Читать книгу Crime Collection IV - Danuta Reah - Страница 14
Оглавление4
Als Suzanne endlich eingeschlafen war, träumte sie den alten Traum, von dem sie sich befreit geglaubt hatte. Adam rief ihr zu: Schau mich an, Suzanne! Hör mir zu, Suzanne! Und ihr Vater: Dafür bist du verantwortlich, Suzanne! Es gelang ihr aufzuwachen, panisch erschrocken, keuchend und durcheinander. Sie setzte sich auf und versuchte, auf die Uhr zu sehen. Der Himmel draußen begann schon hell zu werden. Es war fast fünf Uhr. Ihr Nachthemd war feucht, und das Bettzeug hatte sich um ihre Beine gewickelt. Adams Gesicht war immer noch da und das vertraute kalte und schwere Gefühl im Magen stellte sich ein. Sie verdrängte das Bild. Vorbei. Schluss damit .
Die Erleichterung, die sie empfand, wich, als ihr die Ereignisse des vorhergehenden Abends wieder in den Sinn kamen. Sie versuchte, die Erinnerung an Emma entschlossen wegzuschieben, aber immer wieder dachte sie daran, wie es wäre, unter Wasser gehalten zu werden, wenn das Rad sich über einem drehte, oder die kalten Hände zu spüren, die einen töten wollten, oder… Die Bilder in ihrem Kopf ließen sich nicht mehr verdrängen. Schau mich an … Hör mir zu …
Sie musste aufstehen, musste etwas tun. Es war fünf vor fünf. Sie beschloss, zwei weitere Stunden mit den Tonbändern zu arbeiten und dann zu frühstücken.
Beim ersten Licht am nächsten Morgen durchsuchten sie die Werkstatt von Shepherd Wheel. Die Straßen waren leer, als McCarthy von seiner Wohnung zum Park fuhr. Am Eingang des Parks stellte er seinen Wagen ab, ging die paar hundert Meter zu Shepherd Wheel zu Fuß, genoss die Weite, Ruhe und Stille des frühen Morgens, die nur vom Gesang der Vögel unterbrochen wurden. Shepherd Wheel sah in der aufgehenden Sonne friedlich aus, das moosbedeckte Dach leuchtete in einem warmen Gelb, und auf den Mauern und dem Weg lagen Schatten.
Jemand von den städtischen Museen war mit dem Schlüssel da, um ihnen die Werkstätten zu öffnen, eine junge Frau, die über ihren Auftrag zu dieser ungewöhnlichen Stunde gar nicht verärgert schien, wie McCarthy bemerkte. Sie sah eher aufgeregt aus. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie hatte kurze, kastanienbraune, wirre Locken, ihr Gesicht war leicht gerötet, und sie betrachtete den Hof mit glänzenden Augen. Dann lächelte sie und streckte die Hand aus. »Liz Delaney. Hallo.«
Er schüttelte ihr die Hand. »Steve McCarthy.« Die gestrige Untersuchung des Hofs hatte nur sehr wenig gebracht. Jetzt mussten sie sich im Inneren der Werkstätten umsehen. An den zwei im städtischen Grün gestrichenen Türen waren dicke Türhaken für die Vorhängeschlösser, mit denen das Gebäude abgeschlossen und gesichert war. Er nahm die Schlüssel, die Liz Delaney ihm hinhielt. »Wie lang ist es her, seit zum letzten Mal jemand hier drin war?«, fragte er.
»Ich weiß nicht genau«, sagte sie. »Irgendjemand kommt in regelmäßigen Abständen hier vorbei und sieht nach, ob alles in Ordnung ist.« Sie lächelte ihn an.
McCarthy dachte nach und ließ die Schlüssel in seiner Hand klirren. »Wie lange ist es her, dass die Räume für Besucher geöffnet waren?«
Sie runzelte leicht die Stirn und zuckte die Schultern. McCarthy sah sie die ganze Zeit an. »Ach, ein paar Monate, glaube ich.« Sie wartete einen Moment auf einen Kommentar von ihm, aber er schwieg. »Eigentlich ist es nicht meine Aufgabe. Das hier war schon geschlossen, bevor ich in der Abteilung angefangen habe.«
Im Grunde stimmte das nicht, wusste McCarthy. Shepherd Wheel war Anfang Mai für das Publikum geöffnet gewesen, das war nur fünf Wochen her. Und davor war es am Tag des Europäischen Denkmals offen, oder wie das hieß, wofür die Leute offenbar unbedingt McCarthys sauer verdiente Steuer ausgeben wollten. Aber seitdem hatte sich jemand anderer Zutritt verschafft.
Die erste Tür führte in eine kleine Werkstatt mit vergitterten Fenstern in den weiß getünchten Wänden. Es war hell, durch die Fenster fiel die frühe Morgensonne in den Raum. Die Besucher konnten von einem Mittelgang aus die Schleifsteine sehen, von denen sie eine schützende Absperrung aus Holz und Maschendraht fern hielt. Eine Staubschicht lag auf den Maschinen. Die Luft war stickig. Trockene Blätter lagen in dem Gang, die der Wind unter der Tür hereingeweht hatte. Räder, Metallplatten und Ölkannen standen auf den Fensterbänken und gegen die Wände gelehnt überall im Raum herum. Über seinem Kopf lief ein Schacht an der Decke entlang und durch ein Loch in der Wand in die nächste Werkstatt, in der die Wasserkraft mittels Riemenantrieb auf die Steine zu beiden Seiten des Mittelgangs übertragen wurde.
McCarthy kam der Raum unberührt und verlassen vor. Er glaubte nicht, dass der Unbekannte, der Shepherd Wheel besucht hatte, hier gewesen war.
Die zweite Tür führte zu einer größeren Werkstatt. McCarthy stieß die Tür auf und betrat den Raum. Ein übler, scharfer Geruch schlug ihm entgegen, ganz anders als die trockene, stickige Luft im ersten Arbeitsraum. Es war hier dunkler, vor den Fenstern standen Schatten spendende Bäume, und außerdem waren die Fensterläden geschlossen. Die Luft war feucht und kühl im Vergleich zu der Wärme im Freien. In der Stille hörte man Tropfen und Rieseln. In den dunklen Ecken lagen tiefe Schatten, das Licht von den Fenstern fiel auf die Zähne eines Zahnrads und einen glänzenden Riemen. Auch in diesem Raum lag dicker Staub. McCarthy sah sich um. Hinter sich entdeckte er in der Wand einen Kamin und richtete seine Taschenlampe darauf. Das Gitter der Feuerstelle war rostig. Unter dem Rost, im Ascheimer und vor der Feuerstelle lag Asche. Der Staub vor dem Feuer war zerwühlt, von Kratzern durchfurcht.
Er richtete den Strahl seiner Lampe auf die Steinplatten des Bodens und auf die Wand. Im Staub waren dunkle Flecken zu erkennen, etwas Langes hatte sich in den Stangen des Rosts verfangen – Fäden oder vielleicht Haare? McCarthy trat ein paar Schritte zurück, als das Team der Spurensicherung hereinkam, um mit der Arbeit zu beginnen. Er hatte das Kleiderbündel bei dem erloschenen Feuer, die Schleifspuren im Staub und, als er genauer hinsah, das Glänzen von schwarz verrußter Alufolie in der Feuerstelle bemerkt. Er wusste, dass es lange dauern würde, die Werkstätten gründlich zu untersuchen, die Ergebnisse von der Gerichtsmedizin abzuwarten und die Suche nach der Mordwaffe fortzusetzen, die bis jetzt erfolglos geblieben war. Als die Fensterläden aufgemacht wurden, klapperten sie, und ein dämmriges Licht fiel in den Raum.
A: Man kann nirgends hingehen.
F: Aha? Wie meinst du das?
A: Man kann nirgends hingehen.
F: Du meinst – in deiner Freizeit und so ?
A: Manchmal.
F: Was machst du denn gern? In deiner Freizeit .
A: So …?
F: Was machst du dann ?
A: Ich dachte, wir wären alle zusammen.
F: Was? Tut mir Leid, Ashley, das hab ich nicht mitgekriegt .
A: Ja, tut mir Leid.
F: Ashley, willst du das machen? Aber…
A: Ich sag es dir doch!
