Читать книгу Crime Collection IV - Danuta Reah - Страница 17
Оглавление7
Am Montagvormittag kam der Obduktionsbericht von Emma Allan herein, dazu die Ergebnisse aller analysierten Proben, die man bei der Durchsuchung von Shepherd Wheel mitgenommen hatte. Es gab ausführliche Angaben zu Zeitablauf, Stofffasern, Analysen von Blut, Köperflüssigkeiten und Mageninhalt, die das bestätigten, was sie schon als ziemlich gesichert betrachteten. Emma Allan war in Shepherd Wheel zwischen zehn und zwölf Uhr mittags an dem Tag gestorben, an dem sie verschwand. Es war nützlich und wichtig, dies bestätigt zu wissen, weil sie alle die Gefahr kannten, Naheliegendes in eine Situation hineinzuinterpretieren, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und auf eine völlig falsche Spur zu geraten, während kostbare Zeit verstrich. Fasern von der Feuerstelle erwiesen sich als blauer Baumwoll-Denimstoff. Es war eine starke, strapazierfähige Qualität, eher von einer Arbeitshose als von modischen Jeans, teilte man im Bericht mit.
Was unter den Fingernägeln herausgekratzt worden war, brachte keine Spuren ihres Angreifers. Vielleicht hatte sie sich kaum gewehrt, entweder weil sie ihren Angreifer kannte und ihm vertraute, oder wegen des interessanten Drogencocktails in ihrem Blut, einschließlich Heroin. Ihre frühere Verwarnung wegen Drogenbesitzes war offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs. Eigentlich war das keine Überraschung.
Aber es gab eine verblüffende Einzelheit, die nicht einmal McCarthy erwartet hatte. Bei der Suche in Shepherd Wheel hatten sie drei verschiedene Fingerabdrücke jüngeren Datums gefunden. Die eine Sorte war noch nicht zugeordnet. Es waren einmal die Abdrücke Emma Allans, wie sie erwartet hatten. Aber nachdem Emma die Gegenstände angefasst hatte, war noch jemand in der Werkstatt gewesen und hatte Abdrücke hinterlassen. Seine Abdrücke überlagerten und verwischten die von Emma. Er war auf der Computerliste und der örtlichen Polizei wohl bekannt: Ashley Reid.
Bei der Besprechung zeigte das aufgeregte Stimmengewirr, dass die Ermittlung in Gang kam. Brooke gab die Leitung der Einsatzbesprechung an McCarthy ab und ließ ihn über Reid berichten. McCarthy fasste die Details zusammen: dass er möglicherweise am Tatort gesehen worden war, die Fingerabdrücke und Reids noch nicht lange zurückliegende Verhaftung. »Das ist nicht genug. Wir wissen nicht, wann Emma Allan diese Abdrücke hinterlassen hat«, betonte McCarthy. »Wenn sie einmal da gewesen war, könnte sie auch an einem anderen Tag dort gewesen sein. Wahrscheinlich war sie das. Das Kind, Lucy Fielding, sagte, dass Emma oft weggegangen sei, wenn sie im Park waren.« Er erinnerte sich daran, wie nüchtern und teilnahmslos Lucy gesprochen hatte. Und Emma ist weggegangen und hat die Monster gejagt, und ich bin zum Spielplatz gegangen . »Wir versuchen seit Samstag, Reid als Zeugen hinzuzuziehen. Niemand weiß, wo er ist.«
McCarthy reichte die Informationen vom Drogendezernat herum, die er am Wochenende zusammengesucht hatte, und berichtete noch einmal über das Gespräch mit Suzanne Milner. »Es ist etwas merkwürdig, dass Milner Reid erwähnte, nur um zu sagen, sie hätte ihn nicht gesehen. Ja, Barraclough?«
»Warum hat sie ihn erwähnt? Wie kam sein Name ins Spiel?«
McCarthy wusste es nicht. Es war auch ihm ein Rätsel. »Entweder sie hat ihn gesehen und wollte es nicht sagen – hatte ihn aber schon erwähnt und musste dann das Beste daraus machen. Oder es ist, wie sie sagte: Sie sah jemanden, der ihr so auszusehen schien wie er. Sie hielt sich sehr bedeckt. Ich weiß nicht, wie gut sie ihn kennt.«
Er schilderte die Umstände bei Reids letzter Verhaftung und bemerkte die Unzufriedenheit und den Ärger seiner Kollegen darüber, dass Reid gegen Kaution freigekommen war. »Warum hat man das getan?« Barraclough konnte sich noch immer über Gerichtsentscheidungen ärgern.
»Ich bin nicht allen Einzelheiten nachgegangen. Er war schon im Alpha-Programm unter Beaufsichtigung.« Barraclough war entrüstet. McCarthy warf ihr einen Blick zu und nickte zustimmend. »Wir müssen ihn finden. Wir werden Proben brauchen, die Abdrücke allein reichen nicht aus. Wir wollen ihn darauf festnageln. Nichts weist auf den Vater hin, aber wir haben die Laborergebnisse von seinen Proben noch nicht zurückbekommen. Und es würde helfen, wenn sich bestätigen ließe, dass Reid gesehen wurde.«
McCarthy war müde, dabei hatte der Tag gerade erst angefangen. Er sah immer wieder das Gesicht der toten Frau im Wasser vor sich. Die Erregung bei den ersten Neuigkeiten über die Fingerabdrücke in Shepherd Wheel hatte sich gelegt, und an ihre Stelle trat das Bewusstsein, wie dringend die Sache war. Sie kannten die Anzeichen. Ashley Reid war gefährlich und lief noch frei herum.
Suzanne verbrachte den Vormittag in der Bibliothek. Sie hatte einen großen Teil des gestrigen Abends damit zugebracht, über Mittel und Wege nachzudenken, wie sie den angerichteten Schaden wieder gutmachen könnte, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Sie war wütend darüber, wie ihr Verhalten ausgelegt wurde, wusste aber, dass es in einer solchen Situation sinnlos war, sich über mangelnde Fairness zu beklagen. Jedenfalls hätte sie, sobald sie Ashleys Namen erwähnt und das Interesse in McCarthys Augen gesehen hatte, Richard anrufen und es ihm erzählen sollen. Es war ihre Schuld.
Sie musste mit ihrer Arbeit vorankommen und saß deshalb bereits um halb neun vor dem Computer-Katalog und führte eine ihrer regelmäßigen Überprüfungen der Fachzeitschriften durch, um nach neuen Forschungsansätzen auf dem Gebiet der Sprachstörungen zu suchen. Die Plätze, auf denen die Computer standen, waren ungünstig, die Stühle waren zu hoch und sie musste sich nach vorn beugen, um den Bildschirm gut sehen zu können. Das Haar fiel ihr vor die Augen, und sie suchte in ihrer Tasche nach einer Spange, drehte dann die Haare zusammen und machte sie mit der Spange fest. So war es besser.
