopf. Sie schien wirklich erschüttert. »Nein, ich kann mich an nichts Besonderes im Haus Nummer vierzehn erinnern. Da kann nichts gewesen sein, wir waren ja erst vor etwa einer Woche dort. Ich sag Ihnen was. Das waren alles Schweineställe in dieser Straße. Die jungen Leute sind vielleicht intelligent, aber sie benehmen sich wie die Ferkel.«
Es war das Nachbarhaus von Jane Fielding. Innen schien es zu klein für die vier – manchmal fünf – Erwachsenen zu sein, die hier gewohnt hatten. Die steile Treppe führte von einem kleinen Windfang aus nach oben, durch eine Tür nach links ging es in ein Vorderzimmer mit einem Erkerfenster. Darin stand ein Bett ohne Bettzeug auf einem Teppich, dazu ein Kleiderschrank und ein kleiner Schreibtisch. Schon mit diesen wenigen Möbeln wirkte das Zimmer vollgestopft. Rechts war ein Gemeinschaftszimmer und eine Küche für alle, die nur mit dem Notwendigsten ausgestattet war: Schränke, Arbeitsplatten, Herd und Kühlschrank. Der Rand der Arbeitsflächen war beschädigt, so dass die Pressspanplatte unter der Marmorbeschichtung zu sehen war.
Oben waren zwei Zimmer und ein Bad, und im nächsten Stockwerk, dem Dachgeschoss, noch ein kleines Zimmerchen. Barraclough sah durch die Gaubenfenster hinaus und überlegte, wie das hier bei einem Feuer wäre. Es gab keine Feuerleiter. Hatten sie vielleicht eine dieser zusammenklappbaren Leitern? Auf sie machte es eher den Eindruck einer Todesfalle.
Sophie Dutton, deren Mitbewohnerin Emma gewesen war, hatte in der Mansarde gewohnt, die aber wie alle anderen Zimmer auch bis auf das Grundinventar leer war – ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Für zwei Personen musste es hier eng gewesen sein, dachte Barraclough und drückte sich an dem Kleiderschrank vorbei, der an einer unpassenden Stelle stand. Das Zimmer war sauber, allerdings lag in den Ecken Staub und auf dem Teppich Schnipsel, als sei den Putzfrauen auf ihrem Weg nach oben die Energie ausgegangen. Corvin bemerkte diese Hinweise auf unzureichend gründliches Putzen und ordnete an, die Zimmer auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Aber wenn diese Suche ohne Ergebnis blieb, war die ganze Durchsuchungsaktion in der Carleton Road eine Pleite. Sie fanden keine Spuren von Emma, auch nichts, was ihnen verriet, wohin Sophie Dutton gegangen war.
Suzanne schloss die Tür ihres Arbeitszimmers und machte sich daran, die ganze Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie fing oben an und setzte ihre sorgfältige Arbeit des Abstaubens, Staubsaugens und Wischens nach unten fort, bis die störende Unordnung einem Zustand wich, der der Ordnung und Systematik ihres Arbeitszimmers ähnlicher war. Sie brauchte fast drei Stunden, und am Ende war sie müde, kam sich verschwitzt und schmutzig vor, hatte aber das Gefühl, etwas geleistet zu haben.
Ein Plan begann, in ihren Gedanken Form anzunehmen. Ihr Forschungsprojekt am Alpha-Centre war bedroht. Richard hatte das nicht ausdrücklich gesagt, aber… auch wenn sie all ihre Energie in eine wirklich gute Analyse des spärlichen Materials steckte, das sie hatte, würde es nicht ausreichen, um die Leute zu beeindrucken, die für Entscheidungen verantwortlich waren. Sie musste den Schaden wieder gutmachen, den sie unabsichtlich angerichtet hatte. Was sie sowieso tun wollte. Sie war es Ashley schuldig.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn kennen gelernt hatte. Zunächst war er nur ein Gesicht unter vielen gewesen. Sie hatte eine undeutliche Erinnerung an einen dunkelhaarigen Jungen mit dunklen Augen und einem plötzlich aufblitzenden, warmen Lächeln, jemand, der ihr flüchtig, aber auf beunruhigende Weise vertraut schien. Rückblickend wusste sie, dass sie ihm interessant vorkam, dass er neugierig auf sie war. Sein Interesse ihr gegenüber hatte sie auch neugierig gemacht. Aber es dauerte eine weitere Woche oder so, bis sie endlich miteinander sprachen.