Suzanne schaltete den Rekorder ab und sah auf die Uhr. Halb acht. Zeit für eine Pause. Sie konzentrierte sich entschlossen auf ihre Arbeit. Sie könnte zur Universität hinaufgehen und ein paar produktive Stunden in der Bibliothek verbringen. Sie könnte mit einer richtig gründlichen Analyse des Tonbandes beginnen, dann hätte sie etwas, das sie Maggie Lewis, die ihre Magisterarbeit betreute, vorlegen konnte, wenn sie sie nächsten Mittwoch traf. Suzanne streckte sich. Nach dem Duschen hatte sie sich nicht angezogen und war sich jetzt nicht sicher, ob sie zuerst frühstücken oder sich ankleiden sollte. Sie hatte einen Termin in der Polizeidirektion in der Stadt und sollte wahrscheinlich besser überlegen als sonst, was sie anziehen würde. Zuerst also das Frühstück, dann etwas anziehen, das ihrem Selbstvertrauen auf die Sprünge half.
Sie stand in der Küche und machte gerade Toast, als es an die Tür klopfte. Bevor sie antworten konnte, wurde sie einen Spalt aufgemacht und Joel Severini, Lucys Vater, schlüpfte herein und begrüßte sie mit seinem lässigen Lächeln. »Wie geht’s?«, fragte er mit seinem typischen, leicht ironischen Tonfall. Er trug Jeans, sein Hemd stand offen und er war barfuß.
»Joel.« Suzanne blieb an der Küchentür stehen, und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie nur ihren dünnen Morgenmantel trug. Sie hatte nicht erwartet, Joel zu sehen, obwohl er – das fiel ihr jetzt ein – in letzter Zeit öfter da war. »Was machst du hier?« Es klang abweisender, als sie beabsichtigt hatte, aber sie versuchte nicht, den Satz mit einem weiteren Kommentar zu entschärfen. Warum sich die Mühe machen? Sie mochte Joel nicht, und er sie auch nicht. Das war kein Geheimnis.
Seine Augen wurden schmaler, aber er fasste die Frage als Einladung auf, hereinzukommen, und stand, mit der Schulter an die Wand gelehnt, ihr gegenüber. Er ließ den Blick kurz auf ihr ruhen, bevor er antwortete: »Lucy. Sie war verschwunden.«
»Ja, ich weiß.« Suzanne machte eine Bewegung mit den Schultern und zog den Morgenmantel vorn zusammen. Sein Blick machte sie verlegen. Na und?, hätte sie am liebsten gesagt.
»Also …« Sein Tonfall machte deutlich, dass er diese Frage überflüssig gefunden hätte. Vielleicht war sie ja ungerecht. Jane behauptete jedenfalls immer, Joel hätte Lucy gern, auf seine Art . Und er war ja tatsächlich sofort gekommen, sobald er davon gehört hatte.
»Wie geht’s Lucy? Und Jane?«
»Gut. Die Panik ist vorbei. Sie schlafen beide noch. Hör mal, hast du ’ne gute Tasse Tee hier drüben?« Er sah über den Hof zu Janes Hintertür. »Dort gibt’s ja nur Kräuter und Blüten, du weißt schon.«
Sie wies auf den Schrank. »Bedien dich.« Vielleicht würde er dann gehen.
Er ging zum Herd hinüber und sah nach, ob Wasser im Kocher war. »Willst du eine Tasse?« Suzanne schüttelte den Kopf. Sie hatte erwartet, dass er sich Teebeutel nehmen und dann gehen würde. Sie mochte nicht, dass er sich in ihrer Wohnung aufhielt. Als er sich den Tee zubereitete, wartete sie und sah zu, wie er sich bewegte. Seine Jeans saßen tief auf den schmalen Hüften, und sie sah das glatte Dreieck aus Haaren auf seinem Bauch. Als sie ihn vor fast sechs Jahren kennen lernte, hatte sie ihn gemocht. Mitten in dem Durcheinander bei Michaels Geburt und der plötzlichen und unaufhaltsamen Auflösung ihrer Ehe fand sie ihn sanft und einfühlsam. Wenn Dave, der immer lange bei der Arbeit war, die Geduld mit ihr verlor, sagte Joel oft: »Nimm’s doch nicht so schwer, Dave«, und warf ihr sein lässiges Lächeln zu. Manchmal, wenn sie allein war, weil Dave ein Engagement hatte, bei dem er über Nacht wegbleiben musste, kam er auf ein Bier vorbei, blieb eine Stunde oder so und unterhielt sich mit ihr. Es war eine Verführung – oder genauer gesagt eine Nicht-Verführung der demütigendsten Art.
Er hörte ihr zu, ermutigte sie, über Adam und Michael zu sprechen, und sagte ihr tröstende Worte, wie ihr Vater das nie getan hatte. Als sie sich Vorwürfe machte wegen der Art und Weise, wie ihre Beziehung zu Dave in die Brüche ging, kritisierte er Dave (scheinbar) zögernd, weil er ihr nicht beistehe, und erzählte ihr nur widerstrebend von den Frauen, die Dave traf, wenn er in der Band spielte, und so sorgte er dafür, dass sich ihre Beziehung von seiner ihr beruhigend übers Haar streichenden Hand, einem um die Schultern gelegten Arm zu einem (anscheinend uneingestandenen) Verlangen steigerte. Und ja, es stimmte, sie hatte ihn haben wollen, obwohl er Janes Partner und mit Dave befreundet war.
Und er wusste es genau und unternahm eines Abends, als sie und Dave einen besonders heftigen Streit gehabt hatten, einen ersten Vorstoß. Sie hatte sich zurückhalten können, obwohl sie Phantasien von einer Begegnung mit ihm gehabt hatte, die ihr über dunkle Stunden hinweghalfen. Und er hatte sie ausgelacht, kein mitfühlendes Lächeln über ihre törichten Skrupel oder etwa gespielte Belustigung, hinter der er seinen Ärger verbarg. Es war ein verächtliches Lachen. »Man nennt das Bumsen aus Mitgefühl, Suzie. Du wirst nicht viele Angebote bekommen. Sieh dich doch an«, hatte er gesagt. Er hatte sie nicht haben wollen – die beiläufige Verachtung seiner Worte bestätigte das –, aber er hatte wissen wollen, ob er sie haben konnte. Dann war er gegangen, und sie konnte wirklich keinem anderen außer sich selbst die Schuld geben.
Genauso wie Joel ihr langsam Gift einträufelte, wenn er über Dave sprach, tat er es bei Dave, wenn er sie schlecht machte. Sie konnte Joel nicht die Schuld am Zerbrechen ihrer Ehe geben, aber er hatte dazu beigetragen, hatte in einem entscheidenden Moment das prekäre Gleichgewicht zerstört. Sie hatte Jane nie erzählt, was passiert war, denn sie schämte sich zu sehr.
Dave hatte sich verändert, war älter und ernster geworden, aber Joel kam ihr jetzt genauso vor wie vor sechs Jahren. Ihr wurde bewusst, dass er über vierzig sein musste. Er hob plötzlich den Blick und sah, dass sie ihn anschaute. Sein Lächeln wurde etwas freundlicher, aber der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich nicht. »Was ist also gestern Abend gelaufen?« Seine Frage kam unerwartet, aber hauptsächlich überraschte sie die versteckte Sorge in seiner Stimme. Sie fing an, ihm über den gestrigen Morgen zu berichten, wie sie gemerkt hatten, dass Lucy und Emma verschwunden waren, aber er unterbrach sie. »Nein. Das hab ich alles schon von Jane gehört. Ungefähr fünfzigmal. Was ist geschehen, nachdem Lucy zurückkam?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts. Jane und Lucy waren schon weg, als ich nach Hause kam.«
Er trank von seinem Tee, sah aus dem Fenster, und seine Augen wurden schmal, als er überlegte. »Sie haben Lucy befragt. Jane hat das zugelassen. Sie durfte nicht einmal dabeisitzen.« »Lucy hat es nichts ausgemacht«, sagte sie. Er schien wütend.
»Ich nehme an, dass Jane dachte – wenn es helfen könnte bei der Suche nach … ich meine, Emma wurde – umgebracht, oder? Es war kein Unfall?«
Joel zuckte die Schultern. »Es war zu früh dafür, Lucy auszufragen. Sie haben keine Ahnung. Pass auf, Jane hört auf dich. Sprich du mit ihr. Sag ihr, sie soll verlangen, dass sie Lucy in Ruhe lassen.« Er leerte seine Tasse in die Spüle, sein Gesicht war starr und böse.
»Jane weiß, was für Lucy am besten ist«, erwiderte sie. Von Joel wollte sie sich keine Kritik anhören.