Nach einer halben Stunde fand sie den Hinweis, den sie gesucht hatte. Jemand in Kalifornien forschte nach Beweisen für Gehirnschäden bei Mehrfachtätern. Sie war sich nicht sicher, ob das für ihr Thema relevant sein würde, aber Sprachstörungen konnten ja bei bestimmten Arten von Hirnschädigung entstehen. Es war möglich, dass sie und dieser Wissenschaftler das gleiche Problem von verschiedenen Seiten angingen. Als sie den Aufsatz überflog, erkannte sie Faktoren, die für ihr Forschungsgebiet wichtig waren: … klare Hinweise auf dem Kernspinbild des Frontalhirns… Aphasie… soziopathische Verhaltensmuster … Sie notierte sich die Quelle auf ein Karteikärtchen und holte sich die Zeitschrift an einen der Lesetische.
Sie arbeitete in der Stille der Bibliothek. Die endlosen Reihen von Regalen und die Lichtkleckse in der Dunkelheit stellten ihr Gleichgewicht wieder her. Beim Lesen spürte sie die Begeisterung über eine klare Bestätigung der von ihr intuitiv aufgestellten Thesen. Hier war jemand, der bei Wiederholungstätern organische Gehirnschäden festgestellt hatte. Schäden in Partien des Gehirns, die das Sprachvermögen beeinflussten. Handfeste Beweise für ihre eher empirischen Beobachtungen. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten ihren Glauben an ihre Fähigkeiten erschüttert. Zum ersten Mal seit ihrem Gespräch mit DI McCarthy fing sie an zu glauben, dass schließlich doch alles gut werden könnte.
Kurz nach elf Uhr begann sie zu ermüden. Sie hatte fast drei Stunden ohne Pause gearbeitet, also ließ sie ihre Bücher und Notizen auf dem Tisch liegen und ging durch den Campus zum Café. Die Sonne schien, und der Himmel war wolkenlos. Sie schloss die Augen, hielt das Gesicht der Sonne entgegen und genoss die Wärme und die Muster von Licht und Schatten auf ihren Augenlidern.
Als sie die Augen öffnete, war sie etwas verwirrt, DI McCarthy zu sehen. Er kam gerade die Stufen von der Straße am Verwaltungsgebäude herunter, das den efeubewachsenen Mittelpunkt der Universität bildete. Sie wären fast zusammengestoßen. Er wirkte leicht überrascht, als er sie wie eine Sonnenanbeterin dastehen sah. Sie verzog das Gesicht, bemühte sich aber hastig um einen normalen Ausdruck. Sie fühlte sich im Nachteil. Ein erneutes Treffen mit McCarthy wäre ihr in strenger Berufskleidung lieber gewesen, aber in der Bibliothek trug sie alte Jeans und ein T-Shirt. An ihren Fingern waren Tintenflecke von einem schadhaften Kugelschreiber und womöglich hatte sie auch Tinte im Gesicht. Ihre Haare lösten sich aus der Spange, und sie glaubte, seine Augen belustigt funkeln zu sehen, aber als sie wieder hinschaute, war er nüchtern und gelassen wie immer. »Miss Milner«, sagte er freundlich, lächelte aber nicht.
Suzanne nickte grüßend. Sie wusste nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. Sie dachte, dass man vielleicht Constable oder Sergeant sagte, war sich aber nicht sicher, ob es vielleicht Inspector hieß. Oder etwa Inspector McCarthy? Sie entschied sich für ein vorsichtiges »Hallo« und hielt ihre Haare fest, als die Spange herausfiel und klappernd auf den Gehweg fiel. »Übrigens, ich bin Suzanne.«
»Steve«, sagte er, hob die Spange auf und gab sie ihr.
»Danke.« Sie strich sich das Haar wieder aus dem Gesicht und machte die Spange zu.
Sie erwartete, dass er weitergehen würde, aber er blieb stehen, sah sie an und ließ dann den Blick über den Campus schweifen. » Ich komme normalerweise nie zur Uni«, sagte er. »Kann man hier irgendwo eine Tasse Kaffee trinken?«
»Im Studentencafé«, sagte sie. »Man kann Espresso und Cappuccino bekommen.«
Er zuckte die Schultern. »Heiß und mit viel Koffein, das würde im Augenblick genügen.« Er sah sie wieder an, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Haben Sie ein bisschen Zeit? Da ist etwas, was ich Sie fragen wollte. Ich spendiere Ihnen einen Kaffee.«
Suzanne war misstrauisch. Etwas, was ich Sie fragen wollte . »Hat es zu tun mit…« Sie hätte fast »Ashley« gesagt, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück. »… mit Emma?«
»Es gibt zwei oder drei Lücken, die Sie ausfüllen könnten.« Er sah sie an und wartete, was sie sagen würde. Sie dachte an Jane und was sie neulich gesagt hatte. Jane würde mit dem ernsten McCarthy wahrscheinlich flirten. Sie fragte sich, wie er darauf reagieren würde. Ihrer Erfahrung nach gab es nur sehr wenige Männer, die Jane widerstehen konnten, aber sie glaubte, für McCarthy würde sie die Hand ins Feuer legen.
Ihr wurde bewusst, dass sie noch nicht geantwortet hatte und er sie fragend ansah. »Na schön«, begann sie vorsichtig.
Da lächelte er belustigt über ihre Vorsicht und sagte: »Keine Bange, ich habe schon was zu essen bekommen, bevor man mich heute früh auf die Menschheit losgelassen hat.« Na ja, vielleicht hatte er doch eine menschliche Seite. Sie gingen schweigend zum Studentencafé hinüber.
Es war nicht viel los. McCarthy holte ihr einen doppelten Espresso und blieb kurz stehen, um mit der Frau zu plaudern, die den Kaffee ausschenkte, geriet in einen scherzhaften Schlagabtausch und schien einen Augenblick ein völlig anderer Mensch zu sein als der Mann, der sich Jane gegenüber brüsk und wenig mitfühlend und Suzanne gegenüber kalt und ungeduldig verhalten hatte. Vielleicht passte er sein Auftreten eben genau den jeweiligen Gegebenheiten an.
Er bot ihr eine Zigarette an und zündete sich dann selbst eine an. Bevor er etwas sagen konnte, fragte sie ihn: »Was machen Sie hier oben?«
Er sah sie einen Moment an, bevor er antwortete. »Ich versuche Sophie Dutton zu finden.«
Suzanne war überrascht. »Sophie ist doch nach Hause gefahren. Wussten Sie das nicht?«
Er gab keine Antwort, sondern sah sie nur weiter an, während er die Asche von seiner Zigarette schnippte. »Ich wollte mit Ihnen über das Alpha-Projekt sprechen.« Er brach ab, als hätte er gerade eine Idee und sah sie mit ehrlicher Neugier an. »Warum arbeiten Sie denn hier mit?«, fragte er.
Suzanne dachte über die Frage nach und suchte nach einem Haken. »Warum nicht?«, konterte sie.
