Читать книгу Crime Collection IV - Danuta Reah - Страница 19
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Das Leben auf dem Hof eines Kleinbauern bleibt auch angesichts einer Tragödie nicht stehen. Und keiner der Duttons wollte allein zur Identifizierung ihrer Tochter fahren. So bekam Brookes Team erst am Mittwoch in den frühen Morgenstunden die Bestätigung, die man erwartete. Die Frau im See war Sophie Dutton. Ihr Vater, der seinen Kummer durch Wut zu betäuben versuchte, hatte darauf bestanden, mit Brooke zu sprechen, und damit gedroht, eine Beschwerde gegen das ganze Team anzustrengen. Er hatte wild um sich geschlagen gegen einen Angriff, der aus seinem eigenen Inneren kam. McCarthy verstand seine Schuldgefühle. Es war die nutzlose, quälende Schuld eines Vaters, der sein Kind nicht hatte beschützen können.
Sophies Vergangenheit war nach ihrer Adoption untadelig gewesen. Ihre Mutter hatte sie laut Tony Dutton rechtswirksam freigegeben, das Sorgerecht an die Behörden übertragen und war verschwunden. Somit wussten sie sehr wenig über ihre Familie. »Wir glauben, dass ihre Mutter vielleicht noch ein Kind hatte«, sagte er. »Sie sprach von ›dem anderen Baby‹ und hat sich oft nach ›dem anderen Baby‹ erkundigt. Maureen und ich, wir hätten alles darum gegeben…« Er schwieg einen Augenblick und sah seine Frau an. »Aber andere, die sich nichts aus Kindern machen, können sie so leicht kriegen wie die Karnickel.« Er hielt sich wieder an seiner Wut fest.
Maureen Dutton saß ruhig da und schwieg, und Barraclough fand, dass sie wie eine Porzellanfigur aussah, wie eine Puppe oder eine Frau, deren Lebensinhalt aus ihr herausgesickert war, ohne äußeren Schaden, sichtbare Wunden oder Spuren zu hinterlassen.
Kath Walker, Ashley Reids Tante, begrüßte Barraclough und Corvin verdrießlich mit den Worten: »Kommen Sie rein«, und während sie erklärten, was sie wollten, saß sie da, ohne zu lächeln. Es hätte keinen Sinn, sagte sie ihnen, sie nach ihrem Mann zu fragen. »Bryan und ich leben seit zehn Jahren getrennt«, sagte sie auf Corvins Frage. »Mittlerweile sind wir geschieden. Ich habe ihn seit Weihnachten vor zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er trinkt«, fügte sie hinzu. »Unsere Michelle hält den Kontakt mit ihm. Er besucht sie manchmal, wenn er knapp bei Kasse ist.« Barraclough sah das strenge Gesicht der Frau, ihr sorgfältig gekämmtes Haar, wie aufrecht und steif sie dasaß, und fragte sich, wie es wohl gewesen war, mit vier Jahren – klein, verwirrt und verletzlich – dieser Frau ausgeliefert zu werden. »Es gab von Anfang an nur Ärger«, erklärte sie, als Corvin nach Ashley und seinem Bruder Simon fragte. »Eigentlich kein Wunder. Bryans Schwester, Carolyn, gab sich mit all dem Hippiekram ab. Drogen. Musik. ›Freie Liebe‹ haben sie es genannt.«
»Aber Sie und Ihr Mann haben die Kinder aufgenommen«, sagte Corvin, um die Großzügigkeit dieser Geste anzuerkennen.
Kath Walker sah ihn starr an. »Wir gehörten ja zur Familie. Diese Kinder mussten doch irgendwo unterkommen. ›Nur für ein paar Monate‹, sagte Carolyn. ›Das gibt mir die Chance, mich im Job einzuarbeiten und uns eine Wohnung zu suchen. Nur ein paar Monate.‹ Dann hörten wir, dass sie nach Amerika gegangen war. Bryan und ich konnten kein Kind mehr kriegen, da hab ich gedacht… Aber die zwei …«
»Was war das Problem, Mrs. Walker?« Barraclough glaubte, aus diesen Worten eine sanftere Seite der Frau herausgehört zu haben.
»Es liegt in der Familie.« Kath Walkers Mund schloss sich abrupt.
»In der Familie?« Die Frau hatte ihre Schwägerin offensichtlich nicht gemocht, aber wie stand es mit dem Vater, mit Phillip Reid?
»Es lag in Bryans mieser Familie«, sagte sie. »Sie sind alle nichts geworden. Simon, der ältere Junge, war nicht richtig im Kopf. Wir konnten das nicht zulassen, nicht mit unserer Michelle. Er sah einen immer an, als wäre man überhaupt nicht da, und starrte alles auf seine unheimliche Art an. Er hat immer wieder dasselbe gemacht, immer wieder. Und wenn man dann wütend wurde…« Sie sah die beiden Beamten an. »Sie haben ihn weggesperrt.«
»Wann war das, Mrs. Walker?« McCarthy hatte gesagt, er wolle Simon Reid finden.
Sie kniff die Augen zusammen und rechnete. »Carolyn hat sie uns 1984 gebracht. Ja, da war’s, 1984. Dann wussten wir, dass sie nicht zurückkommen würde. Wir konnten mit Simon nicht fertig werden.«
»Was ist also mit Simon geschehen? Ist er noch in Pflege?« Barraclough hatte Simon in den Akten nicht finden können.
»Er war nur ein paar Wochen dort, dann hat Bryans Mutter ihn genommen. Er ist zu ihr gezogen.« Sie wartete, dann fügte sie hinzu: »Mehr weiß ich nicht. Ich hatte alle Hände voll mit dem anderen Jungen zu tun. Und mit Bryan.« Simons Großmutter sei Catherine Walker, sagte sie ihnen, aber sie sei schon seit mehreren Jahren in einem Heim. Kath Walker hatte keine Kenntnis davon, wer Simon danach genommen hatte. Barraclough seufzte, als sie an den Papierkrieg dachte, der ihr bevorstand.
»Was ist aus Ashley geworden?« Barraclough versuchte, die Frage nicht aggressiv klingen zu lassen. In den Akten stand, dass Simon Reid autistisch war. Hätte sie mit einem autistischen Neffen neben einem zweiten, jüngeren und einem eigenen Kind zurechtkommen können, dazu mit einem Mann, der Alkoholiker war, und einem Pub, das geführt werden musste? Barraclough glaubte nicht, dass sie selbst es geschafft hätte. Wer war sie, dass sie über diese Frau ein Urteil fällen konnte?
»Es gab auch mit ihm Schwierigkeiten. Wir haben genau aufgepasst, ob er so werden würde wie Simon. Bryan wollte das nicht zulassen. Bryan hatte immer einen Jungen haben wollen, aber Ashley war kein richtiger Junge, nicht so einer, wie wir ihn uns wünschten. Er wollte unbedingt bei seinem Bruder und seiner Mum sein. ›Dann wirst du eben weiter warten müssen‹, sagte ich ihm schließlich. Sie hat ihn verlassen. Sie wollte ihn nicht, und je eher er das verstand, umso besser.« Sie sah Barraclough ins Gesicht. »Es ist nicht immer das Beste, nachgiebig zu den Kindern zu sein. Manchmal müssen sie das Schlimmste erfahren. Ashley musste wissen, dass seine Mutter nicht zurückkommen würde.«
Barraclough nickte. Vielleicht hatte die Frau Recht, aber es kam darauf an, wie man so etwas vermittelte. »Was ist also mit Ashley gewesen?«
»Na, das wissen Sie doch.« Kath Walker wandte den Blick nicht ab. »Wir mussten ihn wegschicken. Er war nicht richtig im Kopf, wie sein Bruder. Schlechtes Blut.«
»Wie meinen Sie das, Mrs. Walker?« Corvins Stimme klang fast heiter, fand Barraclough.