Er sah ihr in die Augen. »Du musst es ja wissen, oder Suzie?« Sie senkte den Blick. Er hatte Recht. Wie sollte sie das wissen? »Ich habe Dave angerufen«, fuhr er fort. »Er ist total wütend auf dich.« Er lächelte immer noch. »Stell dir mal vor. Wenn du Mike direkt hierher gebracht hättest, wäre Lucy zu Hause gewesen und du hättest nie etwas mit der Geschichte zu tun gehabt.« Sie sagte nichts. Er stellte die leere Tasse ab, ohne den Blick abzuwenden. Auf dem Weg zur Tür musste er an ihr vorbei. Er legte leicht seine Hand auf ihre Schulter, und sie zuckte zusammen und schüttelte ihn ab. Seine Augen leuchteten. »Du kannst sicher sein, deine Sünden werden irgendwann ans Tageslicht kommen, Suzie«, sagte er. Sie hörte ihn lachen, als er hinter sich die Tür zuschlug.
Das Einsatzzentrum war eingerichtet. Brooke war gerade dabei, die erste Einsatzbesprechung zu Ende zu bringen, und die verschiedenen Teams bereiteten ihre jeweiligen Aufgaben vor. Tina Barraclough machte sich ein Bild von der Situation und wartete ab, was geschehen würde. Dies war ihre erste große Ermittlung, seit sie befördert und Detective Constable geworden war, und sie wollte gute Arbeit leisten, sich einen Namen machen. Sie sah sich die Leute an, mit denen sie zu tun haben würde. Sie kannte Steve McCarthy, hatte schon mit ihm zusammengearbeitet. Sie würde auf Zack sein müssen, denn sie hatte ihn als ungeduldig und autoritär in Erinnerung. Pete Corvin, ihr Sergeant, war eine unbekannte Größe. Er war ein kräftig gebauter Mann mit rotem Gesicht, der eher einem Rausschmeißer glich als einem Detective Sergeant. Sie kannte die beiden anderen Detective Constables, Mark Griffith und Liam Martin, ziemlich gut. Mark war ihr Kollege gewesen, als er noch bei der Schutzpolizei war, doch sie kannte beide auch aus dem Pub.
Emma Allan war erstickt. In Mund und Rachen waren Schnittwunden von einem Messer, sagte die Pathologin, als habe jemand der jungen Frau die Klinge in einem Moment unbeherrschter Wut in den Mund gestoßen. Sie war an ihrem eigenen Blut erstickt. Da sie sonst keine Verletzungen hatte, bedeutete dies, dass sie bis zum Augenblick des Überfalls ihrem Angreifer vertraut hatte. An ihrem Arm waren Nadeleinstiche. Alufolie, die zum Erhitzen von Heroin benutzt worden war, fand man in der Feuerstelle. Aber sonst tauchten dort keine weiteren Beweise für Drogenkonsum auf, keine Kanülen, Spritzen oder leeren Plastiktütchen.
Steve McCarthy fasste die Vorgeschichte zusammen. Er berichtete über die Vorfälle am Tag zuvor, als Lucy Fielding verschwunden war. Zuerst hatte es nach einem Missverständnis ausgesehen, sie kannten solche Situationen nur allzu gut: Eine Mutter wähnte ihr Kind an einem bestimmten Ort, während die Person bei dem Kind meinte, sie sollten woanders sein. Aber eine Routineüberprüfung hatte ihre Alarmglocken schrillen lassen.
Emma Allan, siebzehn, war bei der Polizei bekannt. Mit vierzehn hatte sie oft die Schule geschwänzt und war in Ladendiebstähle und sonstige Bagatelldelikte verwickelt gewesen. Bevor sie fünfzehn wurde, war sie schon zweimal von zu Hause weggelaufen, danach schienen sich die Meinungsverschiedenheiten mit ihren Eltern beruhigt zu haben, jedenfalls bis vor kurzem. Nach dem Tod ihrer Mutter, im März, war sie von ihrem Vater als vermisst gemeldet worden. Kürzlich hatte sie eine Verwarnung wegen Drogenbesitzes erhalten und war in der Wohnung eines bekannten Heroinsüchtigen aufgegriffen worden, der seine Sucht durch Dealen finanzierte. »Bei Mrs. Fielding machte sie falsche Angaben. Sie gab sich als Studentin aus, dabei war sie nie an der Universität eingeschrieben gewesen. Sie war sowieso zu jung dazu«, sagte McCarthy.
Wie Emma in letzter Zeit gelebt hatte, war unklar. Ihr Vater behauptete, er hätte seine Tochter nicht mehr gesehen, seit sie von zu Hause weggegangen war. »Hatte er versucht, sie zu sehen? Hat er nach ihr gesucht?« Barraclough missfielen Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmerten.
»Er sagte, er hätte sie gesucht.« McCarthy notierte etwas auf dem Blatt in seiner Hand. Er sah auf das Team. »Wir wissen, dass Emma mit einer Studentin, Sophie Dutton, befreundet war, die bis vor einem Monat auf das Kind von Mrs. Fielding aufgepasst hat. Dutton hat in der Carleton Road 14 gewohnt, direkt neben Jane Fielding. Es ist ein Haus mit Studentenwohnungen. Jetzt steht es leer. Wir wissen nicht, wie gut sie die anderen Bewohner kannte – darum müssen wir uns kümmern. Aber nach dem, was Mrs. Fielding und die andere Frau« – er sah in seinen Notizen nach – »… Mrs. Milner, sagten, waren Emma Allan und Sophie Dutton oft zusammen.«
»Ist Dutton vorbestraft?« Corvin stellte eine logische Verbindung her.
McCarthy zuckte die Schultern. »Wir haben nichts in den Akten. Laut Fielding ist Dutton unschuldig wie ein Engel. Sie raucht nicht, trinkt nicht, kommt aus einem Dorf an der Ostküste.« Seine unausgesprochene Skepsis wurde von den Kollegen geteilt. Sophie Dutton war mit ihrem tugendhaften Lebenswandel, den McCarthy geschildert hatte, als gute Freundin für jemanden mit den Interessen und der Vorgeschichte von Emma Allan eher unwahrscheinlich.
»Wie sind die beiden Freundinnen geworden? Studenten stecken doch meistens in Cliquen zusammen.« Barraclough kannte die Kluft zwischen studentischem Leben und Stadtbewohnern. McCarthy schüttelte den Kopf. Sie wussten nichts darüber.
»Wir müssen dringend mit dieser Dutton sprechen«, sagte Brooke zu den Beamten der Sonderkommission. »Wir müssen mehr über Emmas Leben in der letzten Zeit herausfinden – wo sie wohnte, womit sie sich beschäftigt hat und was sie mit wem zusammen getan hat.« Er wischte seine Brillengläser ab, und sein Gesicht wirkte ohne die Brille merkwürdig unkonzentriert. »Wann ist Dutton weggezogen? Sie ist doch zu ihren Eltern zurückgegangen, stimmt’s?«
McCarthy nickte. »Fielding sagt, sie sei im Mai gegangen. Wir versuchen jetzt, über ihre Eltern mit ihr Kontakt aufzunehmen.«
Emmas Kleider waren zu einem Bündel zusammengepackt am Kamin gefunden worden: Jeans, Schlüpfer und Sandalen. Sie waren nicht zerrissen oder beschädigt. Keine Anzeichen für ein Sexualdelikt. Die Pathologin war sich nicht sicher, ob es zu sexuellen Handlungen gekommen war. Entsprechende Spuren hatte es nicht gegeben, aber vielleicht hatte das Wasser sie zerstört.
Brooke kam jetzt zum Ende. »Okay. Noch Fragen?«
»Eines ist mir nicht klar.« Barraclough überflog ihre Notizen. »Ich sehe ein, warum er sie unter das Wasserrad geworfen haben könnte. Er brauchte sie ja nur durch das hintere Fenster zu stoßen – und der Hof ist gut gegen Einblicke von außen geschützt. Es hätte Tage oder Wochen dauern können, bevor sie gefunden wurde. Aber warum das Rad in Bewegung setzen? Sollten wir sie finden?«
Niemand wusste darauf eine gute Antwort. »Jemand, der ein bisschen zu wenig Grips mitbekommen hat?«, vermutete Corvin.