Er schien das als ernsthafte Erklärung aufzufassen. »Die meisten der Burschen sollten hinter Schloss und Riegel sein«, sagte er. »Ich würde meine Zeit nicht mit ihnen verbringen, wenn ich es nicht müsste.«
Suzannes Gesichtsausdruck wurde entschlossen. »Es gibt Gründe dafür«, sagte sie, »dass sie so sind, wie sie sind.«
»Oh, es gibt immer Gründe«, stimmte er zu. »Das macht sie aber nicht weniger gefährlich.«
Sie sah auf ihre Hände und fragte sich, ob er wirklich glaubte, was er sagte, oder ob er sie ärgern wollte, um sie zu unvorsichtigen Äußerungen zu verleiten. »Es geht meistens um Autodiebstahl und solche Dinge.«
»Autodiebstahl ist gefährlich genug, wenn man von einem angefahren wird, der eine Spritztour macht.« Darüber ließ sich streiten. So gesehen, war jeder Fahrer gefährlich. Sie wartete ab, was er sonst noch zu sagen hatte. »Sie dürfen nicht vergessen, dass die meisten ernsthaft gestört sind. Beurteilen Sie sie nicht nach Ihren eigenen Kriterien.«
Sie hatte das Gefühl, dass er sie vor etwas warnen wollte, und dachte über die Jungen nach, die sie kennen gelernt hatte. Zugegeben, Dean war aggressiv und schwierig. Seine Vorgeschichte schloss gestörtes Sozialverhalten und Drogenmissbrauch ein. Die Mitarbeiter des Zentrums behandelten ihn mit Vorsicht. Richard hatte ihr gegenüber einmal zugegeben, dass er Dean für einen hoffnungslosen Fall hielt. Und hinter Lees Schlagfertigkeit versteckte sich etwas Unheilvolles. Ashley war anders, ruhiger, weniger aggressiv. Sie wollte McCarthy vom Thema ablenken. »Und es sind also nur die Sozialarbeiter, die es so sehen?«
Er wollte antworten, lachte dann, als sich ihre Blicke trafen, und sie erwiderte sein Lächeln in einem Augenblick verstehender Übereinstimmung. Jane hatte Recht. Er war attraktiv. Sie wurde etwas lockerer. Dann fragte sie sich, warum er sich nur unterhielt und ihr keine Fragen über Emma stellte. Vielleicht wollte er ihr die Befangenheit nehmen.
»Sie haben mir immer noch nicht geantwortet«, sagte er. »Warum das Alpha-Centre?«
»Es bot die beste Arbeitsmöglichkeit für mein Forschungsprojekt.« Sie erklärte ihre Theorie über Menschen, deren Fähigkeit zur Kommunikation geschädigt war. Sie war es gewöhnt, dass man ihr mit Skepsis begegnete, aber er schien ihr wirkliches Interesse entgegenzubringen und stellte erstaunlich kompetente Fragen. Dann fragte sie sich, wieso sie das überraschte. Kriminelles Verhalten war für ihn genauso ein Fachgebiet wie für Richard. Sie erzählte ihm von dem kalifornischen Forschungsbericht, den sie am Vormittag gefunden hatte und der ihre Arbeit bestätigte. Er hörte zu und schilderte einige der Menschen, mit denen er zu tun gehabt hatte. Er wurde ihr sympathischer, und sie fand, es sei leichter, sich mit ihm zu unterhalten, als sie gedacht hatte. Er schien sie als Expertin auf ihrem eigenen Arbeitsgebiet akzeptieren zu wollen. Sie berichtete über die Reaktionen von Alpha-Mitarbeitern, Neils Ablehnung und Richards strengem Ernst.
Er lächelte darüber. »Sie schotten sich manchmal ziemlich ab«, sagte er. Sie hörte einen Unterton in seinen diplomatisch formulierten Worten und schaute ihn schnell an. Er sah ihr in die Augen, und sie entdeckte dort eine Meinung, die ihrer eigenen ähnlich war. Sie spürte erneut dieses bei ihm unerwartete Verständnis und fing an, sich richtig gut zu fühlen. Er kam auf das Forschungsprojekt zurück. »Wie oft sind Sie also dort?«
»Nur den einen Nachmittag und dann ein Mal abends.« Mehr hatte man ihr nicht erlaubt.
»In der Woche?« Er griff dabei nach dem Aschenbecher.
»Ja …« Sie schob ihn zu ihm hinüber.
»Wie viele Stunden pro Woche?« Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus, nicht so wie sie, die den Studentengewohnheiten folgend, immer bis auf den Filter hinunterrauchte.
»Es kommt darauf an. Drei, vier Stunden vielleicht.« Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte.
»Und Sie arbeiten mit allen Jungs zusammen?«
»Meistens. Manchmal …«, aber sie unterbrach sich. Sie würde ihm nichts von den Aufnahmen erzählen, nicht, bevor sie es mit Richard abgesprochen hatte. »Warum möchten Sie das wissen?«
»Ich habe mich gefragt, wie gut Sie Ashley Reid kennen«, sagte er. »Haben Sie außerhalb des Zentrums irgendwelchen Kontakt mit ihm gehabt?«
Das war es also. Er wollte zeigen, dass sie sich schützend vor Ashley stellen würde, weil sie mit Ashley etwas gemeinsam hatte, aber nicht wusste was … Er versuchte zu beweisen, dass sie nicht unvoreingenommen war, dass sie tatsächlich lügen würde. Die Hürde war wieder da. Er war kein attraktiver Mann mehr, der bei einer Tasse Kaffee angenehm mit ihr flirtete, sondern er war ein Kripobeamter, der sie befragen wollte. »Ich habe Ashley immer nur im Zentrum gesehen. Vor elf Wochen habe ich ihn getroffen und ihn dann dort hin und wieder gesehen. Es gab Wochen, da hatte ich überhaupt nichts mit ihm zu tun.« Dies war, genau genommen, nicht wahr. Sie hatte mit Ashley mehr Zeit verbracht als mit den anderen, und obwohl es eine Woche gegeben hatte, in der Ashley früher wegging, war er immer da gewesen.
»Okay.« Er schien das zu akzeptieren. »Wir haben Schwierigkeiten, ihn ausfindig zu machen. Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Idee.« Sie schüttelte den Kopf und wartete. Er dachte über das nach, was sie gesagt hatte. »Ich erinnere mich, dass Sie sagten, Sie hätten ganz flüchtig jemanden gesehen, sein Gesicht.«
»Ja.« Das Gefühl, ihr Magen sei ein einziger Knoten, stellte sich wieder ein.