Eines Tages war sie im Café gewesen – ein großer, hoher Raum mit einer Reihe von Stühlen, ein paar Tischen und einem Getränkeautomaten in der einen Ecke. Wie der Rest der Gebäude war das Café schäbig und heruntergekommen, da sich niemand dafür verantwortlich fühlte. Die Regeln über Sachbeschädigung waren streng, und es gab kaum Graffiti im Alpha-Centre, aber der Schaden, der durch ständige Nutzung und fehlende Pflege entsteht, und der Schaden, den Menschen mit einem gestörten Lebensgefühl verursachen, all dies hatte seine Spuren hinterlassen.
Es roch immer nach Gebratenem, Dampf und Zigaretten. Am einen Ende des Raums war eine Durchreiche, die aber zu dieser Stunde abgeschlossen und von einer Klappe verdeckt war. Ein Eisengitter schützte das braun angestrichene Holz. Der Hauptteil des Raums wurde von einem Billardtisch normaler Größe eingenommen, eines der wenigen Dinge im Zentrum, für das die Jungs sich begeisterten. Hier wurde immer gespielt, ob offiziell Ruhepause war oder nicht.
Suzanne stand untätig herum und beobachtete zwei der Jungs des Alpha-Centre, Lee und Dean, die kunstvolle Stöße probierten. Richard hatte diese beiden als gute Kandidaten für die erste Phase ihres Forschungsprojekts vorgeschlagen, und sie versuchte, sie kennen zu lernen. Sie fand es schwierig, sich von Dean ein Bild zu machen, und obwohl er ihr gegenüber keine offene Feinseligkeit zeigte, hatte er etwas an sich, das sie beunruhigte. Sie war immer nervös, wenn er da war. Lee dagegen empfand sie mit all seiner hyperaktiven Hektik und seinem redegewandten Witz als freundlich. An jenem Tag hatte er angeboten, ihr das Billardspielen beizubringen, und obwohl sie die Grundlagen kannte, ließ sie es sich zeigen, weil sie es als eine Möglichkeit betrachtete, weitere Hürden abzubauen. Sie hatte Ashleys Blick gesehen, als Lee demonstrierte, wie man den Billardstock hielt, und Ashley hatte fast unmerklich den Kopf geschüttelt, als wolle er sie warnen.
Und die gedämpften Kommentare und das Gelächter, als sie sich über den Tisch beugte und ihren Stock in Position brachte, die Art, wie Lee hinter ihr stand und Dean lässig mit halb offenen Lippen lächelte, ließ sie erkennen, dass man dabei war, sie zum Objekt sexueller Anspielungen und anzüglicher Gebärden zu machen. Sie hatte den grundlegenden Fehler gemacht, sich durch ihre oberflächliche Freundlichkeit täuschen und zu der Annahme verleiten zu lassen, dass sie ihr nichts Böses wollten. Sie wusste nicht, wie sie mit einem solchen Verhalten einer geschlossenen Gruppe von Jugendlichen umgehen sollte, das mehr nervte und demütigender war als Anzüglichkeiten auf der Straße. Denn dies hier war zielgerichtet, persönlich und bösartig gemeint. Sie war weggegangen und wusste, dass sie damit ihre Niederlage eingestand, war sich der gedämpften Kommentare und des Gelächters bewusst und bemerkte Neil, der an der Bürotür stand und sie beobachtete, ohne selbst gesehen zu werden. Sein Gesicht verriet seinen unausgesprochenen Kommentar: Ich hab dir’s ja gesagt.