»Es liegt in dieser Familie«, sagte die Frau. »Bei Bryan ist es durchs Trinken rausgekommen. Und seine Mutter kann sich schon seit Jahren nicht mehr selbst versorgen. Senil .« Sie sagte es wie eine Obszönität.
»Und Carolyn? Was wurde aus ihrer Mutter? Was ist mit ihr geschehen?« Die Behörden hatten sie nicht finden können, und ihre Mittel waren begrenzt, was Barraclough wusste. Aber hatte Carolyn wenigstens versucht herauszufinden, was aus ihren Kindern geworden war?
Kath Walkers Gesicht war starr und kalt. »Wir haben zwei Briefe bekommen, nachdem sie zurückgegangen war«, sagte sie.
Corvin versuchte es noch einmal »Und danach – nichts?« Kath Walker schüttelte den Kopf. »Sie haben keine aktuelle Adresse von ihr?«
Wieder Kopfschütteln. »Ich habe die letzte Adresse, die ich hatte, dem Jugendamt gegeben.«
»Und ihr Ehemann?«, fragte Corvin. »Phillip Reid.«
Kath Walker schniefte und zog die Augenbrauen hoch. »Ehemann«, sagte sie.
»Aber sie waren doch verheiratet«, sagte Corvin.
»Ach ja, aber nur, weil sie mussten, damit er einreisen konnte. Sie hatte Arbeit, er aber nicht. Pässe und so weiter. Er verschwand, sobald sie wieder schwanger wurde. Bryan musste ihr Geld schicken. Stellen Sie sich das vor!«
»Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, und ich will’s auch nicht wissen. Und Carolyn wollte es auch nicht wissen. Als sie uns bat, die Jungs zu nehmen, hab ich gesagt: ›Was ist mit ihrem Vater?‹. ›Dem ist es egal‹, sagte sie. ›Ich muss das selbst machen. ‹« Sie sah Corvin und Barraclough an. »Und bevor Sie fragen, die Antwort ist: Nein, ich habe seitdem nichts von ihm gehört.«
Polly Andrews hatte gesagt, Emma hätte ihre Sachen oder einen Teil davon auf dem Speicher verstaut, als sie sich mit Sophie Dutton ein Zimmer teilte. Die erste Durchsuchung von Sophies Zimmer hatte den Stauraum im Speicher nicht mit einbezogen – das Team hatte keinen Zugang gefunden. Jetzt waren sie wieder da und fanden heraus, dass Emmas fehlende Sachen noch oben lagen, vom Putztrupp unbeachtet und vergessen.
Das Zimmer unterm Dach war verstaubter und wirkte weniger kahl und leer, als Corvin es in Erinnerung hatte. Die Spuren des Puders für die Fingerabdrücke waren noch an den Fenstern, und der Teppich und die Matratze sahen schmutzig aus. Der Wohnungsbeauftragte sah sich um und schnalzte mit der Zunge. »Die Qualität der Reinigung wird jedes Jahr schlechter«, sagte er. »Also, der Zugang zum Stauraum auf dem Dachboden.« Er zeigte auf einen Kleiderschrank an der Wand neben der Gaube, zwei vom Durchsuchungsteam stemmten sich dagegen und taumelten, weil er sich leichter wegschieben ließ, als sie vermutet hatten. »Er ist nur aus billigen Pressspanplatten«, sagte der Beauftragte bedauernd. »Gut.« Er zeigte auf eine kleine Falltür, die in die Wand eingelassen und kaum zu sehen war. »Wir haben den Zugang zum Speicher in anderen Zimmern verschließen lassen, aber diese Falltür schafft einen nötigen Durchgang. Vermieter von Privathäusern nutzen sie als Notausgang, man konnte früher durch die ganze Reihe von Dächern gehen, aber jetzt ist das verboten.«
Corvin nickte, und jemand vom Team schloss die Falltür auf und klappte die Treppe bis zum Fußboden herunter. Eine Staubwolke hüllte ihn ein. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Dunkelheit, deren Strahl auf das schräge Dach und die Dachbalken mit Steinwolle dazwischen fiel, und sah gleich um die Ecke, damit man ihn leichter nehmen konnte, einen Koffer und einen aufgerollten Schlafsack liegen. Er zog beides zu sich her. Ein Fetzen Papier fiel zu Boden. Corvin untersuchte den Koffer. Außen war kein Schild, auf dem Adresse oder Namen stand. Der Koffer war blau, ein Wochenendkoffer aus Plastik, abgestoßen, aber nicht zu schwer, also wahrscheinlich nur mit Kleidungsstücken oder anderen leichten Sachen gefüllt.
Er machte ihn auf. Wie er vermutet hatte, enthielt er Kleidung: eine Jeans, zwei ungewaschene Sweatshirts und Handtücher, die auch schmutzig waren. Ein Paar abgetragene Turnschuhe waren unten hineingestopft. Es waren jedoch nicht Emmas oder Sophies Kleider. Sie gehörten einem Mann, und zwar, der Größe der Turnschuhe nach zu schließen, einem kräftigen, auf jeden Fall großen Mann. Unten im Koffer lag ein verschließbarer Plastikbeutel. Er war voll, und Corvin sah durch die durchsichtige Hülle Päckchen mit Tabletten, die ebenfalls in Plastikbeuteln steckten, zusammen mit einem Notizbuch mit rotem Deckel. Das war also Emmas Lager. Eine Überprüfung ihres Vorrats konnte vielleicht zu ihrem Lieferanten führen.
Vorsichtig zog er das Notizbuch heraus und blätterte darin herum. Er hoffte, eine Kundenliste oder sonst etwas zu finden, das ihm einen Anhaltspunkt für Emmas Drogenaktivitäten geben könnte. Aber die meisten Seiten waren herausgerissen, und die noch verbliebenen waren unbeschrieben. Er betrachtete die Innenseite des Deckels. Unter dem in Bleistift geschriebenen Preis stand der Name S. DUTTON und die Adresse, CARLETON ROAD 14, dann in größeren Ziffern das Jahr, 1999. Er erinnerte sich, dass Polly Andrews gesagt hatte: »Sophie will Schriftstellerin werden.« Dies hier war vielleicht ein Tagebuch gewesen. Aber sie oder sonst jemand hatte dafür gesorgt, dass niemand es lesen würde. Er hob das Stück Papier vom Boden auf. Es war ein kleiner Fetzen, quer von einem linierten Blatt abgerissen. Darauf stand mit blauer Tinte geschrieben… und der Park war schön. Wir redeten, redeten wirklich zum ersten Mal. Wir sprachen über den Fluss, die Bäume und die Vögel … Hier brach die Schrift am Rand der Seite ab … genau wie ich. Ich wusste es nicht, ich wusste es wirklich nicht… Corvin zuckte die Schultern. Es sagte ihm nichts. »Die Gerichtsmediziner sollen sich das alles ansehen«, sagte er. »Und lassen Sie Kopien davon machen«, er zeigte auf das Papier, »sofort.«
Einer vom Team rief ihn zu sich hinüber. Der Mann hatte Abdrücke auf dem Teppich gefunden, die sie beim letzten Mal übersehen hatten, Abdrücke von einem Möbelstück, das einige Zeit da gestanden und auf dem billigen Teppich seine Spuren hinterlassen hatte. Hier war offensichtlich die Stelle, wo der Schrank früher einmal gestanden hatte. Corvin fragte sich, warum er zur anderen Wand gerückt worden war, wenn Emma und Sophie den Speicher ständig als Stauraum nutzten. Er betrachtete den Teppich, wo der Schrank jetzt stand. Dort fanden sich an einer Stelle nicht nur tiefe Abdrücke, sondern ein größeres Stück war flach gepresst, als sei der Schrank nicht immer genau an die gleiche Stelle zurückgeschoben worden.