»Aber Sie sind nicht sicher, ob es Reid war oder nicht? Sie haben jemanden gesehen, auf den die Beschreibung seines Aussehens passt.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass dies logisch und vernünftig sei. »Hören Sie, Suzanne, wir glauben, dass er dort war. Sie könnten uns bei der Festlegung des genauen Zeitpunkts helfen. Sie geben selbst zu, dass Sie Reid kaum kennen – nicht gut genug, um bei einem flüchtigen Blick sicher sein zu können.« Er sah sie wieder an. »Sie haben eine Person gesehen, die sich von Ihnen weg in den Wald entfernte. Er schaute über die Schulter zurück. Sie dachten, es sei Reid, und dann dachten Sie, er sei es nicht – aber eigentlich können Sie weder das eine noch das andere mit Sicherheit sagen.« Sag uns doch, wo Adam ist. Wir wollen dem Jungen helfen, Suzanne . »Passen Sie auf«, sagte er, »Sie brauchen mir nur zu sagen, was los war, was Sie gesehen haben. Sie sind nicht verantwortlich für Reid.«
Du bist verantwortlich dafür, Suzanne . Sie erstarrte. Adams Gesicht auf dem Foto; Emma im Wasser. Ein junger Mann mit dunklem Haar, der wegging und sich dabei schnell und verstohlen umsah. Konnte sie dem trauen, was sie gesehen hatte? Sie schaute den Mann an, der ihr gegenübersaß. Er wartete auf eine Antwort und schien etwas ratlos zu sein. Hatte sie etwas gesagt? Sie schüttelte den Kopf. »Es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe«, bekräftigte sie. »Ich sah jemanden, der mich an Ashley Reid erinnerte. Ich glaubte nicht, dass er es war, und ich glaube es immer noch nicht.« Er sagte nichts. »Es tut mir Leid. Das habe ich gesehen.« Sie würde gleich anfangen zu faseln, zu erklären, sich zu rechtfertigen. Als sie ihre Zigarette ausdrückte und ihre Tasche nahm, sah sie ihn nicht an. »Tut mir Leid, ich muss jetzt gehen.«
McCarthy sah sie durch die Tür verschwinden und war frustriert. Alles an ihr deutete darauf hin, dass sie ihn anlog, obwohl er dafür keinen Grund sah. Möglicherweise hatte sie, als er das letzte Mal mit ihr sprach, Reid aus unangebrachter Nachsicht geschützt, aber seitdem hatte sie doch Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Sie war nicht dumm. Er hatte ihr gesagt, dass sie Dinge über Reid wussten, die ihn in eine schwierige Lage bringen konnten, und hatte sie nur um eine Bestätigung ihrer Aussage gebeten.
Er blieb, wo er war, und trank seinen Kaffee. Das Café war cremefarben und blau gestrichen, auf dem Teppich wiederholten sich diese Farben, und das Ganze wirkte leicht und luftig. Die Tischreihen am Fenster sahen nach Kantine aus, aber in dem Teil, wo er mit Suzanne gesessen hatte, standen niedrige Tische, eine Bar mit hohen Hockern und Zimmerpflanzen, alles so arrangiert, dass ein angenehmer, abgetrennter Bereich zum Sitzen entstanden war. Einige Leute saßen an den Tischen, und gedämpftes Murmeln war zu hören, aber sonst störte nichts die allgemeine Atmosphäre entspannter Ruhe. Er dachte an die Kantine der Polizeidirektion. Ausreichend, aber es gab weder Teppich noch Pflanzen, nur eine Akustik, die Gespräche und das Quietschen der Stühle auf dem Linoleum verstärkte und laut widerhallen ließ. All das schien wie geschaffen, um die Spannung und den Druck, unter denen sie arbeiteten, zu erhöhen. Er fragte sich, was Studenten taten, dass sie diese Atmosphäre von Ruhe und Frieden verdient hatten, die ihn bei den wenigen Gelegenheiten, als er auf dem Campus gewesen war, immer beeindruckt hatte. Hör auf mit deinen Komplexen, McCarthy .
Er ließ das Gespräch mit Suzanne in Gedanken noch einmal an sich vorüberziehen. Er hatte sie nicht in Aufregung versetzen wollen – sie hatte sich diesmal nicht als herablassende Akademikerin gegeben. Sie war freundlich gewesen, zuerst ein bisschen vorsichtig, aber dann, als sie über ihre Arbeit sprachen, war sie ganz bei der Sache und schien plötzlich selbstbewusst und diszipliniert. Er fand das, worüber sie sprach, interessant. Sie hatte ein lebhaftes Bild des Alpha-Teams entworfen und hatte ihm dabei eine spitzzüngige Parodie geliefert, die ihn zum Lachen brachte. Aber als er dann zögerlich zum eigentlichen Zweck seines Gesprächs kam, war das alles in sich zusammengebrochen, und sie wirkte erschrocken und verwirrt.
Er hatte sich gefreut, als er sie an der Mauer stehen sah, das Gesicht der Sonne zugewandt, lächelnd und ganz anders, als sie zuvor gewirkt hatte. Als sie ihn sah, wurde ihr Lächeln zu einem Stirnrunzeln, das sie hastig wieder verschwinden ließ, sobald sie merkte, dass er sie beobachtete. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er ihr zuschaute, weil er sie gern ansah. Sie erinnerte ihn sehr an Lynne, außer dass sie eine Unsicherheit ausstrahlte, die es bei Lynne nie gegeben hatte. Eine verletzliche Lynne, eine Lynne ohne deren einschüchternde Kompetenz. Er hatte es genossen, die Hürden ihres Widerstandes abzubauen, bis sie ihm vertraute, aber dann hatte er sie brüskiert, ohne es zu wollen.
Und seine Bestätigung dafür, dass jemand, der wie Reid aussah, ungefähr zu dem fraglichen Zeitpunkt im Park gesehen worden war, hatte er immer noch nicht – er würde noch einmal mit Suzanne sprechen müssen. Er sah auf die Uhr und trank seinen Kaffee aus, denn er hatte noch eine Fahrt nach Derby vor sich.
Es war große Pause. Lucy schüttelte den Kopf, als Lauren sie fragte, ob sie mitspielen wolle. »Komm doch, Lucy, du musst mitmachen. Es ist mein Spiel.« Lucy schüttelte wieder den Kopf und suchte sich einen Weg durch eine Gruppe von Jungen, die laut schrien und sich in der Nähe der Bänke gegenseitig anrempelten. Sie hörte Kirstens Stimme hinter sich.
»Ihr Babysitter ist umgebracht worden. Die Polizei ist bei ihrer Mum gewesen.« Aufgeregtes Getuschel. Lucy ballte die Fäuste. Sie würde es Kirsten schon zeigen. Aber sie hatte etwas Wichtigeres zu tun. Sie ging zur Mauer, von der man auf die Straße hinaussehen konnte, kletterte ein Stück hinauf und hielt sich am Geländer fest. Sie sah die Geschäfte auf der anderen Straßenseite und Leute, die schnell in beiden Richtungen vorbeigingen. Es gab einen Laden, wo ihre Mum all ihre Blumen und Kräuter holte. Daddy nannte sie immer Mums Blumen und Kräuter. Da war der Laden mit den vielen Käsesorten. Lucy ging nicht gern hinein, weil es dort komisch roch. Sie hielt sich am Gitter fest und suchte mit den Schuhspitzen Halt in den Steinritzen. Überall entlang der Straße standen Autos. Umweltverschmutzung. Das sagte Mum immer. Die Leute sahen alle ganz normal aus. Da war Mrs. Varney, die manchmal auf Lucy aufpasste. Dort waren die Lady mit den komischen Schuhen und Kath vom Obstgeschäft mit ihrem Baby im Kinderwagen. Lucy winkte, und Kath winkte zurück. Das merkwürdige Gefühl, das sie den ganzen Morgen über gehabt hatte, verflüchtigte sich langsam. Es schien alles in Ordnung zu sein, als bräuchte sie keine Angst zu haben. Sie reckte den Hals, um weiter die Straße hinabsehen zu können.