McCarthy nickte. »Kann sein. In letzter Zeit ist ein Exhibitionist im Park gewesen, und dann hat es ja den Angriff zwei Meilen weiter oben am Weg beim Wire Mill Dam gegeben. Das war vor zwölf Monaten. Der Fall ist noch nicht gelöst.«
Ein zufälliger Mord? Sie konnten diese Möglichkeit nicht ausschließen, Barraclough wusste das. Ein Exhibitionist im Park, jemand, der Emma beobachtet hatte, der zusah, wie sie mit ihrem Freund Sex hatte, und der dann eigene Ideen hatte, was er tun wollte. Wenn Emma freiwillig zum Shepherd Wheel gegangen war … sie blätterte in den Zeugenaussagen zurück, die sie bis jetzt hatten sammeln können. Ein Spaziergänger mit seinem Hund hatte eine Frau gesehen, auf die Emmas Beschreibung passte und die um halb elf vormittags ihrem Tod in die Arme lief – Barraclough konnte sich an diesem Ort immer noch kein Rendezvous zu einem Schäferstündchen vorstellen. Er schien zu düster und wenig einladend. »Steckt ein Messer in sie rein statt seinen Schwanz«, sagte Corvin.
»Jemand, der sich schuldig fühlte und erwischt werden wollte?« Barraclough gefiel die Idee eines Zufallsmörders nicht – und sie gefiel auch sonst niemandem. Das waren oft die schwierigsten Fälle, die am meisten Aufmerksamkeit forderten.
»Was ist mit dem Vater?« Corvins Bemerkung war die logische Folge auf Barracloughs Feststellung.
Brooke mischte sich wieder ein. »Dennis Allan. In letzter Zeit nichts, keine Berichte von den Sozialdiensten. Aber er hat 1982 gesessen, Alkohol am Steuer. Hat ein Kind überfahren und bekam ein Jahr. Wir haben gestern Abend mit ihm gesprochen, nur eine erste Voruntersuchung. Er kommt gleich morgen früh. Steve, Sie verhören ihn. Wir müssen genau wissen, warum sie von zu Hause weggegangen ist.« Er hielt einen Augenblick inne und beantwortete dann die unausgesprochene Frage. »Er ist noch lange nicht aus der Schusslinie.«
»Was ist mit Emmas Mutter geschehen?«, fragte jetzt wieder Corvin.
Brooke sah seine Kollegen einen Moment lang an. In seinen Brillengläsern spiegelte sich die Sonne und verbarg seinen Gesichtsausdruck. »Sie nahm eine Überdosis Tabletten. Ist gestorben. Es wurde Tod durch Unfall festgestellt.« Ein Murmeln war zu hören.
»Schuldgefühle«, sagte Barraclough.
Emmas Vater war ein kleiner Mann von Anfang fünfzig. Er sah seiner hübschen, blonden Tochter gar nicht ähnlich. Die wenigen Haare, die er noch hatte, waren rötlich mit grauen Strähnen. Sein Gesicht war aufgedunsen, hatte geplatzte Äderchen und eine blasse Haut. Er wirkte ungesund, war verlegen und machte auf McCarthy nicht den Eindruck eines trauernden Vaters. Aus Emmas Akte ging eine Geschichte hervor, die McCarthy gar nicht gefiel. Etwas in ihrem Leben – lange vor den jetzigen Ereignissen und lange vor dem Tod ihrer Mutter – war schief gegangen. Emma war nicht einfach ein Teenager, der durch den Verlust der Mutter traumatisiert war.
Sie hatten die Formalitäten erledigt und gerade festgestellt, dass Allan kein Alibi für den Vormittag des gestrigen Tages hatte. »Was ich gemacht habe?«, sagte er, offenbar von der Frage überrascht. »Ich hatte Nachtschicht. Bin heimgekommen und hab mich schlafen gelegt.« Niemand außer dem Zeitungshändler hatte ihn gegen acht Uhr gesehen. Er war schnell im Laden vorbeigegangen, um eine Zeitung und Zigaretten zu holen. Er wurde nervös, als er begriff, was McCarthys Fragen zu bedeuten hatten. Sein Gesicht und auch seine Augenlider röteten sich. McCarthy wartete, um zu sehen, ob er Einwände erheben würde, aber er sagte nichts, spielte nur unruhig mit den Händen.
»Lassen Sie uns mal ein paar Wochen zurückdenken, Mr. Allan.« McCarthy fand es an der Zeit, ein bisschen Druck zu machen. »Ich habe gehört, Sie haben Ihre Frau verloren …«
»Im März, Ende März.« Der Mann schien ganz eifrig, es ihm zu erzählen.
McCarthy hatte das Datum vorliegen: der 29. März. Dennis Allan war an jenem Morgen um sechs von seiner Schicht heimgekommen und hatte seine Frau tot vorgefunden. »Es tut mir Leid.« Eine unerlässliche Formalität. »Könnten Sie mir erzählen, was passiert ist? Nehmen Sie sich Zeit, Mr. Allan.«
Die Augen des Mannes röteten sich noch mehr, und er blinzelte. »Sandy, meine Frau, sie…« Er schien Mühe zu haben, Worte zu finden. »Sie war krank, verstehen Sie, im Kopf. Die ganze Zeit unserer Ehe war das ein Problem. Sie hat Tabletten genommen, aber es hat nicht immer funktioniert, sie machten sie müde, da hat sie keine mehr genommen, und dann …« Er sah auf seine Hände hinunter, verdrehte und rieb sie. McCarthy legte die Fingerspitzen vor dem Mund gegeneinander und nickte. Dennis Allan sah ihn an. »Sie war immer, ich meine, sie …« Er schluckte. »Sie hat versucht, sich etwas anzutun, wissen Sie.« McCarthy nickte. »Sie wollte es eigentlich nicht, wissen Sie?« McCarthy nickte wieder. »Sie wollte es nicht, eigentlich nicht, aber wenn alles zu viel für sie wurde, dann nahm sie ihre Tabletten …« Er sah Tina Barraclough und dann McCarthy an, als bäte er sie um Verständnis.
»Dann hat sie also eine Überdosis genommen?«, half Barraclough nach.
Er schien dankbar. »Sie wollte es nicht tun«, sagte er.
»Aber …?« McCarthy sah die Farbe aus dem Gesicht des Mannes weichen.
»Sie hat eine Menge Tabletten genommen. Und dazu getrunken. Sie hat es getan, als ich auf der Arbeit war. Sie …« Er legte den Kopf in die Hände – ein Ausdruck des Kummers, für einen Mann, dessen Verlust noch nicht lange zurücklag, für einen Mann, der von zwei Todesfällen betroffen war, eine natürliche Geste. McCarthy fragte sich allerdings, warum sie ihn nicht überzeugte. Er wartete und merkte, dass Barraclough dem bedrückten Mann etwas sagen wollte. Er schüttelte leicht den Kopf, und sie lehnte sich zurück. McCarthy glaubte, Missbilligung auf ihrem unbeweglichen Gesicht wahrzunehmen. Nach einer Minute sprach Allan weiter. »Ich habe sie gefunden. Als ich von der Arbeit gekommen bin. Ich weiß nicht, ob sie es wirklich wollte.«
»Und Emma?«, fragte McCarthy leise.
»Emma ist einfach… sie hat noch am selben Tag ihre Sachen gepackt. Sie wollte nicht mit mir sprechen.« Er sah die zwei Beamten an und versuchte einzuschätzen, ob sie Verständnis für ihn hatten. »Sie ist einfach gegangen. Ich versuchte, sie am College zu finden, aber sie sagten mir, sie hätte sich überhaupt nicht eingeschrieben. Nicht mal zur Beerdigung ihrer Mutter ist sie gekommen.« Er klang verzweifelt.
Bei der Suche nach Lucy war die Polizei auf Zeugen gestoßen, die sich daran erinnerten, Emma genau um die Zeit im Park gesehen zu haben, als sie und Lucy nach Jane Fieldings Aussage weggegangen waren. Eine Frau, die ihre Tochter zur Schule gebracht hatte, sah Emma und Lucy auf dem Spielplatz beim Tor und hatte sich gefragt, warum Lucy nicht in der Schule war. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, erinnerte sich, eine junge Frau auf dem Weg zu Shepherd Wheel gesehen zu haben, die schnell ging und deren Aussehen der Beschreibung Emmas entsprach. »Ich bemerkte sie, weil sie etwas ängstlich aussah.«
Sie war allein gewesen. Er war ganz sicher, dass sie kein Kind bei sich hatte. Was war also mit Lucy geschehen? McCarthy hoffte, dass die Befragung, die durch das Team für Kinderschutz aufgenommen wurde, den Schlüssel dazu liefern würde. Man hatte Lucy befragt, kurz nachdem sie müde, aber unverletzt eine halbe Meile von Shepherd Wheel entfernt im Wald aufgetaucht war.