Es war nach halb vier, als McCarthys Wagen vor dem Haus der Fieldings vorfuhr. Jane Fielding hatte Sophie fast ein Jahr lang gekannt und Emma mehrere Monate. McCarthy musste gewisse Dinge wissen, die sie ihm vielleicht sagen konnte. Der Zeitpunkt passte ihm gut, denn er wünschte sich eine Gelegenheit, mit Lucy zu sprechen. Er wusste nicht genau, was er sagen würde, mit Kindern hatte er kaum zu tun. Er dachte an seine gelegentlichen – eher seltenen – Besuche bei seiner Schwester, wenn er sich in einen Fremden namens Onkel Steve verwandelte und zum neugierig betrachteten Objekt für seinen Neffen und seine Nichte wurde. Die Ähnlichkeiten mit seiner Schwester und seiner Mutter, die er in ihren Gesichtern entdeckte, fand er fast befremdlich. Er spielte Fußball und kaufte Geschenke, und sie schienen ihn zu mögen. Er erinnerte sich, wie seltsam er sich fühlte, als die vier Jahre alte Jenny die Arme um seinen Hals gelegt hatte und sagte, sie hätte ihn lieb. »Ist ja nur Getue«, hatte Sheila trocken geäußert. Sie hatte keine Illusionen bezüglich ihres Bruders.
Brooke, der Leiter der Ermittlungen, war zu der Ansicht gelangt, dass Lucy keine glaubhafte Zeugin vor Gericht wäre. McCarthy stimmte dem voll und ganz zu. Nach dreißig Sekunden unschuldigen Geplappers über Monster würde die Verteidigung triumphieren. Aber ein ungezwungenes, kurzes Gespräch könnte ihnen vielleicht trotzdem einige Hinweise geben. Sie war anscheinend ein intelligentes Kind. Ihre Geschichten über Monster, den »Ashman« und »Tamby«, interessierten und frustrierten ihn. Er wünschte, jemand könnte ihm diese Geschichten in Begriffe übersetzen, die er verstand. Er wollte herausfinden, ob dies alles nur in Lucys Phantasie existierte, oder ob sie ihm etwas zu sagen versuchte, das sie wissen mussten und nur nicht hören konnten.
»Haben Sie bemerkt«, sagte er zu Barraclough, »dass am Rande dieses Falls Kinder ins Spiel zu kommen scheinen?« Er wollte Barracloughs Meinung hören.
Sie dachte nach. »Also, da wäre natürlich Lucy und dieses Kind, das Sandra Allan vorher hatte. Und Sophie Dutton war ein Adoptivkind.«
»Haben Sie die Suche nach dem ersten Kind abgeschlossen?«
Barraclough schüttelte den Kopf. »Ich mache morgen damit weiter«, sagte sie. Sie hatten beide nachgerechnet. Sophie Dutton wurde 1980 geboren. Sandra Allan war irgendwann gegen Ende der siebziger Jahre schwanger gewesen. Sophie Dutton konnte das fehlende Kind sein, und wenn das so war, würden sich dadurch die Bande erklären, die zwischen ihr und Emma entstanden waren. Und hatte Sandras Tod sie schließlich vertrieben?
Als sie in die Carleton Road einbogen, sah McCarthy Lucy Fielding auf den Stufen des Hauses Nummer zwölf sitzen. Sie zog am Schnürsenkel ihres Rollschuhstiefels. Er verschob das Thema Sophie Dutton auf später, denn er wollte mit Lucy sprechen.
Als er die Wagentür öffnete, schaute Lucy auf, und ein verdutzter und zugleich wachsamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
Suzanne horchte auf das Geräusch von Lucys Rollschuhen auf dem geteerten Hof, dem Asphalt der Einfahrt und den Steinplatten vor dem Haus. Jane hatte sich zur Arbeit in das Zimmer zurückgezogen, das sie als Studio nutzte, und Suzanne passte auf Lucy auf, die im Hof und auf der Straße spielte. An dem Geräusch der Rollschuhe hörte Suzanne, wo Lucy gerade war. Sie zog mit den Zähnen an einem eingerissenen Nagel, ging dabei in das vordere Zimmer und dachte wieder an das, was Jane ihr über eine andere Person, über eine zweite Leiche im Park, gesagt hatte. Sie hatte die Lokalnachrichten am Abend zuvor gehört, aber es wurde nichts darüber berichtet. Die Morgenzeitung hatte eine kurze Meldung gebracht, die kaum etwas aussagte. Sie sah in Gedanken Ashleys Gesicht vor sich, wie seine Augen leuchteten, wenn er sie sah, genauso wie die Adams, wenn sie aus der Schule oder später von der Arbeit nach Haus kam und durch die Tür trat. Suzanne, Suzanne, schau mal, was ich gemacht hab! Suzanne, sieh her! Hör mir zu, Suzanne!
Sie merkte, dass sie nicht aufgepasst hatte und den Lärm von Lucys Rollschuhen auf den Steinplatten nicht mehr hörte. Sie schaute aus dem Fenster und sah, dass der Transporter der Polizei, der den ganzen Morgen vor dem Nachbarhaus gestanden hatte, verschwunden war, dass aber weiter oben an der Straße zwei Streifenwagen standen. Sie hatte den ganzen Tag das Gefühl gehabt, dass irgendetwas los war. Die Häuser waren alle miteinander verbunden und leiteten die Geräusche vom einen zum anderen Haus weiter.
Erleichtert sah sie, dass Lucy draußen auf dem Gehweg war. Aber sie sprach mit jemandem. Suzanne spähte durch die struppigen Zweige der Zwergmispel in ihrem Vorgarten. McCarthy! Was wollte er hier? Er stand gegen den Wagen gelehnt und schien mit Lucy ein Gespräch zu führen. Sollte er Lucy befragen, ohne dass Jane dabei war? Suzanne versuchte zu erkennen, was vor sich ging. Tina Barraclough saß bei offenem Fenster im Wagen, hatte das Kinn auf den Arm gestützt und hörte zu, was Lucy sagte. Suzanne beobachtete, wie McCarthy den Fuß hob und auf seinen Schuh deutete. Lucy reagierte darauf, indem sie ebenfalls den Fuß hob und ihm offenbar zeigte, was für tolle Rollschuhe sie hatte, nach denen McCarthy sich erkundigt hatte.
Sie sprachen über Rollschuhlaufen. Es schien irgendwie unpassend. Seit ihrer Begegnung im Café war McCarthy für sie zu einer ähnlichen Figur wie ihr Vater geworden, jemand, der ihr ein unbestimmtes Unbehagen einflößte. Aber als sie ihn mit Lucy übers Rollschuhlaufen plaudern sah, schien er freundlich und zugänglich. Er kniete nieder, band den Schnürsenkel an Lucys Stiefeln fest und sprach dabei mit ihr. Lucy nickte ernst.
Suzanne überlegte, ob sie Jane rufen sollte, dachte dann aber, es wäre einfacher, wenn sie selbst hinausging und nachsah, was sich da tat. Sie holte tief Luft, trat durch die Seitentür in die Einfahrt und dann in die helle Sonne auf die Straße hinaus. McCarthy und Lucy sahen sie beide an, und es beunruhigte sie, dass ihre Gesichter plötzlich ausdruckslos wurden. Bei Lucy, die auf Neues immer mit einem verschlossenen und diplomatischen Gesicht reagierte, während sie erwog, was sie tun sollte, war sie daran gewöhnt. Aber bei McCarthy nervte sie das.
Als sie auf den Gehweg trat, richtete er sich auf. »Suzanne«, sagte er sachlich zur Begrüßung.
»Wollten Sie etwas?«, fragte sie in ihrem gepflegten Mittelklasse-Akzent, der sich deutlich von dem nordenglisch gefärbten Dialekt um sie herum abhob.