Sie ging ans andere Ende des Cafés, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Sie war wütend auf sich selbst, dass sie die Situation nicht besser im Griff gehabt hatte, als Ashley sie wieder ansah und ihr mitfühlend zulächelte. Ein paar Minuten später – sie blätterte ziellos in ihrer Arbeitsmappe – setzte er sich neben sie.
»Kümmere dich nicht um sie«, sagte er. Er hatte ihr vom Automaten eine Cola geholt, und sie fand das und seinen Beistand seltsamerweise tröstlich. Dann hatte er auf ihre Mappe geschaut und gefragt: »Was machst du da?« Seine Stimme war leise, er sprach breiten Sheffielder Dialekt. Sie erzählte ihm etwas über die Universität und fragte ihn nach seinen Interessen und Plänen. Er sagte, er hätte eigentlich keine. Er hatte sich in der Schule nicht besonders reingehängt. Aber er zeichnete gern. »Ich würde am College gern Kunst studieren«, vertraute er ihr an. Ein kurzer Wortwechsel, aber ermutigend.
Ein andermal zog er einen kleinen Skizzenblock aus seiner Tasche und zeigte ihr einige seiner Arbeiten. Ihrem ungeschulten Auge erschienen sie gut zu sein. Zeichnungen mit kühner Linienführung, die Bewegungen und Atmosphäre der Stadt einfingen. Sie erkannte die Läden in der Nähe der Hunters Bar und den Park. Ein paar energische Bleistiftstriche stellten lebendige Bewegung dar. Sie war beeindruckt und sagte es ihm. Er lächelte ihr kurz und vertraulich zu.
Er erinnerte sie an Adam. Das war es wohl, was dieses Gefühl des Vertrautseins in ihr hervorrief, wenn sie ihn sah. Er hatte das gleiche warme Lächeln. Adams Gesicht hatte genauso geleuchtet, wenn er sie sah, und er hatte mit dem gleichen Zutrauen zu ihr gesprochen. Ich erzähl dir ein Geheimnis, Suzanne, hatte er oft gesagt, als er etwa sieben oder acht Jahre alt war. Und dann flüsterte er ihr etwas ins Ohr, etwas darüber, was er angestellt hatte und was sie vor ihrem Vater geheim halten sollte. Ich verrate es nicht , sagte sie dann. Das war ihre Rolle. Sie musste ihren Vater vor Sorge bewahren und Adam vor dem Zorn ihres Vaters beschützen. Aber du darfst es nicht wieder tun .
Sie war jetzt dabei, die Küche zu putzen, hatte aber keinen Schwung mehr und merkte, dass sie Dinge ziellos von einem Platz auf den anderen stellte. Sie ließ heißes Wasser in die Spüle laufen, nahm das Geschirr von der Arbeitsplatte und stellte alles ins Wasser. Sie würde es später spülen. Sie dachte an ihr Arbeitszimmer, die Papiere auf ihrem Schreibtisch, ihren Computer mit den Seiten der erst zur Hälfte eingegebenen Daten. Zum Teufel mit der Arbeit. Sie würde einen Spaziergang machen.
Barraclough war am Spätnachmittag dabei, die Akten zu durchforsten. Sie versuchte, Sandra Allans erstes Kind zu finden, das irgendwann gegen Ende der siebziger Jahre oder möglicherweise 1980 zur Welt gekommen war. Dass Sandra vor kurzem gestorben war, ersparte ihr viel Arbeit. Eine Kopie ihrer Geburtsurkunde war in der Akte. Barraclough sah nach. Sie war 1963 in Castleford, West Yorkshire, als Tochter von Thomas Ford, Lkw-Fahrer, und Elizabeth Ford geboren worden. Ob die Eltern noch in der Gegend wohnten? Und wo waren sie, als Sandras Kind zur Welt gekommen war?