Aber Lucys Aussagen waren verwirrend und nicht schlüssig. Sie war noch sehr klein – gerade sechs – und phantasierte und vermischte Dinge, die tatsächlich passiert waren, mit ihren eigenen Geschichten und Tagträumen. Die für die Arbeit mit Kindern geschulte Beamtin, Alicia Hamilton, konnte einige der rätselhaftesten Einzelheiten ihrer Geschichte erklären. »Da könnte etwas dahinter stecken oder auch nicht«, hatte sie gesagt, als sie das Band mit Lucys Befragung mit dem Team durchsprach. »Emma scheint ein Spiel erfunden zu haben, bei dem es um das Jagen von Monstern ging. Aber das ist nicht alles.« Dann ging Emma die Monster jagen, und ich ging zu den Schaukeln. Na ja, sie ging, aber ich bin weggelaufen.
»Das ist recht interessant.« Hamilton hatte das Band angehalten. »Man braucht eine Weile, um da durchzusteigen – das werden Sie gleich sehen –, aber es sieht so aus, als hätte Emma ein bestimmtes Ritual gehabt. Nach dem, was Lucy sagt, ging Emma weg, um die Monster zu jagen, und Lucy blieb auf dem Spielplatz. Dann kaufte Emma ihr ein Eis, wenn sie brav gewesen war.« Bis hierher war Lucys Erzählung klar, sogar wenn man annahm, dass Emma etwas Gefährliches tat.
Ich hab es ihr gesagt. Einmal, zweimal, dreimal. Dann holen sie dich.
Aber später wurden die phantastischen Geschichten des Kindes auf dem Band unverständlich.
Warum bist du in den Wald gegangen, Lucy?
Wegen den Monstern. Weil der Ashman …
Erzähl mir vom Ashman, Lucy.
Er ist Tambys Freund. Aber nicht wirklich. Tamby ist mein Freund.
Wer ist Tamby, Lucy?
Er ist mein Freund.
Was ist mit dem Ashman?
Der Ashman … der Ashman ist Emmas Freund.
Erzähl mir von ihm.
Ich hab doch gesagt, er ist Emmas Freund. Und Tamby auch.
»Ihre Mutter sagt, dass diese Figuren in ihren Geschichten vorkommen. Tamby ist jemand, mit dem sie im Garten und im Park zu spielen behauptet. Dieser Ashman ist so eine Art Riese oder Ungeheuer …« McCarthy bekam allmählich Kopfschmerzen. Hamilton fuhr fort: »Es ist nicht alles ausgedacht. Jemand ist tatsächlich da gewesen. Jemand muss sie zum Spielplatz am Forge Dam hinaufgebracht haben. Er ist für die Kleine allein zu weit weg. Und jemand hat ihr Geld gegeben, um sich Eis zu kaufen. Aber wer es war, das kann oder will Lucy uns nicht sagen.«
Suzanne wartete, bis sie den Motor von Joels Motorrad hörte, das gedämpfte Dröhnen einer Maschine, die viel zu teuer war für jemanden, der behauptete, er könne keinen Unterhalt für sein Kind zahlen. Jetzt konnte sie sicher sein, dass er gegangen war. Sie huschte über den Hof, klopfte an Janes Tür und machte sie auf. Jane saß mit einem Becher in der Hand am Küchentisch und starrte in die Luft. Ihr Skizzenblock lag vor ihr. Als Suzanne hereinkam, stand sie auf und umarmte sie schnell. »Ich hab’s gehört«, sagte sie bei der Begrüßung. » Du hast sie gefunden.«
Suzanne erwiderte die Umarmung. »Wie geht’s ihr? Ist alles in Ordnung?«
Jane nickte und setzte sich wieder an den Tisch. »Ja. Sie ist ein bisschen still, aber sie erholt sich. Die Polizei hat mich gleich zu der Abteilung für die Befragung von Kindern gebracht.« Jane nahm die Teekanne und goss Suzanne eine Tasse der hellen Flüssigkeit ein. Kamillenduft verbreitete sich im Raum.
»Was ist passiert? Hat jemand…?« Suzanne wusste, dass Janes ruhige Haltung täuschen konnte.
»Emma hat sie allein gelassen, einfach so, und ist weggegangen.« Auf ihrem sonst immer sanften Gesicht lag jetzt ein harter Ausdruck. »Offenbar war es Emmas Angewohnheit, Lucy irgendwo zurückzulassen und wegzugehen. Sie hat sie dazu gekriegt, dazubleiben. Aber Lucy tat es diesmal wegen des Termins in der Klinik nicht. Bei der Polizei meint man, jemand sei auf dem Spielplatz bei ihr gewesen, aber Lucy bestreitet das. Sie sagte, sie hätte sich vor den Monstern versteckt. Aber sie tut das jetzt immer. Und sie sagte, Tamby hätte ihr geholfen, und dann noch etwas über den Ashman.« Suzanne kannte die Namen von Lucy von ihren Treffen, wenn sie mit ihr zusammengesessen und ihre Geschichten gehört hatte. »Ich habe gestern Abend mit ihr gesprochen und heute früh wieder. Ich glaube, sie war allein. Sie kennt den Weg zum Forge Dam. Wir sind oft genug dahingegangen. Mir läuft es eiskalt über den Rücken, wenn ich daran denke, dass sie durch diesen Wald gelaufen ist. Und über die Straßen.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, dann sah sie Suzanne an. »Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen. Unglaublich, dass ich Emma einfach…«
Suzanne konnte ihre Schuldgefühle gut verstehen. »Du hast gedacht, du kennst sie. Wir beide dachten das.«
Jane konnte es nicht so leicht damit entschuldigen. »Ich kannte Sophie«, sagte sie. Suzanne wartete einen Augenblick, dann sprach Jane weiter. »Wer immer … es getan hat, muss sich an Emma herangemacht haben, nachdem sie, Gott sei Dank, Lucy zurückgelassen hatte. Ich glaube nicht, dass sie etwas gesehen hat. Joel hat gesagt, ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie sie befragen, aber…« Jane warf ihr einen vorsichtigen Blick zu, als sie Schritte auf der Treppe hörten. Sie fing an, in ihrem Skizzenblock zu blättern. »Ich habe während des Wartens gezeichnet«, sagte sie.
Lucy kam mit einer Pfauenfeder herein, ein Geschenk von Sophie, das einer ihrer Schätze war. »Hallo, Lucy«, sagte Suzanne und konnte nicht anders, als das kleine Mädchen in den Arm zu nehmen.
Lucy entwand sich ihr ungeduldig. »Ich hab keine Zeit «, sagte sie.
»Ich weiß, es tut mir Leid, Lucy. Was machst du denn?«
Lucy presste die Lippen aufeinander, dann ließ sie sich erweichen. »Ich spiele. Tamby jagt die Monster.« Sie schaute auf die zwei Frauen. »Ich habe nicht mit der richtigen Polizei gesprochen. Ich habe Alicia von den Monstern erzählt.«
»Die Beamtin, die für die Befragung von Kindern zuständig ist«, erklärte Jane, »und mit ihr gesprochen hat.«
Suzanne fröstelte. »Ich weiß.« Wir wollen dem Jungen helfen .
»Ich geh jetzt in den Garten«, sagte Lucy.
Jane sah ihr nach, als sie, die Feder vorsichtig in der Hand haltend, die Stufe hinunter und in den Hinterhof ging. »Immer noch die Monster«, sagte sie. Suzanne strengte sich an, sich auf Jane zu konzentrieren, die in dem Skizzenblock blätterte, bis sie zu der Seite kam, die sie suchte. »Endlich habe ich es richtig hingekriegt«, sagte sie. »Ich hab das gestern gemacht, als ich wartete, während sie Lucy befragten.«
Suzanne sah das vertraute Bild: die Reihenhäuser, die Mülleimer an den Eingängen, die winzigen Vorgärtchen, schmale Streifen, die die Häuser von der Straße trennten, manche gepflegt und mit Blumen, andere von Büschen überwachsen und voll Unkraut und Müll. Es war die Szene, die sie jeden Tag von ihrem Schlafzimmerfenster aus sah, die aber durch Janes Stift merkwürdig neu und ungewohnt erschien. Die Zeichnung zeigte die Kontraste von Licht und Schatten und Stellen, wo die Sonne strahlend schien, und solche, wo die Schatten dunkel und undurchdringlich waren. Das Bild hatte für Suzanne etwas Beunruhigendes. Sie sah genauer hin. Andeutungsweise war etwas Übermenschliches, Drohendes zu spüren, das im Schatten eines Eingangs lauerte. Eine unnatürlich große Hand mit langen Nägeln ragte aus dem Deckel eines Mülleimers hervor. Ein Auge – vielleicht das eines Vogels? – spähte hinter einem Vorhang hervor. Der Vorhang wurde von einer Kralle zur Seite gezogen. Suzanne erkannte, dass ihr überall, wohin sie sah, merkwürdige Dinge entgegenblickten, halb verborgen, fast ganz versteckt, aber doch vorhanden. Dazwischen gingen die Leute fröhlich lächelnd und ahnungslos umher. Sie sah Jane an.