Und da war er, vor der Buchhandlung. Er schien sich Bücher anzusehen, aber Lucy wusste, dass er nur so tat. Grandmother’s Footsteps, das unheimliche Spiel. Sie sah dorthin und alles war ruhig, niemand bewegte sich. Die Monster waren immer noch da, und sie waren näher gekommen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Die Monster warteten immer noch.
»Sie werden es so weit bringen, dass ich rausfliege, Leute.« Der junge Mann sah die zwei Kripobeamten an, die ihn im Büro des Geschäftsführers erwartet hatten. »Hören Sie, hat es nicht Zeit, bis ich fertig bin? Ich brauche das Geld …« Seine Stimme wurde leiser und verstummte. Er sah verlegen aus wie jemand, der ein schlechtes Gewissen hat. Er hatte am Freitag gearbeitet, den ganzen Tag im Büro in Derby am Computer, er arbeitete, um das Darlehen aufzubessern, mit dem er nicht einmal die Miete für ein Jahr an der Uni zahlen konnte. McCarthy war es recht, dass er so nervös war, er war froh über die Tatsache, dass Paul Lynman, Student und Exbewohner der Carleton Road 14 und Mitbewohner von Emma Allan und Sophie Dutton, Angst hatte, seinen Job zu verlieren. Je schneller er ihnen ihre Fragen zufriedenstellend beantwortete, desto eher würden sie ihn in Ruhe lassen.
»Wir beeilen uns«, sagte er. Lynman nickte. »Ich will Ihnen ein paar Fragen über Emma Allan und Sophie Dutton stellen. Sie haben vom vergangenen September an mit Sophie im gleichen Haus gewohnt. Und wir haben erfahren, dass Emma Allan inoffiziell auch ein paar Wochen dort gewohnt hat.«
Lynman war verblüfft, dies hatte er nicht erwartet. McCarthy fragte sich, was er wohl befürchtet hatte, dass er so besorgt und verlegen aussah, als sie sich vorgestellt hatten. »Emma?« Seine Unsicherheit wurde noch größer. »Sie ist Sophies Freundin. Ich weiß eigentlich nicht … Und ich habe auch Sophie schon wochenlang nicht gesehen. Sie ist weggegangen …« Er sah McCarthy an. »Im September war ich nicht dort. Ich bin im Oktober eingezogen. Ich wohnte vorher bei meiner Freundin, aber dort war kein Platz mehr. Ich kannte die beiden nicht …«
McCarthy dachte nach. »Warum sind Sie so spät eingezogen?« Das Haus war für vier Bewohner geplant. Wohnraum der Universität war knapp, wieso stand im Oktober ein Zimmer zur Verfügung? Noch dazu ein Zimmer in einer sehr begehrten Gegend.
Lynman sah ihn an und versuchte, die Frage einzuschätzen. »Das Haus war voll, aber dann zog jemand aus, und sie brauchten Ersatz. Ich kannte zwei der Leute dort, sie waren in meinem Semester, Gemma und Dan.« Die Studenten, die in Deutschland waren. »Und da …« Er zuckte die Schultern.
Okay, McCarthy legte das gedanklich zu den Akten. »Mr. Lynman, haben Sie gestern die Nachrichten gesehen?« Lynmans Bestürzung war überzeugend. Es sah aus, als wisse er nichts über Emma. Warum also die Panik, die McCarthy zu sehen geglaubt hatte?
»Nein, ich kümmere mich nicht… Welche Nachrichten?«
»Emma ist tot, Mr. Lynman.« Er sah die Wirkung dieser Neuigkeit im Gesicht des jungen Mannes.
»Ich habe nicht… Ich hab ihr gesagt… Was ist passiert?«
McCarthy wollte nichts beschönigen. »Sie wurde ermordet.« Lynmans Gesicht spiegelte zuerst Ungläubigkeit und dann Schock, als ihm klar wurde, dass McCarthy wirklich ernst meinte, was er sagte, und sich keines raffinierten Tricks bediente. Er wurde blass und streckte die Hand aus, um sich an der Wand festzuhalten. Corvin stützte seinen Arm ein wenig, zog einen Stuhl heraus und warf McCarthy einen Blick mit argwöhnisch hochgezogenen Augenbrauen zu.
Lynman schlug die Hand vor den Mund. »O Scheiße. O Scheiße.« Er legte den Kopf in die Hände. »Mir wird schlecht«, sagte er.
McCarthy nickte Corvin zu, der zum Wasserspender draußen vor der Bürotür ging. »Tief atmen«, riet McCarthy, und Corvin hielt ihm den Papierbecher hin. Lynman schaute sie beide an, nahm den Becher und trank etwas Wasser. Er war auf seinem Stuhl zusammengesunken und sah verstört aus. McCarthy blickte durch die Glaswände des Büros und sah den Geschäftsführer auf der anderen Seite des Raums an einem Schreibtisch stehen und herüberspähen. Die Leuchtstoffröhren gaben ein helles, stumpfes Licht. Hier merkte man überhaupt nicht, dass draußen ein klarer, sonniger Tag war.
McCarthy drehte einen Stuhl um und setzte sich rittlings dem jungen Mann gegenüber hin. »Paul«, sagte er. Es war Zeit, zu einer persönlicheren Beziehung überzugehen. »Sie haben es ihr gesagt ? Was haben Sie ihr gesagt?« Lynman wich McCarthys Blick aus und antwortete nicht. »Sie wussten nicht, dass Emma tot ist…« Lynman schüttelte bestätigend den Kopf. »Aber Sie waren nicht allzu überrascht. Also, wir können das jetzt schnell abwickeln, oder wir können es auch langsam machen, aber Sie werden mir alles erzählen, was Sie über Emma wissen. Auch über Sophie muss ich Bescheid wissen – wir können sie nicht finden. Sie ist nicht da, wo sie sein sollte. Sie können hier mit mir reden oder auf die Wache nach Sheffield mitkommen, um uns dort bei unseren Ermittlungen zu helfen.« Die vertraute Formulierung ließ Lynman den Kopf heben, und er sah McCarthy an. McCarthy wartete. Er war sich bewusst, dass Corvin sich großspurig wie ein Schläger hinter ihn gestellt hatte. Gut.