Barraclough überprüfte die Angaben zu Sandra Allans Tod. Nächster Verwandter war natürlich Dennis Allan. Sie fand in den Notizen nichts über Sandras Eltern. Sie kehrte zur Datenbank zurück und sah nach. Ja. Ein Thomas Ford mit einem passenden Geburtsdatum war fünf Jahre zuvor im St. James Hospital in Leeds gestorben. Sie konnte also die Adresse aus der Sterbeurkunde entnehmen, wenn es der richtige Thomas Ford war. Damit hätte sie dann auch die Adresse von Elizabeth Ford, Sandras Mutter.
Sie sah auf die Uhr. Nach der Haus-zu-Haus-Befragung waren einige Leute bestellt worden, mit denen sie sprechen musste. Sie würde sich erst am nächsten Tag wieder mit ihren Nachforschungen befassen können.
Der Mann von der Museumsverwaltung, John Draper, trug ausgebeulte Jeans und Sandalen. Er hatte einen Ordner mit Unterlagen und ein paar Bücher dabei, und seinem Gesicht waren Energie und Engagement anzusehen. McCarthy, der das Treffen mit Mr. Draper bei Shepherd Wheel vereinbart hatte, war deprimiert. Er hatte Zweifel, ob der Kontakt etwas bringen würde, und war nicht gerade begeistert von dem Gedanken, einem weiteren Akademiker zuhören zu müssen, der sein immenses Wissen über ein Gebiet von verschwindend geringer Wichtigkeit für die heutige Welt zum Besten gab, das für jeden, der sein eigenes Leben lebte, völlig uninteressant war. Und das alles wurde im Ton herablassender Missbilligung gegenüber dem blöden Polizistentrottel verkündet, der kaum in der Lage war, zu gehen und dabei auch noch Kaugummi zu kauen.
Aber dann erwachte in McCarthy doch ein gewisses Interesse, als John Draper schnell und prägnant erklärte, wie die Wasserkraft der Flussarme nutzbar gemacht und das System der Werkstätten und Wasserräder erstellt wurde. In den Tälern, durch die die fünf Flussarme sich gegraben hatten, wurde die Stadt erbaut. »Keine Probleme mit Recycling und Abfällen«, sagte Draper. »Jedenfalls nicht durch die Energiequellen.«
»Aber es muss doch seinen Preis gehabt haben.« McCarthy wusste, dass immer irgendjemand bezahlen musste.
»O ja, es gab schon Auswirkungen auf die Umwelt«, gab Draper zu. »Das Leben der Tiere wurde gestört. Und die Werkstätten haben die Umwelt verschmutzt. Die Gewässer wurden als natürliche Abwasserkanäle angesehen – man warf alle Abfälle hinein, und damit wurden sie zu einem Problem für andere. Aber wegen dieser Dinge sind Sie ja nicht hier.«
McCarthy schaute über den Teich. Nach der Durchsuchung der Werkstatt war alles wieder ruhig, die Ergebnisse waren ans Labor und die Wissenschaftler weitergegeben worden. »Ich bin mir nicht ganz sicher, weswegen wir eigentlich hier sind«, gab er zu. »Es scheint, als habe jemand das Wassersystem benutzt, und was ich wissen muss, ist Folgendes: Wollte man nur auskundschaften, was es hier gibt, oder ist hier irgendetwas manipuliert worden?«
»Manipuliert?« Draper war verdutzt. »Ach so, ich verstehe, was Sie meinen. Liz Delaney hat erwähnt, dass das Rad sich drehte, als die Leiche gefunden wurde.«