Janes Blick ruhte immer noch auf der Zeichnung. »Monster«, sagte sie.
Das Laub der Bäume war voll und dicht, die schweren Blätterdächer hingen über die Wege, die sich am Porter entlang durch den Wald zogen, durch das Mayfield-Tal hinunter zum verschlammten Teich bei Old Forge, am Café beim Spielplatz vorbei – und in die Tiefen des Waldes hineinführten, am Wire Mill Dam entlang, wo die weißen Seerosen blühten, und vorbei an den alten Fischreusen und Kanälen in die Parks hinunter und am dunklen stillen Shepherd-Wheel-Teich entlang. Hier grenzten die Häuser mit der Rückseite an den Park, große Steinhäuser, vorn dreistöckig, und hinten, wo die Gärten zum Fluss hinunter abfielen, mit vier Stockwerken. Die Bäume beschatteten die Gärten dieser Häuser, ihre Wurzeln gruben sich unter die Fundamente. Koniferen und Lorbeer wuchsen direkt an den Mauern. Die Keller hatten Türen zu den kleinen Gärten hinterm Haus, die vom Park durch niedrige Mauern abgegrenzt waren.
Der Garten hinter dem ersten Haus war verlassen und überwuchert. Die Herbstblätter lagen noch auf dem Boden, und Gänseblümchen und Löwenzahn sprossen dazwischen hervor. Ein Mülleimer war umgekippt, der Inhalt lag auf dem Asphalt verstreut und wurde in den Schmutz und das Moos hineingetreten. Füchse und Nager hatten alles Essbare aus dem Müll gezerrt, zerfetzt und auf dem Boden verstreut. Ein kleines Fleckchen Erde war frei geblieben, dessen Grenzen wie mit geradezu chirurgischer Präzision gezogen schienen. Dort hatte jemand Kapuzinerkresse und Vergissmeinnicht gepflanzt, die auf dem trockenen Boden zu welken anfingen.
Das Kellerfenster war dunkel. An die Rückseite der Häuser kam keine Sonne, die Bäume hielten das Sonnenlicht ab. Das Weiß der Wände schimmerte schwach in der Dunkelheit. Bilder waren an die Wände geheftet, jedes ein weißes Rechteck mit einer Zeichnung genau in der Mitte des Blattes. Die Strichelung war fein und dicht und hielt jedes kleine Detail akribisch fest. Hier ein Bild eines blonden Teenagers, dort das eines Jungen mit dunklen Augen oder eines mit einer lachenden jungen Frau. Einmal späht ein Kind wachsam durch wirres Haar, dann noch einmal das Kind, ein Mädchen, über irgendein Spielzeug gebeugt, das auf der Zeichnung nicht zu sehen ist, so dass seine Hände mit einem weißen Nichts zu spielen scheinen.
Jedes Blatt hat die gleiche Größe, und der Abstand zwischen den einzelnen Bildern ist genau bemessen. Zuerst das junge Mädchen, danach der Junge, dann die Frau, das Kind. Das Mädchen, der Junge, die Frau, das Kind. Aber dann halten die Bilder sich nicht mehr an die Reihenfolge: das Mädchen, das Kind, der Junge; das Mädchen, das Kind, der Junge; das Kind, der Junge; das Kind, der Junge … und dann bricht die Reihe plötzlich in der Mitte der Wand ab.
Suzanne erkannte den Mann wieder, der sie befragte. Es war der Beamte, der am Tag zuvor bei Jane gewesen war, der Mann, der mit ihr gesprochen hatte, nachdem sie Emma im Wasser gefunden hatte. Detective Inspector McCarthy. Sie hatte sich für die Befragung sorgfältig zurechtgemacht, sie trug ihr bestes Kostüm – vielmehr, ihr einziges Kostüm. Sie hatte sich geschminkt und die Haare gefönt, bis aus den feinen Locken eine glänzende, schnittige Frisur entstand. Aber trotz all dieser sorgfältigen Vorbereitungen war sie angespannt und nervös. Sie war seit dem letzten ihrer vielen Besuche nie wieder auf einer Polizeiwache gewesen – seit damals, als Adam in störrischem Schweigen dasaß, bis sich schließlich das verängstigte Kind zeigte, das Suzanne hinter der herausfordernden Fassade erkannte. Sie waren immer wieder zusammen aus Polizeiwachen und Jugendgerichten herausgekommen, bis auf das letzte Mal, als sie allein weggehen musste und Adams Stimme hinter sich hörte. Hör mir zu, Suzanne !
Sie zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Als sie in die kalten Augen des Mannes auf der anderen Seite des Tisches sah, war ihr klar, dass sie auf der Hut sein musste. Am Abend davor hatte sie schon einmal erzählt, wie sie Emma gefunden hatte, aber er stellte erneut dieselben Fragen und war offensichtlich mit Teilen ihrer Aussage nicht zufrieden. Suzanne merkte, dass sie ihren Impuls, das Rad zu untersuchen, nicht erklären konnte. Ihr erschien es ebenso natürlich, als wenn man sich umsieht, weil jemand Achtung! ruft, aber er schien dies nicht verstehen oder akzeptieren zu können.
»Es war also nicht leicht, in den Hof zu kommen«, sagte er wieder.
»Nein, ich musste über den Zaun klettern.«
»Über dieses Gitter? Es ist ganz schön gefährlich, darüber zu klettern.«
Das stimmte, es war gefährlich gewesen. Suzanne fragte sich, wieso sie nicht daran gedacht hatte, bevor sie hinaufstieg – sie hatte es eben einfach getan. McCarthy hatte ihr eigentlich keine Frage gestellt, also sagte sie nichts. Nach einer Weile sagte er: »Ich versuche herauszufinden, Mrs. Milner …«
»Miss«, unterbrach ihn Suzanne. Sie sah, wie er sie kurz und abschätzig taxierte und dachte an Joel, der sie am Morgen in der Küche beobachtet hatte.
» Miss Milner, ich möchte wissen, warum Sie, ohne einen Grund, glauben, dass da etwas nicht in Ordnung war, sich die Mühe gemacht haben.«
»Wissen Sie immer, warum Sie etwas tun?« Sie bedauerte diese Frage sofort, als sie sie gestellt hatte. Sie hörte sich an, als wolle sie sich verteidigen, und bemerkte, dass er die Angewohnheit hatte, nicht zu antworten, und etwas, das gesagt wurde, einfach unbeachtet zu lassen. Er lehnte sich im Stuhl zurück und sah Suzanne unverwandt in die Augen, als erwarte er etwas von ihr. Sie spürte, wie sie anfing, unregelmäßig zu atmen, und versuchte sich abzulenken, um sich zu entspannen. Sie sah auf ihre Hände. Ihre Nägel waren in Ordnung, außer dem, den sie gestern heruntergebissen hatte. Unter dem Daumennagel saß Schmutz, den sie herauszukratzen versuchte. Sie war froh, dass sie sich die Zeit zum Lackieren genommen hatte. Irgendwie gab ihr das mehr Selbstvertrauen. Als ihr Atem sich beruhigt hatte, konnte sie seine Frage noch immer nicht beantworten. »Ich weiß nicht …«, sagte sie schließlich, da ihr sonst nichts einfiel. Sie sah, dass sein Gesichtsausdruck härter wurde, und wiederholte ihre Antwort. »Ich weiß es wirklich nicht. Sie wissen doch, was passiert ist. Vielleicht dachte ich, es hätte etwas mit Lucy zu tun.«
»Dachten Sie das?«
»Ich weiß nicht.« Wieder am toten Punkt. Er wartete schweigend. Sie spürte, wie der Druck stieg. Sie erwartete fast, auf der anderen Seite des Tisches die Frau zu sehen, die beim letzten Mal wegen Adam mit ihr gesprochen hatte. Wir wollen dem Jungen helfen, Suzanne . Absichtlich fing sie an, in Gedanken die Testskala für die Kommunikationsfähigkeit durchzugehen, die sie für das Alpha-Projekt leicht abgeändert hatte. Man stellte eine Abfolge von Fragen, die ziemlich leicht zu beantworten waren, dann verglich man die Antworten, die man tatsächlich bekam, mit einer Checkliste. Keine Antwort. Im Kontext unpassende Antwort – wie bei Ashley, als sie ihm Fragen über seine Familie gestellt hatte … Es war merkwürdig, wie Ashley in dem Gespräch reagiert hatte. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob er auch solch seltsame Antworten gegeben hatte, als sie in der Cafeteria mit ihm sprach …
»… im Hof, Miss Milner?«
»Tut mir Leid. Könnten Sie …«
Wieder verhärtete sich sein Gesichtsausdruck, was sie diesmal verstehen konnte, sie hätte aufpassen sollen. Es ließ ihn etwas menschlicher erscheinen. »Haben Sie irgendetwas gesehen, das Sie auf die Idee brachte, im Hof könnte etwas los sein?«
»Ach so. Tut mir Leid. Ich bin etwas müde.« Sie versuchte zu lächeln. Es gab keinen Grund, feindselige Gefühle gegen ihn zu haben, sagte sie sich. Dies hier hatte nichts mit Adam zu tun. Er schwieg und wartete auf ihre Antwort. Aber sehr menschlich nun auch wieder nicht . »Na ja, an dem Abend nicht, ich meine außer, Sie wissen ja …« Ach Gott, jetzt rede doch mal, Suzanne! »Fragen Sie mich jetzt über den Abend oder den Morgen?«
»Sie waren gestern früh im Park?« Sie erinnerte sich erst jetzt, dass sie ihnen das nicht gesagt hatte. Sie hatte sie in dem Glauben gelassen, ihr Besuch im Park am Abend sei der einzige an diesem Tag gewesen. Seine Stimme klang nicht erregt, aber sie glaubte trotzdem, Ärger herauszuhören. Sie kam sich dumm vor, war aber auch wütend. Konnte er das nicht begreifen? War er so an Gewalttätigkeit und plötzliche Todesfälle gewöhnt, dass er einfach wie ein Automat weitermachte und von allen anderen das Gleiche erwartete?