Lynman fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Großer Gott. Ich kann nicht… Emma . Es ist…« Er sah McCarthy empört an. »Es bringt mich um den Verstand.« McCarthy wartete. »Ich weiß nichts darüber«, sagte Lynman plötzlich erschrocken.
»Aber über die Drogen wissen Sie doch etwas, nicht wahr, Paul?« McCarthy lächelte milde.
»Ach Gott.« Er sah verängstigt aus. »Ich hab … Hören Sie, es war Emma. Es geht ihr gut, Emma, alles ist in Ordnung. Es ging ihr gut. Sie hatte nur … sie hatte kein Geld, Mann, so geht’s uns allen.«
»Was hat sie getan, Paul?« McCarthys Stimme war freundlich und onkelhaft.
»Es war nichts…« Er sah die beiden Männer in panischem Schreck an. Was immer ihn am Anfang besorgt gemacht hatte, als sie ankamen, schien nun seine Angst zu steigern. Seine Blicke huschten zwischen McCarthy und Corvin hin und her.
Corvin machte eine Bewegung mit der Hand. »Das ist doch Zeitverschwendung. Lass ihn uns einfach nach Sheffield mitnehmen«, schlug er vor.
»Nein!« Das wollte Lynman nicht. »Hören Sie, ich will nur nicht, dass andere meinetwegen Ärger bekommen.« McCarthy interpretierte das als Aussage, Lynman selbst wolle keinen Ärger. Er fing an zu reden. Emma hatte sich eine lukrative Nebenbeschäftigung zugelegt. Sie konnte gute Tabletten bekommen. »Echtes Ecstasy«, sagte Lynman begeistert und vergaß sich einen Moment. »Das Zeug, das man jetzt bekommt, ist meistens Mist.« Und guten Speed, Paste. »Es war auch billig.« Er grübelte einen Moment. »Sie hat nicht gedealt«, sagte er. »Sie hat nur an Studenten verkauft, wissen Sie?« McCarthy sah da eigentlich keinen Unterschied, aber er nickte und wartete. Lynman sprach weiter und beschrieb ein effizientes und lukratives Unternehmen. Emma verkaufte an andere Studenten und ihre Freunde. Sie gab an ihre Freunde zu Preisen ab, die unter den Straßenpreisen lagen, von anderen verlangte sie ein bisschen mehr. »Aber alle wussten, dass der Stoff gut war. Zu Emma ging man, um sich was Gutes zu holen. Sie dealte nicht, verstehen Sie.«
McCarthy dachte darüber nach. »Und Sophie …?«
»Ja, Sophie nahm manchmal Tabletten. Das haben wir alle getan.« Er strich sich nervös mit der Hand übers Gesicht. »Sophie fand, dass Emma sich in letzter Zeit ein bisschen zu sehr hineinziehen ließ.« McCarthy tauschte einen Blick mit Corvin. Wenn Emma ein einträgliches Geschäft mit Tabletten betrieb, warum arbeitete sie dann so eifrig für Jane Fielding als Babysitter, wofür sie nur ein paar Kröten bekam? Er musste darüber nachdenken. »Und dann ist etwas passiert«, sagte Lynman. »Emma hatte einen Streit mit ihrer Mum, ist von zu Hause weggegangen und zog bei uns im Haus ein. Dann schmiss Sophie ihr Studium hin und ging nach Hause zurück. Aber sie sagte, sie wollte nicht, dass ihre Eltern es erführen, bevor sie einen Job hatte, und Emma könnte dann zu ihr kommen, wenn sie sich eingerichtet hatte. Deshalb ließen wir Emma in der Carleton Road wohnen, verstehen Sie. Wir brauchten jemanden, der bei der Miete mithalf, und Sophie wollte den Kontakt halten.«
»Und wo ist Sophie jetzt?« McCarthy wusste, dass sie dringend mit Sophie Dutton reden mussten.
Lynman schüttelte den Kopf. »Sie ist nach Hause gegangen.« Er sah die beiden Männer achselzuckend an.
McCarthy schaute Corvin an. »Sie werden mit uns nach Sheffield kommen müssen«, sagte er zu Lynman. »Wir brauchen eine komplette Aussage von Ihnen und müssen uns über Emmas Kontakte informieren, an wen sie verkauft hat, von wem sie kaufte.« Lynman wollte protestieren, aber McCarthy warf ihm einen Blick zu, und er gab sich geschlagen.
Als sie durch die Tür getreten war, warf Suzanne ihre Tasche hin und lief über den Hof zu Jane. Außer der kurzen Zeit mit Steve McCarthy, und das zählte nicht, hatte sie den ganzen Tag mit niemandem geredet. Von Büchern hatte sie genug, sie wollte sich mit jemandem unterhalten.
Lucy antwortete auf ihr Klopfen, also ging sie hinein, als Joel gerade auf die Tür zukam. Sie dachte, er sei nach Leeds zurückgefahren. Lucy saß malend an einem Tisch und sah zu ihr hoch. »Hallo, Suzanne«, sagte sie. »Ich male«, fügte sie höflich hinzu.
»Hallo, Lucy.« Suzanne war sich nicht mehr sicher, ob sie bleiben sollte. Mit Joel wollte sie sich nicht unterhalten. Er beobachtete sie, und als sie ihn anschaute, setzte er wieder sein süffisantes Lächeln auf.
»Hi, Suzie. Setz dich.« Er nahm auf der Couch Platz und betrachtete sie von oben bis unten. Sein Lächeln wurde breiter, weil irgendetwas ihn amüsierte.
»Ist Jane da?« Sie beschloss, nicht zu bleiben, wenn Jane weg war. Sie hatte ihre letzte Begegnung mit Joel noch zu gut in Erinnerung.
»Sie arbeitet.« Joel gähnte und streckte sich, als ob ihn allein der Gedanke schon müde machte. Er war wie eine Katze, dachte Suzanne, dieselbe entspannte Aufmerksamkeit, mit der er seine Umgebung beobachtete, dieselbe Fähigkeit, immer so auszusehen, als gehöre er genau dahin, wo er sich niedergelassen hatte. »Sie muss heute Abend noch etwas abschicken. Bald ist sie fertig. Ich bin der Babysitter.«
Lucy blickte die beiden Erwachsenen an und sagte: »Ich bin kein Baby.«
Joel sah zu ihr hinüber. »Nein, bist du nicht«, stimmte er zu. »Du bist ’ne Göre.«
Auf Lucys Gesicht zeigte sich Unmut, aber dann schien sie es locker zu nehmen und lächelte still vor sich hin.
Joel zwinkerte Suzanne zu, aber die wandte ihre Aufmerksamkeit schnell Lucy zu. »Was zeichnest du da, Lucy?« Es sah wieder nach Monstern aus, aber Lucy verdeckte das Papier mit ihrem Arm.
»Es ist ein Geheimnis«, sagte sie und sah Suzanne kühl an.