»Ich hab ihm meine Rollschuhe gezeigt«, sagte Lucy, die offensichtlich davon ausging, dass Suzannes Einmischung freundlich gemeint war. »Bei seinen Rollschuhen waren die Räder an der falschen Stelle, und er ist immer hingefallen.«
»Die ganze Zeit bin ich auf dem Hintern gelandet«, bestätigte McCarthy mit jovialem Lächeln. Lucy kicherte.
»Du kannst mal meine probieren«, bot sie ihm an. Suzanne war überrascht. Lucy war normalerweise sehr zurückhaltend und neigte gar nicht zu Vertraulichkeiten gegenüber Menschen, die sie nicht kannte.
»Nicht mit meinen großen Füßen. Und inzwischen falle ich noch tiefer«, sagte McCarthy. Lucy nickte, sie sah das ein. McCarthy wandte seine Aufmerksamkeit plötzlich Suzanne zu. Sein Gesicht war wieder unbewegt. »Ich bin hier, um mit Miss Fielding zu sprechen«, sagte er. »Sie scheint nicht zu Hause zu sein. Kümmern Sie sich um …?« Er nickte zu Lucy hin, die auf ihren Rollschuhen Kurven drehte.
»Ich … ja. Jane ist da, aber sie arbeitet. Da hört sie die Klingel nicht. Sie müssen …«
Er unterbrach sie. »Es ist nicht besonders klug, sie hier draußen allein zu lassen, ohne dass jemand auf sie aufpasst, nach dem, was am Freitag geschehen ist.«
Suzanne wurde rot. Als er mit Lucy herumalberte, hatte er sie daran erinnert, wie sehr sie ihn an dem Morgen im Café gemocht hatte, aber jetzt meldeten sich ihre Zweifel wieder. »Ich habe vom Fenster aus nach ihr gesehen«, sagte sie und war sich bewusst, wie abwehrend das klang, aber sie fand seine unterschwellige Kritik auch unfair.
Noch bevor er etwas erwidern konnte, kam Lucy zurück, bremste ab und schwankte leicht, weil sie schneller gefahren war als gewöhnlich, um McCarthy zu beeindrucken. »Es ist leicht«, sagte sie.
»Du bist gut, Lucy«, sagte Barraclough vom Autofenster aus und mischte sich zum ersten Mal in die Unterhaltung ein. Lucy warf ihr einen abweisenden Blick zu und gab keinen Kommentar ab.
McCarthy ging wieder vor Lucy in die Hocke und sagte: »Du denkst dran, Lucy, was ich gesagt habe, okay?« Lucy nickte mit ernstem Gesicht. McCarthy tippte mit einer Fingerspitze an ihre Nase, und sie lächelte ihn an. Suzanne staunte wieder über die Sympathie, die die beiden zu verbinden schien. Sie dachte dabei an Joel und wie viel besser es für Lucy wäre, wenn sie einen Vater hätte, der ihr zur Seite stehen würde. McCarthys Kritik hatte sie geärgert, aber sie hörte echte Sorge heraus, die auch berechtigt war. Und wie viel besser wäre es gewesen, einen Vater zu haben, der sich mit ihr auf diese freundliche und witzige Art befasst und sich dafür interessiert hätte, was sie tat. Einen Augenblick hatte sie den Wunsch, sich ihm anzuvertrauen und ihm von ihren Sorgen um Ashley und ihren Problemen mit dem Alpha-Centre zu erzählen. Aber dann erschienen die patriarchalischen Gesichtszüge ihres Vaters wieder vor ihrem inneren Auge, und seine Stimme sagte im Tonfall müder Verzweiflung: Kannst du überhaupt nichts richtig machen? Und sie sah Ashleys blasses Gesicht ( Hör mir zu!) unter Wasser, im Teich, kalt, still und tot.
McCarthy war sich bewusst, dass Suzanne Milner zuhörte, als er seine Warnung an Lucy wiederholte. Sei vorsichtig! Spiel nicht allein! Er hätte es nicht an ihr auslassen sollen – er hatte angenommen, dass Lucy ein paar hundert Meter vom Park entfernt ohne Aufsicht spielte, aber Suzannes schnelles Erscheinen hatte ja gezeigt, dass sie das tat, was sie gesagt hatte – sie hatte aufgepasst. Lucy fuhr die Einfahrt entlang und davon. Er nickte Barraclough zu, die hinter ihr herlief, und stand langsam auf und beobachtete Suzanne. Sie sah aus, als wolle sie etwas sagen, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, strich es sich aus dem Gesicht und sah McCarthy verunsichert an.
»Was ist los, Suzanne?« Ihr T-Shirt war eng, und sie trug offensichtlich nichts darunter. Er nahm den feinen Duft wahr, der sie umgab. Sein Gesicht blieb weiter unbewegt, als er sie anschaute.
»Ach, nichts«, sagte sie nach einer kurzen Pause. Offensichtlich gab es aber doch etwas. Er sah ihr an, dass sie versuchte, Worte dafür zu finden. Er wartete. Einen Augenblick dachte er, sie würde sich umdrehen und hineingehen. Da berührte sie seinen Arm. »Steve …«
»Was ist?« Sie biss sich auf die Lippe, schien unentschlossen.
»Jane sagte, dass ihr noch jemanden im Park gefunden habt.« Er erwiderte nichts, wartete. »Noch eine … noch jemanden.« Sie wollte es nicht aussprechen.
»Ja.« Plötzlich war McCarthy wachsam. Warum interessierte sie das, abgesehen von ganz normaler Neugier? Dies hier sah aber nicht nach Neugier aus. Er erinnerte sich, dass er nachsehen wollte, ob er in den Akten etwas über sie finden konnte, das ihre widersprüchliche Einstellung erklärte. Er würde es tun, wenn er zur Wache zurückkam. Er stützte sich mit einem Arm aufs Auto und sah sie an. Suzanne fuhr fort: »Sie wusste nicht, wer es war, überhaupt nichts. Ob es ein … Mann oder eine Frau war. Ich habe mich nur gefragt…«
McCarthy wusste, dass es in der Spätausgabe der heutigen Lokalzeitung stehen würde. Morgen würde es in die überregionalen Zeitungen und in den Nachrichten kommen. Es gab keinen Grund, ihre Fragen nicht zu beantworten, aber er wollte wissen, warum es ihr so wichtig war. Sie faltete die Hände und löste sie wieder – eine nervöse Angewohnheit, die er schon zuvor bemerkt hatte. Sie folgte seinem Blick, sah zu Boden und verschränkte die Arme. »Ich wollte nur wissen, war es …« Ihre Stimme versagte fast, sie stockte, sah weg und biss sich auf die Lippe. Dann holte sie tief Luft. »War es Ashley Reid?« Jetzt sah sie ihn direkt an, mit dem Blick eines Menschen, der eine Frage gestellt hat und weiß, dass die Antwort etwas sein wird, das er nicht hören will. McCarthy dachte, sie ist sicher, dass ich ja sagen werde.
Fast hätte er ihr die Antwort gegeben, die sie erwartete, nur um zu sehen, was sie tun und ihm im Augenblick des Schocks sagen würde, aber stattdessen schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, es war nicht Ashley Reid.«
Sie war erleichtert, die Spannung löste sich. »Ich dachte … es tut mir Leid.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich dachte, er sei es gewesen.«
Aber warum, zum Teufel, fragte sich McCarthy, sollte sie das denken?
Als McCarthy Jane Fielding die Nachricht über Sophie mitgeteilt hatte, überließ er es Barraclough, sich mit ihr zu befassen. Er horchte auf die Geräusche, als Tee gemacht wurde, wobei Barracloughs ruhige Stimme Jane in ein zwangloses, lockeres Gespräch verwickelte. McCarthy war zu der Ansicht gekommen, dass Jane Fieldings verträumte Zerstreutheit in Wirklichkeit ein zweckmäßiger Schutzschild war, hinter dem sich ein scharfsinniger Verstand verbarg. Er hoffte, dass es Barraclough gelingen würde, diesen Schild zu durchdringen, wenn die Frau durch Schock und Kummer abgelenkt war.