McCarthy nickte. »Ich begreife nicht, warum. Es steckt keine Logik dahinter.« McCarthy hielt nichts von der Vorstellung unlogischer Verbrechen. Jede Straftat, besonders eine vorher nicht geplante, mag dem außenstehenden Beobachter unlogisch erscheinen, aber McCarthy wusste, dass alle Verbrechen ihre innere Logik haben, und die Logik dieses Musters zu finden war ein wichtiger Schlüssel zur Lösung des Falls. Manchmal war das Logische an einem Verbrechen aber gerade der völlige Mangel an Logik, der Versuch, durch beliebiges, zufälliges Handeln, das jedoch nie wirklich zufällig sein konnte, zu verwirren. Du hast deine Handschrift hinterlassen und ich werde sie finden . »Außerdem blieb das Rad wieder stehen. Die Frau, die die Leiche gefunden hat, sagte, das Rad sei stehen geblieben, während sie im Hof war.«
»Gehen wir und sehen mal nach«, sagte Draper optimistisch. Sie hatten sich an der Brücke getroffen, wo die Straße zwischen Bingham Park und dem Wald verlief, standen auf der Brücke und sahen auf das Wehr oberhalb des Shepherd-Wheel-Teichs hinunter. Sie gingen durch die Mauerlücke, von der aus die Stufen in den Park hinunterführten. Draper zeigte McCarthy, wie das Wehr das Wasser durch den Mühlgraben und in den Teich leitete. »Das Wehr ist natürlich beschädigt«, sagte er. »Es ist wirklich schlimm, wie man die Anlage hat verkommen lassen.« Er bemerkte McCarthys Blick. »Es ist doch wichtig, Relikte aus unserer Geschichte zu bewahren, finden Sie nicht, Inspektor? Aus unserer Vergangenheit zu lernen?«
»Es kommt darauf an, was man lernt.« Mehr wollte McCarthy nicht zugeben.
»Oh, zweifellos. Immer. Das trifft auf alles zu.« McCarthy sah den Wissenschaftler mit dem wirren Haarschopf an, der den oberen Teil des Wehrs mit großem Interesse betrachtete, und wusste nicht genau, ob der Mann ihn auf den Arm nahm oder nicht. Er wartete ab, um zu sehen, ob seine Überprüfung einen bestimmten Zweck hatte, oder ob Draper nur die Gelegenheit nutzte, mit seinen geliebten Ruinen zu kommunizieren. »Da ist ja…«, Draper zeigte auf ein kleines Gitter, das den Wegrand überragte. »Ich habe mich schon gefragt, warum das Wasser so niedrig ist.« Er schaute McCarthy an. »Im Teich. Das Wasser ist sehr niedrig. Ich hatte angenommen, dass der Grund dafür die Verschlammung ist, dieses Problem haben wir ja in dem ganzen System, aber…« Er wies auf das Gitter. »Das ist das Schützentor, das den Zufluss des Wassers in den Teich reguliert. Es ist so eingestellt, dass der Zustrom praktisch gestoppt ist.«
»Jemand hat den Wasserzufluss abgesperrt?« McCarthy wollte das bestätigt haben.
»Genau. Ich muss ihnen Bescheid sagen, damit der Zufluss wieder geöffnet wird.«
McCarthy schaute über den Teich, sah die Sonnenstrahlen auf den schlammigen Uferrändern blinken und die Wasseroberfläche in einen dunklen Spiegel verwandeln. Trotz des Mordes in der vergangenen Woche fand er, es sei ein friedliches Bild, aber es war der Friede der Einsamkeit eines verlassenen Orts, wo Wasservögel ungestört neben den überwucherten Schrebergärten in der Stille des Shepherd Wheel umherschwammen.