Joel lachte. Lucy presste die Lippen aufeinander und malte hinter ihrem schützenden Arm weiter. Suzanne fand, es bliebe ihr nichts anderes übrig, als sich auf den niedrigen Sessel zu setzen statt neben Joel auf die Couch. Sie sah, dass er dies registrierte und wieder amüsiert lächelte. Lucy suchte in ihrer Schachtel raschelnd nach einem Stift und kauerte über ihrem Bild.
»Na, was hat sich bei dir so getan?«, fragte Joel und betrachtete ihre Jeans, die staubig waren, und ihr T-Shirt mit den Tintenflecken, an dem sie sich zerstreut die Hand abgewischt hatte. Er lehnte sich auf der Couch zurück, schwieg und sah sie nur an. Es fiel ihr schwer, unbefangen und natürlich dazusitzen, sie war sich plötzlich ihres Gesichts, ihrer Hände und ihres Körpers bewusst.
Krampfhaft überlegte sie, was sie sagen könnte, um wieder die Oberhand zu bekommen. Sie wünschte, sie wäre sofort wieder gegangen, als sie Joel gesehen hatte, aber wenn sie jetzt ging, würde das dumm aussehen. »Wieso bist du noch hier?«, brachte sie nach einer kleinen Weile heraus. Es klang plump und fast tadelnd, jedenfalls würde er es so auslegen. Joel hasste es, kritisiert zu werden. Einen kurzen Augenblick verengten sich seine Augen, dann lag wieder das übliche ironische Lächeln auf seinem Gesicht. Er konnte seine Gefühle genauso gut verbergen wie DI McCarthy, nur gab sich McCarthy keine Mühe, dabei nett auszusehen. Man bekommt, was man sieht .
»Ich stehe nur meiner Tochter bei. Ich halte die Polizei von ihr fern, da ihre Mutter das nicht schafft.« Er legte einen Fuß aufs Knie des anderen Beins.
Ärger stieg in ihr auf. »Es ist aber doch alles erledigt, oder nicht?«, fragte sie. »Sie sagten, sie würden nicht mehr mit Lucy reden müssen.« Wegen des Kindes sprach sie leise.
»Jane sagt das. Ich beobachte nur die Lage.« Er sah zu Suzanne hinüber. »Ich bin einfach da«, fügte er langsam und betont hinzu. »Für Lucy.«
So wie du für Michael nicht da bist. »Weil du ja so gut darüber Bescheid weißt, dass man für Kinder da sein muss«, erwiderte sie bissig.
In seinen Augen zuckte es. »Es ist immer das Beste, konsequent zu sein, nicht wahr, Suzie? Wer weiß, was sonst aus ihnen wird.« Er beobachtete sie ruhig. »Sie geraten außer Kontrolle, in Schwierigkeiten, und schon… Na ja, wer weiß?«
Hör mir zu, Suzanne! Sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Aber sie würde nicht darauf reagieren, nicht zurückschlagen, nicht vor Lucy. Es war ein Fehler gewesen, überhaupt damit anzufangen. »So ist es doch?«, fragte er. Lucy schaute auf.
»Ich weiß nicht«, sagte Suzanne. »Hör zu, Jane hat noch zu tun. Ich komme später wieder.«
Sie stand auf, und er erhob sich auch, behutsam und höflich, um sie zur Tür zu bringen. Als er am Tisch vorbeikam, wo Lucy schützend den Arm über ihr Bild gelegt hatte, riss er es ihr weg und hielt es hoch. Eine Ecke des Blatts, das Lucy festgehalten hatte, war abgerissen. »Schau, Suzie«, sagte er, »unsere Lucy hat ein paar Leute gemalt.« Zwei Gestalten in Röcken, eine mit hellem Haar, die andere noch ohne Farbe.
Lucys Gesicht verzog sich, dann sprang sie von ihrem Stuhl auf. »Jetzt hast du’s kaputtgemacht«, rief sie. »Alles ist kaputt.«
Suzannes Hände ballten sich zu Fäusten, und sie hätte ihm am liebsten eine runtergehauen. Er sah sie über Lucys Bild hinweg an. Seine Augen strahlten. Du wolltest dich nicht auf das Spiel einlassen, aber ich hab dich dazu gezwungen! Sie hörte Schritte auf der Treppe, und Jane kam triumphierend herein. »Geschafft«, sagte sie und schwang ein großes Kuvert durch die Luft. »Ganz fertig und schon im Umschlag. Ich muss zur Post.« Sie sah, was los war: Joel und Suzanne starrten einander an, Lucy hielt die Tränen zurück. Lucy weinte nie. »Was ist denn passiert?«, fragte sie und kniete sich vor Lucy auf den Boden. »Was ist denn los, Schatz?«
Dann war plötzlich Joel da, ganz zerknirscht, und legte die Arme um beide. »Suzie wollte Lucys Bild sehen. Aber es war ein Geheimnis. Ich hab’s nicht gewusst. Und jetzt ist sie traurig.« Er kitzelte Lucy am Kinn und lächelte ihr zu. »Es tut mir Leid, Lucy-lu. Das habe ich nicht gewollt.«
Lucy sah ihn an, dann ihre Mutter und Suzanne. Sie nahm das Bild, das ihr Vater ihr hinhielt, und wirkte ratlos und verdrossen. Jane strich ihr übers Haar und warf den beiden Erwachsenen einen vorwurfsvollen Blick zu. »Vielleicht könntest du ein anderes malen«, schlug sie vor.
»Es ist kaputt«, sagte Lucy entschieden. Dann schaute sie ihre Mutter an und fragte berechnend: »Darf ich zum Abendessen Eis haben?«
Joel brach in Lachen aus. »Ganz der Vater. Natürlich darfst du das«, sagte er und fuhr ihr durch die Haare.
Jane runzelte leicht die Stirn und schaute Lucy abwägend an. »Ich muss zur Post«, sagte sie. »Das hier muss morgen dort sein. Ich bin in einer Viertelstunde wieder da.« Sie hatte zu Joel gesprochen, der dabei war, seine Jacke anzuziehen.
Suzanne sagte schnell: »Ich bleibe hier. Ich habe sowieso auf dich gewartet.« Sie schaute Joel an und bemühte sich, nicht aggressiv zu wirken. »Wenn du weg musst, dann geh nur.« Sie wollte ihn nicht mit Lucy allein lassen.
Er hielt inne, seine Augen wurden schmal, und dann sagte er: »Okay.« Als er hinter Jane hinausging, war sein Lächeln kühl und zufrieden. Suzanne atmete erleichtert auf und wandte sich Lucy zu, die in die Küche gegangen war.
»Bist du fertig mit dem Malen?«, fragte sie.
Lucy nickte. »Jetzt will ich etwas zu trinken. Ich kann es selbst holen«, fügte sie ernst hinzu. Suzanne stand unter der Küchentür und sah zu, wie Lucy einen kleinen roten Hocker zur Arbeitsfläche herüberzog und sich darauf stellte, damit sie den Wasserhahn erreichen konnte. Sie stieg mit dem Glas Wasser, das sie vorsichtig mit beiden Händen umfasst hielt, wieder vom Hocker herunter. »Du hast Daddy ärgerlich gemacht«, sagte sie in einem Tonfall zwischen Anklage und Frage.