Er ging zu Lucy, die im hinteren Zimmer geblieben war, während sie mit ihrer Mutter sprachen. Jane Fielding entging das nicht. »Sagen Sie es ihr nicht«, warnte sie ihn. McCarthy schüttelte den Kopf.
Als er ins Zimmer trat, saß Lucy am Tisch und sah ihn ausdruckslos an. Sie legte schützend eine Hand auf den Tisch vor sich. »Ich male«, teilte sie ihm als Einleitung mit, und McCarthy sah dies als eine Einladung an, sich zu ihr an den Tisch zu setzen.
»Darf ich es sehen?«, fragte er.
Sie dachte darüber nach. »Das hier ist noch nicht fertig«, sagte sie. »Du kannst die anderen sehen.« Sie rutschte von ihrem Stuhl und nahm ihn bei der Hand. »Hier drüben«, sagte sie und führte ihn hinüber, wo die Bilder bunt durcheinander an die Wand geheftet waren. In McCarthys Augen war es eine zufällig zusammengewürfelte Sammlung kindlicher Kritzeleien, mit leuchtenden Farben, die eine Welt darstellten, wo Blumen und Tiere so groß wie Menschen waren, Häuser wie Schachteln, aus deren Dächern Kamine merkwürdig schräg hervorwuchsen, mit einem Himmel wie eine blaue Linie und unablässigem Sonnenschein. Er las einige der Überschriften, um sich zu orientieren. Er hatte das Gefühl, dass Lucy ihn nach seiner Reaktion auf ihre Zeichnungen beurteilen werde. Mein Hund im Park. Flossy, meine Katze, im Park. Ich und meine Schwestern im Park. »Du hast aber keinen Hund«, sagte er.
Sie sah ihn abschätzend an. »In Wirklichkeit hab ich doch einen«, sagte sie.
»Aha.« McCarthy brauchte Beistand. Dieses Kind phantasierte alles Mögliche zusammen, Alicia Hamilton hatte es ihm gesagt, aber er hatte keine Möglichkeit, die Phantasiegebilde von der Wirklichkeit zu unterscheiden. »Wo ist er?«
Lucy sah ihn an. »Mein Hund ist ein Mädchen«, sagte sie.
»Mein Hund war auch ein Mädchen«, sagte er, sich vortastend.
»Wie hieß sie?« Lucy sah interessiert aus.
»Sally«, sagte McCarthy.
Lucy nickte. »Das ist ein guter Name. Mein Hund heißt auch Sally. Sie wohnt im Park.«
McCarthy hatte das Gefühl, auf einem Gewebe von Spinnfäden zu balancieren. »Und deine Katze? Und deine Schwestern? Wo wohnen die?«
»Im Park.« Sie war ein bisschen ungeduldig, wie langsam er begriff. »Wir wohnen alle im Park. Alle hier sind im Park.« Sie zeigte mit einer umfassenden Geste auf die Bilder an der Wand.
McCarthy schaute noch einmal hin. Mein Hund im Park . Flossy, meine Katze, im Park. Ich und meine Schwestern im Park . Da war noch eines mit einer Überschrift. Er sah genau hin. Der Bruder von Ashman im Park . All diese Bilder zeigten lächelnde Menschen, darüber den blauen Himmel, überall Sonnenschein. Es waren glückliche Bilder. Ein Bild hing ganz für sich in der Ecke. Es war nichts darauf geschrieben, keine Sonne und keinen blauen Himmel. Die Gestalt stand drohend im Bildvordergrund und lächelte nicht. Er sah auf Lucy hinunter, die ihn genau beobachtete. Er dachte, er wisse, wer das sein könne, aber er war nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er falsch riet. Er wartete, und nach einem Augenblick sagte sie: »Das ist auch im Park. Das ist der Ashman.«
F: Wo gehst du denn abends hin? Wenn du weggehst?
A: So …?
F: Abends, Ashley. Wo gehst du hin?
A: Ins Alpha.
F: Ja, ich weiß. Aber was machst du, wenn du nicht ins Alpha gehst?
A: Ins Alpha…
F: Aber wenn du da nicht hingehst?
A: (Pause)
F: Ashley? Ich weiß, dass du manchmal abends ins Alpha gehst. Was machst du an den anderen Abenden?
A: An den anderen Abenden … äh … (Pause) …in die Wohnung.
F: Wo ist das?
A: Die Garage. Mit … Lees Namen dran … und em … so … manchmal, jetzt nicht.
F: Was hast du gestern Abend gemacht?
A: Bin dorthin gegangen und so …(Pause)
F: Wohin, Ashley?
A: Ich sag’s dir doch. Es war im Park und so … sie hat gesagt, sie würde gehen.
F: Ja.
A: Und ich konnte nicht… (Pause)
F: Aber welcher Ort ist das, Ashley? Die Wohnung?
A: Nein… (Pause) Bei den Wohnungen … … em Simon bringt den Stoff … sie wollte das nicht. (Pause) Es war los, verstehst du, und so – sie wollte nicht…
Suzanne rieb sich die Augen. Sie hatte die Niederschrift von Ashleys Band ganz durchgelesen, aber nicht viel gefunden, das ihr helfen könnte. Es war sehr schwierig, ihm zu folgen, weil er ihre Fragen nicht zu verstehen schien, die Antworten durcheinander brachte und meistens nicht zu wissen schien, wovon er eigentlich redete. Sie wünschte, sie könnte noch einmal mit ihm sprechen. Damals hatte sie nichts gegen den Mangel an Klarheit gehabt – sie war erfreut gewesen. Es war genau das, was sie suchte. Jetzt verstand sie es nicht. Von wem sprach er? Von seinem Bruder? Richard hatte gesagt, dass Ashleys Bruder in Pflege und autistisch sei. Ashley hatte nie eine Familie gehabt. Vielleicht phantasierte er wie Lucy.
Wo war dieser »Ort«. Wo war Ashley?
Sie wusste, dass er ins Alpha-Centre ging. Allerdings war er laut Richard verschwunden. Er war also nicht mehr im Zentrum. Aufgrund der Geheimniskrämerei im Alpha wusste sie nicht einmal, wo er wohnte, in welchem Teil von Sheffield sie anfangen sollte zu suchen. Es sei denn … Nutze deinen Kopf, den der liebe Gott dir gegeben hat, Suzanne . Er war offensichtlich nicht zu Hause oder wo immer er wohnte, weil ihn niemand finden konnte. Er konnte nicht in seinen üblichen Schlupfwinkeln sein, die alle kannten.
Wohin würde er also gehen, wo weder McCarthy noch Richard ihn finden konnten? Und wieso glaubte sie, dass sie es besser machen würde? Er würde natürlich zu seinen Freunden gehen. Freunde, von denen niemand etwas wusste? Suzanne kannte seine Freunde nicht. Wem konnte er vertrauen? Simon? Sie kehrte wieder zum Band zurück.
F: An den anderen Abenden … äh … (Pause) … in die Wohnung.
A: Wo ist das?
A: Die Garage. Mit … Lees Namen dran … und em … so … manchmal, jetzt nicht.
F: Was hast du gestern Abend gemacht?