»Ja.« Es gab wohl weiter nichts zu sagen.
»Um wie viel Uhr?«
Suzanne dachte nach. »Ich bin um halb zehn in den Park gegangen und kam gegen halb elf zurück. Ich laufe. Ich jogge. Ich lief durch den Endcliffe Park, überquerte dann die breite Straße und ging weiter durch den Bingham Park.« Sie erzählte, dass sie das Schild mit der Warnung gesehen hatte.
Er verbarg seinen Ärger nicht mehr. »Warum haben Sie das nicht gestern gesagt?«
Sie fühlte, wie sie rot wurde. Sie hasste es, bei einem Fehler ertappt zu werden. »Es ist nur … Die ganze Sache mit Lucy. Ich konnte an nichts anderes mehr denken.«
Er nickte, offensichtlich unzufrieden, und kehrte zu dem Schild zurück. Es schien ihn genauso ratlos zu machen wie sie, und er fragte nach Leuten, die sie regelmäßig im Park sah, ob es irgendwelchen Ärger mit Exhibitionisten gegeben hatte oder ob sie irgendwelche anderen merkwürdigen Leute gesehen hatte, die ihr Angst machten, irgendetwas . Sie hörte sich immer nur sagen: Nein… nein… nein… nie, nein.
Dann erzählte sie ihm vom Hof mit dem Wasserrad, dass das Tor offen stand und sie zu dem Rad gegangen war. Sein Gesicht veränderte sich nicht, aber es kam ihr vor, als könne sie die Gedanken hinter diesen ausdruckslosen Augen lesen. Sie unterdrückte ihren Wunsch, sich zu entschuldigen oder es zu erklären, und versuchte, ihre Geschichte ruhig und klar zu erzählen. Er fragte sie immer wieder nach dem Ablauf. Sie schloss die Augen und versuchte, alles klar vor sich zu sehen. »Es war mein Spiegelbild«, sagte sie. »Ich winkte, und es winkte zurück.« Das düstere, absurde Bild von Emma, der toten Emma, die ihr zuwinkte, verstörte sie noch immer, und ihre Erklärungen verstummten langsam.
Es schien fast vorbei zu sein. Jetzt, wo er sie nicht mehr wegen Informationen drängte, die sie nicht geben konnte, und wo seine Fragen sie nicht mehr als sträflich dumme Person hinstellten, fing sie an, lockerer zu werden. Es war wichtig, zu erklären, dass sie weder Lucy noch Emma gesehen hatte, aber sie musste ihm auch von dem Mann, dem Jugendlichen, erzählen, oder?, den sie in der Nähe von Shepherd Wheel gesehen hatte. »Ich habe nur eine Person in diesem Teil des Parks gesehen.« Sie rief sich das merkwürdige Gefühl des Erschreckens in Erinnerung, das die Gestalt in ihr hervorgerufen hatte. »Ich dachte zuerst, es sei jemand, den ich kenne, aber…«
»Wer war das?« McCarthys Stimme klang freundlich, aber sie wusste sofort, dass sie einen Fehler begangen hatte.
»Oh, er war es nicht«, sagte sie schnell. Zu schnell. »Ich dachte zuerst, er wäre es.« Sie fühlte, wie sich ihre Kehle zuschnürte und sie nur noch mühsam atmen konnte. Sie konzentrierte sich. Langsam atmen, gleichmäßig. Ruhig bleiben. Du bist dafür verantwortlich! Die endlose Litanei ihres Vaters. McCarthy sah sie ununterbrochen an. Noch mehr Unentschlossenheit würde alles nur schlimmer machen. Schließlich war es ja nicht Ashley gewesen. Sie konnte nur stockend sprechen, musste sich unterbrechen und Luft holen. »Nur einen Augenblick lang. Ich dachte … es wäre Ashley Reid … vom Alpha-Projekt … aber er war es nicht …« Es hätte nicht weniger überzeugend sein können, wenn sie absichtlich gelogen hätte.
McCarthy schaute die Computerdateien durch. Er war wütend und wollte mit demjenigen reden, der Suzanne Milner am Abend zuvor befragt hatte. Er hätte es selbst machen sollen. Aber sie hatten jetzt die Information. Etwa um Viertel nach zehn war das Hoftor offen gewesen, und jemand, ein junger Mann von einem bestimmten Aussehen, war dort gewesen und tatsächlich aus der Richtung des Hofs gekommen.
Er war ratlos und zugleich wütend. Eigentlich war das Beurteilen von Menschen beim Verhör eine seiner Stärken, aber Suzanne Milners Verhalten war merkwürdig gewesen. Gestern hatte sie wild entschlossen ihre Freundin beschützt, und später war sie völlig vom Schock überwältigt gewesen. Heute hatte sie sich hinter der Fassade einer sorgfältig gepflegten Akademikerin versteckt und war ihm ziemlich auf die Nerven gegangen. Sie war hereingekommen, ein Abbild kühler Eleganz, ganz anders als das Jeans-und-Pullover-Image von gestern. Zuerst hatte er ihre Haltung als feindselig interpretiert. Sie hatte aufrecht dagesessen, den Kopf zur Seite geneigt und ihre Fingernägel betrachtet, bevor sie eine Frage beantwortete. Sie warf ihm kurze Blicke zu, schaute aber schnell weg, wenn er sie ansah. Sie schien die ganze Sache als Spiel zu betrachten und gab ihm nur kurze, unbrauchbare Antworten auf die Fragen, die er klären musste.
Aber es war nur Schau, wie er dann im weiteren Verlauf des Gesprächs gemerkt hatte. Was er für Feindseligkeit gehalten hatte, war eigentlich Anspannung, oder eher Belastung, die mehr mit ihrer Umgebung als mit ihm selbst zusammenhing. Es war fast so, als hätte sie Probleme, sich überhaupt auf das Gespräch zu konzentrieren.
Er schaute auf seine Notizen. Ihre Verwirrung in Beziehung auf den Park konnte er akzeptieren. Sie hatte unter Schock gestanden und ihre Gedanken waren noch bei der Frau, die sie tot im Wasser gefunden hatte. Ihre Verlegenheit, zugeben zu müssen, dass sie während der fraglichen Zeit in der Nähe von Shepherd Wheel gewesen war und es nicht erwähnt hatte, war überzeugend.
Aber hatte sie versucht, ihm die Tatsache vorzuenthalten, dass sie jemanden gesehen hatte? Wenn ja, warum hatte sie es dann doch noch erwähnt? Es war seltsam. Er hatte gewusst , dass es da noch etwas gab, und er hatte Recht gehabt. Ashley Reid vom Alpha-Projekt. Warum gingen bei ihm die roten Lämpchen an? Er kannte den Namen. Okay, mal sehen, was Ashley wohl in der Zeit getan haben mochte. Mal sehen, was er letztes Mal verbrochen hatte, als er verhaftet und angeklagt wurde. Er gab die Befehle in den Computer ein und wartete.