Die beiden Männer gingen am Ufer des Teichs entlang. Draper betrachtete die Spuren der Wasservögel im Schlamm, der mit smaragdgrünem jungem Moos bedeckt war. Von den Bäumen heruntergefallene Zweige, leere Getränkedosen und Verpackungen von Süßigkeiten lagen herum. Sie gingen am anderen Ende des Teichs die Stufen hinunter und um die Vorderseite von Shepherd Wheel herum zum Hofeingang. McCarthy unterbrach die Stille nicht. Er hatte das Gefühl, dass sein Begleiter über etwas nachdachte, und wollte seinen Gedankengang nicht unterbrechen. Als sie das Hoftor erreichten, blieb Draper mit der Hand auf dem Vorhängeschloss stehen »Wenn man Wasser durchlaufen lassen wollte, ohne dass sich das Rad bewegt, könnte man annehmen, der niedrigere Wasserspiegel würde das bewirken. Aber das würde natürlich nicht stimmen.« Er sah zu McCarthy auf, während er sich immer noch an dem Schloss zu schaffen machte. »Immerhin erklärt es, wieso das Rad still stand. Wenn der Wasserstand so niedrig ist wie jetzt, ist nur genug Wasser da, um es etwa zwanzig Minuten zu drehen, wenn überhaupt so lange.«
Es schien so klar auf der Hand zu liegen, und McCarthy konnte kaum fassen, dass er nicht selbst darauf gekommen war. »Könnte dieses – wie sagten Sie – Schützentor zufällig bewegt worden sein?« War Emmas Tod eine sorgfältig geplante Tat und nicht ein plötzlicher, mörderischer Überfall, wonach es zunächst aussah?
»Es ist noch nie passiert, soweit ich weiß«, sagte Draper skeptisch. »Es lässt sich nicht auf Knopfdruck drehen.«
Übermütige Jugendliche?, fragte sich McCarthy. Nein, die würden sich nicht mit der einfachen Regulierung des Wasserpegels zufrieden geben. Sie hätten das Tor auseinander gerissen, es demoliert. Aus irgendeinem Grund schienen die technischen Anlagen am Fluss sie nicht zu interessieren. Draper fingerte an dem Schlüssel herum und schloss schließlich das Vorhängeschloss auf. »Die Hälfte dieser blöden Schlüssel funktioniert nicht«, sagte er. Sie waren jetzt im Hof, und Draper ging hinüber, um auf das vermodernde Rad hinunterzusehen. »Wissen Sie, dass seit mindestens 1556 an dieser Stelle eine Mühle gewesen ist?«, sagte er und schwieg dann einen Augenblick. »Sie war hier drin«, sagte er, »Ihr kleines Mädchen?«
Der Satz klang seltsam in McCarthys Ohren. Ein kleines Mädchen. Eine Frau, die Drogen nahm und ein aktives Sexualleben hatte. Ein kleines Mädchen. »Ja«, sagte er.
»Und das Rad hat sich gedreht. Sie wurde von innen hinuntergestoßen?« McCarthy nickte. »Ins Wasser gestoßen und … Das Rad ist beschädigt, ich bin überrascht, dass es sich drehte.« McCarthy wartete ohne die Ungeduld, die ihn sonst immer überkam, wenn Experten wortreich den springenden Punkt ansteuerten. Er hatte den Eindruck, dass Draper laut vor sich hindachte. »Es gibt hier einen langen Abflusslauf«, sagte Draper. »Das Wasser wird durch ein Rohr zurückgeleitet und kommt etwa fünfzig Meter vom Mühlrad entfernt heraus. Es ist klein und schmal. Wenn das Wasserrad nicht in Betrieb ist, ist die Strömung nicht stark genug, um etwas dort hindurchzuschleusen. Die Leiche wäre wahrscheinlich sowieso darin stecken geblieben. Vielleicht hat er den Kanal geöffnet, um sie in das Rohr zu spülen.«
Er sah McCarthy an. »Ach, Entschuldigung. Sehen Sie, das Wasser fließt vom Teich hier durch« – er zeigte auf eine hölzerne Rinne über dem Rad – »und dreht das Rad. Es fällt in den Kanal unter dem Rad, dann fließt es durch diesen Abfluss« – er deutete auf einen schmalen überwölbten Gang im Stein unter dem Wasser – »und ungefähr fünfzig Meter weiter unten wieder zurück in den Bach. Wenn man eine Leiche in diesen Kanal werfen würde und dann Wasser einfließen ließe, würde die Leiche in das Rohr geschwemmt. Stoppt man das Wasser wieder, dann bleibt sie dort hängen. Ich frage mich, wie lang es gedauert hätte, bis jemand darauf gekommen wäre, nachzusehen.«
Logisch. Das war klar und logisch. Hätten sie nachgesehen? Hätten sie auch in Shepherd Wheel nachgesehen, das abgeschlossen und gesichert war? Hätten sie überhaupt nach der vermissten Siebzehnjährigen gesucht, die in Schwierigkeiten und schon durch Drogenmissbrauch vorbelastet war? Aber das Rad hatte sich gedreht. Das hatte der Killer nicht erwartet. Das Rad hatte sich gedreht. »Ich danke Ihnen, Mr. Draper«, sagte er.