A: Bin dorthin gegangen und so …(Pause)
Oder Lee. Lee vom Alpha-Centre? Die Garage mit Lees Namen? Sie dachte nach. Lee und Ashley waren manchmal zusammen, erinnerte sie sich. Sie hatte sie Billard spielen oder draußen miteinander rauchen sehen, und der Gegensatz zwischen Ashleys Schweigen, seinem blassen Gesicht, dem schweren dunklen Haar und der lautstarken Art des rothaarigen Lee war ihr aufgefallen. Aber sie hatte sie nie als Freunde angesehen. Lee war flink und grausam. Er quälte den schwerfälligen Dean, war schnell dabei, andere auszunutzen, wie sie ja am eigenen Leib erfahren hatte. Sie erinnerte sich an Ashleys Warnung. Er hatte die Falle vor ihr wahrgenommen. Richard hatte gesagt, dass Ashley ein Eigenbrötler sei. Ihre Beobachtungen schienen das zu bestätigen. Er hatte auch gesagt, dass Ashley Lernschwierigkeiten hätte. Sie hatte das akzeptiert – Richard musste es wissen. Aber Lee würde sich nicht mit jemandem abgeben, der nicht intelligent war, dessen war sie sich ziemlich sicher.
Sie dachte an ihre Treffen mit Ashley zurück. Von den Tonbandaufnahmen abgesehen, hatte sie nach den Gesprächen mit ihm den Eindruck, dass er in sich gekehrt, aber nicht unintelligent war. Sie fragte sich, was sie gedacht hätte, wenn Richard nichts gesagt hätte. Ein Bild stand ihr vor Augen. Sie erinnerte sich, dass sie eines Abends, nachdem das Programm des Tages beendet war, im Café saß und zusah, wie Lee Richard beim Billard herausforderte. Eine interessierte und parteiische Menge hatte sich um den Tisch gedrängt. Sie blieb in einiger Entfernung stehen und sah zu. Sie hatte sich im Raum umgesehen, und ihre und Ashleys Blicke trafen sich. Er hatte sie beobachtet, und sie sah nur einen kurzen Moment einen abwägenden, fast berechnenden Funken in seinen Augen. Dann hatte er sie mit seinem liebenswürdigen Lächeln angesehen und sich wieder dem Spiel zugewandt. Sie hatte sich damals nichts dabei gedacht, aber als sie sich jetzt daran erinnerte, war sie sicher: Ashleys Intelligenz war nicht unterdurchschnittlich, er brauchte keine spezielle Betreuung, welches Etikett auch immer man ihm angeheftet haben mochte. Ashleys Intelligenz war ganz normal. Aber warum verbarg er das? Sie war frustriert, denn sie hatte nicht genug Material und auch keinen Zugriff auf zusätzliche Informationen.
Oder doch?! Von Richard. Sie war ziemlich sicher, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil die Sache nicht gut gelaufen war. Er hatte sie zu warnen versucht, und es war ihm sehr peinlich gewesen, als er ihr berichtet hatte, was los war. Sie konnte sich das zunutze machen. Sie brauchte nur einen Grund, um ihn anzurufen. Er interessierte sich für Heimatkunde. Sie hatten sich über das Dorf unterhalten, wo er wohnte, Beighton, eine der alten Gemeinden, die bei der Vergrößerung Sheffields geschluckt worden waren. Er wollte etwas über die Geschichte seines Hauses wissen. »Ich will schon so lange in den Stadtarchiven nachsehen«, hatte er gesagt, »ich tu’s, wenn ich mal Zeit habe.«
»Ich bin doch dauernd in den Archiven der Uni«, hatte sie erwidert. »Ich sehe auf einer der alten Landkarten für dich nach.« Eine der Versprechungen, die man macht und nie dazu kommt, sie zu halten. Aber das brauchte er nicht zu wissen. Wenn sie ihn an der Universität ausfindig machte, ihm die Landkarte gab und so tat, als hätte sie sie vor dem ganzen Ärger gefunden, würde er sich noch schlechter fühlen. Er würde das Gefühl haben, mit ihr sprechen zu müssen, und dann würde sie ihn über Ashley befragen können. Berechtigte Fragen zur Diagnose »Lernschwierigkeiten« und dann nebenbei ein paar über Lee. Lee konnte Ashley für sie finden. Davon war sie plötzlich überzeugt. Sie sah auf die Uhr. Es war fast fünf. Sie konnte jetzt zur Bibliothek hinaufgehen, die Landkarte suchen und sie kopieren lassen. Sie musste auch ihre Tonbänder in der Abteilung abholen. Auf jeden Fall das Band mit Ashley. Die Niederschrift war nicht genug – ihre Arbeit war noch nicht zu Ende, und sie wollte es sowieso noch einmal abhören. Wenn sie das Band aus der Kassette nahm, würde niemand bemerken, dass es fehlte.
Sie warf gerade Schlüssel und Geldbörse in ihre Tasche, als es an der Tür klopfte und Jane blass und aufgeregt hereinkam. Suzanne merkte erst jetzt, dass sie vor Erleichterung, dass der Tote nicht Ashley war, alles andere vergessen hatte. »Was ist los?«, fragte sie. »Was ist denn?«
Jane ergriff ihre Hand. »Suzanne, die Leiche im Park.« Suzannes Atemzüge wurden kurz und gepresst. McCarthy konnte sie doch nicht angelogen haben? »Es ist – ich weiß nicht, wie ich es Lucy sagen soll. Es ist Sophie. Sie haben Sophie tot im Park gefunden.«
Suzanne war plötzlich wie erstarrt. Etwas, das nur beiläufig mit ihrem Leben zu tun hatte, stand plötzlich klar sichtbar im Mittelpunkt.
»Sophie? Deine Sophie? Sind sie sicher?«
Jane nickte. »Ihre Eltern haben sie heute früh identifiziert.« Aber Jane war nicht herübergekommen, um getröstet zu werden oder um Suzanne die Nachricht zu überbringen. »Sie wollen, dass ich mir ein paar Bilder von Leuten ansehe, die Sophie vielleicht gekannt hat. Ich habe die Leute gesehen, mit denen sie zusammen war. Ich will helfen, so schnell wie möglich. Sie sollen ihn kriegen.« Janes vage Zerstreutheit war verschwunden. Sie war jetzt so auf ihre Tochter konzentriert wie sonst nur bei ihrer Arbeit. »Ich will gleich mit ihnen gehen. Suzanne, kannst du dich um Lucy kümmern?«
Suzanne war noch ganz starr vor Schrecken. Sie hörte die Worte, als kämen sie aus großer Ferne. »Ja, natürlich. Ich wollte zur Bibliothek hinaufgehen. Es würde ihr doch nichts ausmachen, eine halbe Stunde im Zeitschriftenmagazin zu sein, oder?«
»Das wäre prima. Ich will nicht, dass sie die Nachrichten mitbekommt oder so. Ich will es ihr selbst sagen.« Janes Lippen waren zusammengepresst wie die Lucys, wenn sie sich konzentrierte oder ihr Missfallen zum Ausdruck brachte.
»Mach dir keine Sorgen.« Suzanne ging mit Jane zur Tür und sah zu, wie sie mit McCarthy in den Wagen stieg. Sie bemerkte, dass Tina Barraclough nicht dabei war und fragte sich, ob Jane McCarthys ungeteilte Aufmerksamkeit so sehr genießen würde, wie sie gesagt hatte. Sie sah die Straße zu dem Haus mit den Studentenwohnungen hinauf. Die Polizeiautos waren immer noch da und jetzt auch noch ein Lieferwagen vom Wohnungsamt der Universität.
Sophie. Sophie war doch nicht eine tote Frau im Park, ein Mordopfer. Sie war die sorglose Studentin, die sich um Lucy kümmerte, die für Lucy eher eine große Schwester als ein Kindermädchen gewesen war.
Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie nicht überrascht war, dass die komplizierte Emma, die immer in Schwierigkeiten war, ernsthaft zu Schaden gekommen war. Aber Sophie war immer froh und voller Leben gewesen. Es war lächerlich, dass Sophie tot war. Dieses Wort kam ihr immer wieder in den Sinn: lächerlich. Niemand hatte das Recht, ihr das Leben zu nehmen. Sonst haben wir doch nichts , sagte Suzanne bittend zu der Gestalt, die sich dunkel und fremd in den Tiefen ihres Bewusstseins verbarg. Sonst haben wir doch nichts.