Das Foto auf dem Bildschirm zeigte einen jungen Mann mit dichtem dunklem Haar und dunklen Augen, der McCarthy schwach lächelnd und argwöhnisch anblickte. Er war neunzehn – etwas älter als die meisten, die an dem Programm teilnehmen durften. McCarthy blätterte weiter zurück in der Akte. Reid hatte vor drei Jahren eine kurze Jugendstrafe bekommen – er war in einen Streit geraten und hatte seinen Gegner mit einer zerbrochenen Flasche verletzt. Die meisten seiner anderen Vergehen waren typisch für einen Jugendlichen aus einem zerrütteten Elternhaus: Ladendiebstahl, Autodiebstahl, mutwillige Sachbeschädigung. Aber Reid hatte dann mit Einbruch weitergemacht. Er war mehr als einmal verurteilt worden und hätte die Strafe absitzen sollen. Wieso war er im Alpha-Projekt? McCarthy las weiter. Reid wurden »Lernschwierigkeiten« attestiert. McCarthy war überrascht. Das Gesicht, das ihm von dem Foto entgegensah, machte nicht diesen Eindruck. Er war als besonders geeignet für das experimentelle Programm eingestuft worden, das beim Alpha-Projekt lief. Sein Bewährungshelfer hatte ihn nicht grundsätzlich schlecht, sondern vielmehr als leicht beeinflussbar beurteilt, als Typ, der auf intelligentere Gefährten hereinfiel. Dieses Argument hatte ihm das Gefängnis erspart.
McCarthy zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Dann bemerkte er, dass es noch eine anhängige Anklage gegen Reid gab, wegen der er bald vor Gericht erscheinen sollte. Jemand vom Sicherheitsdienst der Universität hatte ihn spätnachts auf dem Weg über den Parkplatz im Schatten hinter dem Chemischen Institut erwischt, einer praktischen, aber völlig menschenleeren Abkürzung. Ihm wurde vorgeworfen, dass er die Ausrüstung für einen Einbruch, ein Klappmesser und dickes Klebeband, bei sich hatte. Und eine Taschenlampe. McCarthys Meinung nach war das an diesem Ort keine Ausrüstung für einen Einbruch, sondern eher für eine Vergewaltigung.
Die Welt der chemischen Stoffe ist eine geordnete, in ihren Wirkungen vorhersehbare und sichere Welt für alle, die etwas davon verstehen. Es war Abend, und Simon ließ den Blick über die geraden Linien der Fliesen auf dem glänzenden Fußboden gleiten, die rechte Winkel und quadratische Muster bildeten. Kleine und größere Quadrate, jedes für sich aus vier kleinen Quadraten bestehend, die jeweils wieder vier kleine Quadrate enthielten und so weiter. Ordnung.
Er mischte die drei wasserlöslichen Substanzen, Acetamid, Calciumhypochlorat und Natriumhydroxyd – ganz vorsichtig – in Wasser, Vorsicht wegen der Wärmeentwicklung, und stellte die Lösungen in den Kühlschrank.
Die schweren Bänke waren in Reihen aufgestellt. Das helle Neonlicht an der Decke spiegelte sich in den Glasflächen der Flaschen, Röhren und anderen gewölbten Gefäße, und die Reflexionen flossen ineinander.
Das Wichtigste war, die Temperatur niedrig zu halten. Durch Experimentieren hatte er herausgefunden, dass sich eine Stahlschüssel auf einer Mischung aus Eis und Salz gut eignete, wenn er vorsichtig und geduldig war. Die nach ihrem Muster angeordneten Moleküle zerfallen bei der richtigen Aktivierung und fügen sich wieder zu neuen Mustern zusammen, die sich leicht voraussagen lassen. Faszinierend und schön.
Das Licht spiegelt sich, wird zu Strahlen gebrochen, die sich an den Glasgefäßen immer weiter brechen.
Er goss die erste Lösung in die Schüssel und rührte sie zur Abkühlung um. Dann fügte er langsam, behutsam die zweite Lösung hinzu, durch ein Absaugrohr gegen die Dämpfe geschützt. Achtung ! Einmal, nur ein einziges Mal, war mit der Anordnung, den Anteilen, dem Zeitablauf, irgendetwas nicht in Ordnung gewesen, und der Geruch von Chlor begann wie bei einem Desinfektionsmittel in den Raum zu dringen.
Jetzt brauchte er nur dazusitzen und zu warten. Zwei Stunden. Heute Abend hatte er seinen Zeichenblock mitgebracht. Er schlug eine neue Seite auf, deren reine, weiße Leere ihm gefiel, und betrachtete sie eine ganze Weile. Schritte auf dem glänzenden Fußboden. Ein Gesicht, das lächelte. Nur ein Gesicht. Gesichter mussten gezeichnet werden, sorgfältig, mit scharfen Bleistiftstrichen, um ihnen Bedeutung zu geben. »Hallo, Simon. Ich habe dich nicht gesehen bei …« Malcolm. Der Tutor. Abschalten. Nicht wichtig. Die Schönheit der leeren weißen Seite begann sich zu verlieren, und Simon nahm seinen Bleistift. »… so kurz vor Ihrer Prüfung.« Nicken. Das ist nicht genug, sag»ja«. Es war wichtig, das Bild genau in die Mitte zu setzen, der Bleistift fing an, ein Bild zu entwerfen, dünne Linien, präzise Details, zuerst unverständlich für jeden, der die Muster nicht sehen kann, die für Simon immer so klar waren.
»… aufholen. Dieses Labor ist heute Abend frei, aber Barry ist nebenan, wenn Sie etwas brauchen. Um neun Uhr wird abgeschlossen.« Ihre Blicke trafen sich. Simon sah weg und nickte. Sag: »Okay. Alles klar.« Schritte. Tür. Er ist fort. Simon schaute auf die Uhr und kehrte zu seiner Zeichnung zurück.
Zwei Stunden. Er fügte den Inhalt des dritten Gefäßes hinzu, es war kühl, aber nicht kalt. Das Gemisch wurde weiß wie Milch, wie Papier.
Jetzt stundenlang warten. Weggehen, die glänzenden Korridore und die Lichter an der Decke, das Durcheinander der Leute, die herumliefen, und alle Muster sind zerstört. Sag: »Gute Nacht.« Der Wachposten, alt, sagt »Nacht«. Er schaut nicht auf, merkt nichts, ist an Simons Kommen und Gehen gewöhnt. Raus aus seinem Blickfeld und dann zurück in den Raum mit dem glänzenden Fußboden. Warten.
Licht aus. Der Wachmann kommt bald wieder zurück. Warten, aufpassen, schlafen. Schlafen, träumen …
Das Licht der Taschenlampe schwankt auf dem Weg vor ihm. Es wird schwach, als würden die Batterien zu Ende gehen. Der Regen prasselt auf sie nieder, und eine Pfütze glänzt in dem schwachen Licht. Und auf dem Weg vor ihm… Er schwankt unter dem Gewicht, als sie gegen ihn baumelt. Der Stoff war gut, stark. Still, ganz still . Jetzt der Weg am Teich. Die Nacht außerhalb des schwachen Lichtkreises auf dem Boden – schwarze Nacht. Im Schein der Taschenlampe glänzen und glitzern die Regentropfen. Sie glänzen und schimmern wie der Schlamm im Teich, der dicke, schwarze Schlamm und die saugenden Geräusche, wenn die Füße einsinken und er sie wieder freigibt. Und der Ort, wo der Schlamm aufgewühlt war, der Ort, an dem man graben konnte.
O nein. Bitte das nicht . Und der Lichtstrahl ist kälter als die Feuerflamme und lässt das Metall wie Eis brennen.
Das nicht! Und das leise, gedämpfte Glucksen des Schlamms in der Dunkelheit.
Simon riss die Augen auf. Wieder dieser Traum, und da war noch ein anderer: Er geht schnell einen schattigen Pfad entlang, sucht etwas, das nicht da ist, fühlt, wie es ihm dicht auf den Fersen ist – das Chaos, das Chaos, das Chaos.
Er sah auf die Uhr, die schwarzen Zeiger auf dem weißen Zifferblatt besänftigten ihn, ließen seinen Atem ruhiger werden. Nur ein Traum, Si. Mach dir darüber keine Gedanken . Mehrere Stunden waren vergangen. Es war Mitternacht. So spät kam der Wachmann der Nachtschicht nie hier herauf. Simon fing an, das Wasserbad zu erhitzen.