Die Wohnblocks standen leer. Das Labyrinth der Zugänge zu den Geschossen, der offenen Laufgänge, Treppen und Aufzüge, die schon nicht funktioniert hatten, als die Häuser noch bewohnt waren, und jetzt ganz bestimmt nicht mehr gingen, lag im Dunkeln. Man hatte Fenster und Türen jeder leer gewordenen Wohnung vernagelt, die Treppenhäuser waren abgesperrt und die Aufzugtüren klemmten. Die Blocks standen dunkel und still da in Erwartung des Trupps, der sie schließlich abreißen und auslöschen würde.
Als die Bewohner auszogen, kamen andere nach. Die Bretter wurden von den Türen und Fenstern entfernt, Rohre und Kabel herausgezogen, die alten Boiler von den Wänden gerissen, in einer schnellen und brutalen Aktion, um alles zu nehmen, was brauchbar war. Danach waren die Wohnungen für Regen und Wind offen, das Holz verwitterte, Feuchtigkeit kroch in den Beton, Wasser tropfte auf die Flure und bildete Pfützen auf den Treppenabsätzen. Aber sie boten dennoch eine Art Unterkunft. In manchen Wohnungen gab es Anzeichen, dass sie bewohnt waren. Graffiti an den Wänden, Reste von Feuerstellen auf Backsteinen mitten im Raum, Decken, Tassen, Teller.
Lee ging vorsichtig an der Fassade des zweiten Blocks entlang. Ein ausgebranntes Auto blockierte den Gehweg, und er bog in einen der unteren Laufgänge zwischen den Wohnungen ein. Die Wohnungen waren vernagelt worden, aber den meisten sah man an, dass später jemand eingedrungen war: Bretter waren von Türen und Fenstern gerissen, alles war voller Glasscherben, und Drähte hingen herum. Der Gang roch nach Urin, und aus den aufgebrochenen Türen wehte ihm der Gestank von Kot entgegen und ließ ihn würgen. Er wusste, was in diesen Wohnungen los war, kannte die Alufolien, Nadeln und das sonstige Zubehör einer Sucht, die er verabscheute. Pillen, das ging in Ordnung. Aber Crack und Heroin? Das war nur etwas für Wichser.
Er ging schnell, ohne die zusammengesunkene Gestalt an der Treppe zu beachten. Lee konnte sich wehren, aber es war ihm lieber, Ärger zu vermeiden. Meistens jedenfalls. Er drückte sich an den kaputten Absperrungen vorbei, ging die Treppen bis fast ganz nach oben hinauf und dann den Gang entlang. Er zählte die Wohnungen, bis er zu der kam, die er suchte.
Lee presste ein Ohr an die Tür und lauschte. Stille. Er sah sich um. Nichts. Leise klopfte er an die Tür. » Lee.«
Einen Augenblick später wurden die Türriegel zurückgezogen. Lee schlüpfte in die Wohnung und zog ein Bündel Geld aus der Tasche. Ein paar Minuten später lief er ruhig die Treppe hinunter und hatte eine kleine Brieftasche mit Reißverschluss sicher in seiner Jacke verstaut.