Menschen gingen wie planlos bewegte Figuren über den Vorhof und drängelten sich zwischen den in geraden Reihen geparkten Autos hindurch. Unvorhersehbare Bewegungen, ohne Ordnung oder Muster. Leute stießen ihn an, sahen ihn erwartungsvoll an. Sag: »Entschuldigung.« Ich kann’s nicht sagen. Kann’s nicht sagen .
Simon verstand nur etwas vom Labor, wo die Flaschen und Gläser in ordentlichen, beschrifteten Reihen standen. Man konnte voraussagen, was sie enthielten und was der Inhalt tun und wie er reagieren würde. Auch die Bibliothek war für ihn verständlich, wenn er erst einmal bei den Regalen und Büchern war, die geordnet an ihren Plätzen standen, an die sie gehörten.
Aber manchmal störten Geflüster, Lachen und die Geräusche von Menschen die Muster in seinem Kopf. Ein Gesicht. »Hi, Simon!« Student. Sag: »Hallo.« »Trinkst du’n Kaffee?« Kaffee, Leute, Unterhaltung, kein Muster, keine Ordnung, kein Verstehen. Sag: »Ich kann jetzt gerade nicht. Danke.« Hab sie verloren! Suchen, suchen. Gerade waren sie noch da drüben bei den Regalen, bei der Tür. Wo? Wo?
Dort.
Lucy saß am Computer und rutschte hin und her, bis sie bequem saß. Suzanne stand im Gang um die Ecke und sah sich Bücher an, Bücher, die so riesig waren, dass sie sie mit beiden Händen aus dem Regal ziehen musste. Sie waren staubig, und Lucy musste niesen. »Bleib lieber von dem Staub weg«, hatte Suzanne gesagt, und sie hatte Lucy gezeigt, wie sie etwas auf dem Computer suchen konnte. »Bleib einfach hier«, sagte sie.
Aber die Computer waren langweilig. Sie schaute sich um. Überall ragten Regale bis zur Decke. Überall, wo sie hinsah, Regale, geheime Regale , dachte Lucy. Man konnte sich zwischen den geheimen Regalen verirren. Suzanne sagte ihr: »Geh nicht weit weg. Wenn du dich verirrst, geh der gelben Linie nach« – sie zeigte Lucy den gelben Strich auf dem Boden – »bis du zur Tür kommst, dann warte auf mich. Ich komme und hole dich.«
Es war wie die Geschichte über das Ungeheuer im Labyrinth. Der Minotaurus . Lucy hatte ein Bild von einem Mann, der mit dem Minotaurus kämpfte. Sie rutschte von ihrem Hocker, kauerte sich vor das Regal und sah unten hindurch. Man konnte bis zur anderen Seite sehen, und dort waren noch mehr Regale. Sie lag auf dem Bauch, wand sich und versuchte, noch mehr zu sehen. Da waren Suzannes Füße. Sie stand auf den Zehenspitzen. Sie griff wohl nach etwas auf einem hohen Regal. Sie wusste nicht, dass Lucy sie beobachtete. Lucy rutschte weiter.
Es war sehr still in der Bibliothek, im Magazin . »Meistens ist sonst niemand hier unten, jedenfalls nicht jetzt, wo die Prüfungen vorbei sind«, hatte Suzanne gesagt. »Deshalb wird niemand etwas dagegen haben, wenn du mit dem Computer spielst.« Suzanne war mit ihr ein paar Stufen hoch und in die Bibliothek gegangen. Es waren viele Leute da. Dann waren sie durch eine kleine Tür und eine Treppe hinuntergegangen, und da standen die geheimen Regale, meilenweit geheime Regale, aber Suzanne hatte gesagt: »Komm«, und sie waren durch eine zweite Tür gegangen und noch eine Treppe tiefer. Die Tür war hinter ihnen mit einem Dröhnen zugefallen. Am Fuß der Treppe war wieder eine Tür. »Komm«, hatte Suzanne gesagt. Diese Tür hatte sich leise wie mit einem Flüstern geschlossen. Und es war so still, dass Lucys Ohren ihr wie zugestopft vorkamen, und die Luft roch muffig und war trocken.
Immer mehr und mehr geheime Regale. Lucy war lachend um sie herumgerannt, sie wollte laut sein, und dann wusste sie nicht mehr, wo sie war. Überall, wo sie hinsah, nur Regale. Vor ihr endlose Reihen, die sich in der Ferne im Dunkel verloren. Hinter ihr genauso. Sie schaute in die Richtung der Tür, aber auch da waren nur Regale. Dann war Suzanne da und sprach über den gelben Strich. Lucy dachte, eigentlich würde sie lieber nach Hause gehen. »Mag Michael die geheimen Regale?«, fragte sie.
Suzanne lächelte. »Das ist ein guter Name. Ja. Er spielt gern mit dem Computer. Ich zeig dir was.« Sie zeigte Lucy, dass jedes Regal ein Licht hatte. »Du kannst sie anmachen, wenn du sie brauchst, aber schalte sie dann auch wieder aus.« Lucy wollte noch nicht nach Hause gehen, nicht, wenn Michael die Regale gut fand. Und jetzt mochte sie sie auch, jetzt verstand sie, was die gelbe Linie bedeutete. Es war wieder wie beim Minotaurus. Sie konnte das Ungeheuer töten und dann der gelben Linie folgen und fliehen. Sie sah an den Reihen von Regalen entlang in die Dunkelheit. Keine Monster. Die Monster waren im Park.
Sie wurde mutiger und ging an einer Reihe von Regalen entlang. Einen Augenblick hatte sie sich wieder verirrt, dann war der gelbe Strich wieder da, und sie fand den Weg zurück. Sie wollte nicht zu weit weggehen, nicht in den Teil, der dunkel war. Sie konnte Grandmother’s Footsteps spielen und so tun, als gingen die anderen Kinder auf Zehenspitzen um die Regale herum, und sie musste sie ansehen, bevor sie stehen bleiben mussten. Wenn sie sie nicht ansah, konnten sie sich ganz nahe zu ihr heranschleichen und sie von hinten packen.
Sie hörte ein gedämpftes Dröhnen, und dann war es wieder still. Sie schlich um ein Regal herum. Jetzt hab ich dich! Dann duckte sie sich und versteckte sich dahinter. Sie folgten ihr um die Regale herum, und sie steckte den Kopf wieder um die Ecke und sah sie weggehen. Euch hab ich auch erwischt! Sie konnte jetzt nicht mehr so gut sehen, weil sie weiter von Suzannes Licht weg war. Sie machte ihr eigenes Licht nicht an, weil dann die Fänger wüssten, wo sie zu finden war. Jetzt war irgendwo zwischen den Regalen, hinter einem dunklen Stück des Gangs ein anderes Licht angegangen. Sie konnte sich verstecken und zu dem anderen Licht hinüberhuschen, von da die Person beobachten und sie fangen, wenn sie versuchte, ihr zu folgen.
Das andere Licht ging aus, und eines etwas näher ging an. Grandmother’s Footsteps. Auf dem Spielplatz konnte man manchmal hören, wie sie sich bewegten, und man konnte sich umdrehen und sagen: »Ich hab dich!« Und sie mussten an den Anfang zurück, aber manchmal hörte man sie überhaupt nicht und musste dann raten, und wenn man sich umdrehte, war alles ganz still, aber sie waren alle ein bisschen weiter herangekommen, ein bisschen näher, aber man konnte nicht sehen, wie sie sich bewegten. Sie durften sich nicht rühren, wenn man sie ansah.
Sie hörte jetzt einen, der mit leisen Schritten, tapp tapp tapp, näher kam. Sie sah sich vorsichtig um. Niemand. Da nicht. Sie ging eine Reihe weiter zwischen die nächsten Regale, bewegte sich jetzt ganz leise und horchte. Tapp tapp tapp , er kam näher, ganz langsam. Wenn sie noch nicht nah waren, gingen sie langsam, damit sie stehen bleiben und sich verstecken konnten, wenn man sich umdrehte. Wenn sie ganz nahe waren, gingen sie schnell – tapptapptapp –, um dich zu fassen, bevor du dich umdrehen konntest.
Sie kauerte sich zusammen und sah unter den Regalen hindurch. Nichts. Tapp tapp tapp . Leise und langsam. Sie spähte um das nächste Regal herum und flüsterte: »Ich hab dich.« Aber das Spiel funktionierte nicht mehr. Ihr Flüstern schien die trockene Luft zu bewegen, und ein Rascheln lief durch die Regale. Die Schritte verharrten, gingen weiter. Tapp tapp . Verharrten. Kamen näher. Tapp tapp tapp . Lucy schlüpfte um das nächste Regal herum, ganz leise jetzt. Sie hörte Atemgeräusch im Dunkeln. Sie sah unter das Regal und entdeckte die Füße in diesen weichen Turnschuhen, in denen man geräuschlos gehen kann. Die Turnschuhe waren schmutzig, mit angetrocknetem Schlamm bedeckt. Die Füße drehten sich zur Seite, machten einen Schritt, zögerten. Lucy hielt den Atem an. Sie wollte husten und fühlte, wie sich ihre Brust zuschnürte. Es war in Ordnung, es war ja nur ein Spiel. Sie blieb still in dem matten Licht stehen. Tamby ?, sagte sie in Gedanken vor sich hin. Wie eine Maus , sagte er.
Sie wandte den Kopf und sah am Fußboden entlang. Kein gelber Strich. Langsam drehte sie sich wieder um. Kein gelber Strich. Sie wollte zwischen den Regalen durchlaufen, so schnell sie konnte, vor den verdreckten Turnschuhen davonlaufen, die hinter ihr herkommen würden, tapptapptapp, immer näher. Dann drehten sich die Füße wieder zur Seite und begannen, an den Regalen entlangzugehen, auf das Ende der Reihe zu, auf den Gang zu, der zur nächsten Reihe führte, wo Lucy versteckt lag. Ihre Kehle schnürte sich wieder zusammen, und sie musste keuchend husten. Sie konnte nicht anders.
Suzanne schlang das Band um das letzte Buch mit Landkarten. Es war ja klar und konnte nicht anders kommen. Was man braucht, ist immer im letzten Buch. Es war ihre eigene Schuld, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, vorher in den Katalogen nachzusehen. Sie wollte sich Lucys wegen besonders beeilen. Lucy! Es war sehr still. »Lucy«, sagte sie und ging zu dem Gang, wo die Computer standen. Nichts. Niemand da. Sie war verstimmt. Hier unten gab es massenhaft Möglichkeiten für Lucys Versteckspiele, wurde ihr plötzlich klar. Und wenn Lucy sich so über sie geärgert hatte, ihr ein komplettes Suchspiel zuzumuten, dann hatte sie eine ungemütliche Stunde vor sich.
Aber sie wusste nicht, ob Lucy sich versteckte. Nehmen wir an, sie wäre nach oben gegangen und hätte sich verirrt. Sie beschloss, an der Tür nachzusehen, ob Lucy dort wie verabredet wartete. Vielleicht war sie weggegangen und dem gelben Strich gefolgt, um den Weg nach draußen zu finden. Sie sah auf ihre Uhr. Es war erst zwanzig Minuten her, seit sie sie zuletzt gesehen hatte.
Lucy war nicht an der Tür. Suzanne war beunruhigt. Sie ließ sich die Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Wenn Lucy wütend war und sich versteckte, dann wäre es nicht gut, sie zu rufen, weil es Lucy signalisieren würde, dass Suzanne sie suchte, sich vielleicht Sorgen machte und dass sich dieses Spielchen also lohnte. Wenn Lucy aber andererseits aus dem Magazin hinausgegangen war, musste sie sie sofort finden. »Lucy«, rief sie. »Sollen wir gehen und uns was Süßes kaufen?« Lucy bekam sonst keine Süßigkeiten. Jane würde sie umbringen, aber Suzanne fand, es war ein Preis, den zu zahlen es sich lohnte, um Lucy dazu zu bringen, dass sie sich zeigte. Stille. »Lucy?«, versuchte sie es noch einmal. Nichts.
Sie sollte die Bibliothekarin holen, dem Sicherheitsdienst auf dem Campus Bescheid geben. Sie war nervös, aber zugleich überzeugt, dass Lucy nicht weit gegangen war. Trotz all ihrer Versteckspiele und Monster war Lucy ein vernünftiges Kind. »Lucy!« Die Stille der regungslosen, trockenen Luft schien sie zu verhöhnen. Es fühlte sich an, als riesele Staub herab. Sie musste gehen und Hilfe holen, aber etwas ließ sie zögern, das Magazin zu verlassen, denn sie war sicher, dass Lucy sich hier irgendwo aufhielt. Dann hörte sie ein Geräusch von der anderen Seite des Magazins, von den hinteren Regalen her. Ein Husten, nur ein einzelnes, aber es klang gepresst, asthmatisch. O Gott, Lucy!
»Lucy!«, rief sie. »Ich komme.« Sie riss ihre Tasche an sich, in der Lucys Inhalierspray war, und während sie rannte, zwischen den Regalen hin und her schoss und versuchte, die Stelle zu lokalisieren, wo der Laut hergekommen war, hörte sie jemand anderen mit leisen schnellen Bewegungen durchs Magazin gehen. Sie rannte den hinteren Gang entlang und sah in jede Reihe hinein. Es war von hier gekommen, sie war sicher. Sie hörte das gedämpfte Dröhnen der Tür und einer zweiten, und dann sah sie auf Lucy hinunter, die zusammengekauert auf dem Boden saß und nach Luft rang. Suzanne zog das Inhalierspray aus der Tasche und hielt es dem Kind an den Mund. Sie hörte das Zischen, als es sich öffnete, und schon atmete Lucy leichter und viel freier. Sie setzte sich auf, lehnte sich an ein Regal und sah Suzanne argwöhnisch an. Suzanne wartete.
»Es war ein Monster«, sagte Lucy.
»Was? Lucy, es war Asthma. Warum bist du so weit weggegangen?« Ihre Angst machte sie ärgerlich. Lucy sah sie an, ihr Gesicht wurde verschlossen und trotzig. Suzanne versuchte, sich zu beruhigen. »Ich hab mir Sorgen gemacht, Lucy, als ich dich nicht finden konnte.«
Lucy überlegte und gab nach. »Es war Grandmother’s Footsteps«, sagte sie. »Und das Monster ließ mich Asthma kriegen. Aber es war in Ordnung, wegen Tamby. Das Monster ist jetzt fort.«
Als sie über den Campus zum Studentencafé gingen, fiel Suzannes Blick auf jemanden, der sich schnell von der Eingangstür der Bibliothek entfernte. Eine große, dunkelhaarige Gestalt. Sie starrte sie an. Es konnte doch nicht etwa… Die Gestalt drehte sich einen Moment um, und Ashleys Blick traf sich mit dem ihren. Er stand auf der anderen Seite des Parkplatzes, dann war er verschwunden. Sie wollte ihm folgen, sah dann auf Lucy hinunter, die blass war und immer noch schwer atmete. Einen Moment erfüllte sie Frustration, dann schaffte sie ein Lächeln. »Komm, Lucy«, sagte sie, »wir holen dir etwas zu trinken«, und wandte sich ab.