»Ich hab’s nicht absichtlich getan«, erwiderte Suzanne.
Lucy sah sie nachdenklich an. »Es sind meine Schwestern«, sagte sie dann und klang ganz stolz. »Aber es ist ein Geheimnis.«
»Deine Schwestern?« Suzanne war klar, dass Lucy das Bild meinte. Sie fragte sich, wie sie es oft auch bei Michael tat, ob Einzelkinder sich immer einsam fühlen.
»Ich habe Schwestern«, erzählte Lucy verträumt weiter, »und Brüder und Schwestern, und ich werde viele Schwestern haben, und Michael kann auch viele Schwestern haben«, fügte sie großzügig hinzu. Sie verfiel in einen Singsang. »Und Tamby wird …« Ihre Stimme wurde zu einem Murmeln, und sie ging zu einem der Regale hinüber und zog ihre Rollschuhe herunter. »Ich gehe jetzt Rollschuh laufen«, sagte sie.
Polly Andrews war Paul Lynmans Freundin. Obwohl sie nie offiziell in der Carleton Road 14 gewohnt hatte, war sie doch oft dort gewesen und kannte Emma Allan und Sophie Dutton. »Es war dort gemütlicher als in meiner Wohnung«, vertraute sie Barraclough und Corvin an. »Ich wünschte, ich hätte es geschafft, dort ein Zimmer zu kriegen, als der gruselige Typ ausgezogen ist.« Sie drehte sich zum Schreibtisch um und schaute hinter sich. »Ziemlich mieser Schuppen hier«, war ihr Urteil. Sie trug schäbige Jeans und ein knappes schwarzes Top, das die Schultern freiließ und oberhalb des gepiercten Nabels aufhörte. Auf der rechten Schulter hatte sie eine Tätowierung, ein Messer und etwas, das wie Teufelshörner aussah. »Geht das in Ordnung, wenn ich rauche?« Sie streckte die Beine aus. Die schweren Stiefel wirkten an ihrem schmalen Körper unverhältnismäßig klobig. Ihr Gesicht war blass, hatte aber einen gesunden, zarten Teint. Auf der Nase hatte sie Sommersprossen. Sie war einundzwanzig Jahre alt und studierte, sah aber wie zwölf aus. Barraclough fand, dass sie vollkommen dem Image der sexy Schülerin entsprach. Corvin jedenfalls gab sich ganz untypisch milde.
Polly zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich über den Tisch vor, sah sie direkt an und wartete. Corvin überließ Barraclough die Leitung der Befragung, und sie fing mit den einfachen Fragen an: Emmas Freunde, Kontakte, was sie so tat. Polly war hilfreich und gesprächig, hatte aber nichts beizutragen, was sie nicht schon wussten. Emma war in der Carleton Road 14 als Sophies Freundin gut bekannt, und als sie plötzlich ohne Unterkunft war, hatten die anderen Mieter nichts dagegen gehabt, dass sie mit in Sophies Zimmer wohnte. »Na ja, das konnten sie eigentlich auch nicht«, sagte sie. »Paul jedenfalls nicht, weil ich immer da war.«
»Es muss sehr eng gewesen sein«, bemerkte Barraclough. Sie hatte das Haus in der Carleton Road gesehen. »Sophie hatte das Zimmer unterm Dach, oder?«
»Ja, Emma hat mit einem Schlafsack auf so einer Gymnastikmatte geschlafen. Sie rollte sie zusammen und hat sie tagsüber in der Nische in der Dachschräge verstaut«, sagte Polly fröhlich und lächelte Corvin zu, der das Lächeln erwiderte. »Sie zwingen uns, zusammengedrängt wie Sardinen in der Büchse zu wohnen.«
Zu Sophie Duttons Aufenthaltsort konnte sie ihnen nichts sagen und riss überrascht die Augen auf, als Barraclough sie danach fragte. »Sie ist bei ihren Eltern. Wussten Sie das nicht? Sie wollte zu Hause wohnen, bis sie einen Job finden würde. Vielleicht hat sie etwas gefunden und wollte es ihren Eltern nicht sagen, wissen Sie, Striptease oder dieser Telegrammservice mit Stripprogramm …« Sie sah Corvin an und lächelte wieder. »Damit kann man ein Vermögen verdienen«, vertraute sie ihnen an. Aber sie zuckte die Schultern, um anzudeuten, dass sie nicht begriff, wieso Sophie ihr nichts gesagt hatte.
»Was für Arbeit hat Sophie gesucht?«, fragte Barraclough. Wenn sie nichts dagegen hatte, zu strippen …
Polly konnte nicht weiterhelfen. »Ach, irgendwas. Sie will Schriftstellerin werden, und für die ist alles Material, wissen Sie.«
Barraclough kam auf Emma zurück. »Wie war’s denn mit Freunden? Hatte Emma Partner?« Falls Emma zu Verabredungen gegangen war, hatten sie jedenfalls bisher keine Namen möglicher Kandidaten erfahren können, obwohl Paul Lynmans Aussagen neue Möglichkeiten boten.
Zum ersten Mal erschien ihr Pollys Gesichtsausdruck – Barraclough suchte ein passendes Wort dafür – ausweichend oder ratlos? »Über solche Dinge hat sie nicht mit mir geredet«, sagte Polly schließlich. »Sie war Sophies Freundin.« Barraclough nahm ein Blatt aus McCarthys Heft und wartete, bis Polly bereit war, weiterzusprechen. »Sie hat sich mit jemandem getroffen, sie hat jemanden erwähnt, er hieß Ash…« Barraclough bemerkte, wie interessiert Corvin plötzlich war. Ash. Ashman. Ashley Reid . »Aber er kam nie in die Carleton Road.« Bei dem Namen Reid schüttelte sie den Kopf. »Es könnte sein«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Em hat mir nie etwas gesagt.«
»Und ›Ashman‹, ›der Ashman‹?«, versuchte es Barraclough.
Einen Augenblick glaubte sie, einen Funken des Wiedererkennens in Pollys Augen zu sehen, aber dann schüttelte das Mädchen den Kopf. »Nein«, sagte sie, hielt inne und sah unsicher aus. »Ich habe sie mal gesehen, nachdem sie von der Carleton Road weggegangen ist«, sagte sie. »Es war … ich glaube, es war vor ungefähr zehn Tagen, an einem Mittwoch oder Donnerstag.« Acht oder neun Tage vor Emmas Tod. »Sie kam vom Einkaufen, mit vielen Tüten von diesen Läden in der Devonshire Street, wissen Sie?« Barraclough kannte die Geschäfte gut – Designerklamotten, der letzte Schrei, weit über dem Preisniveau, das sie sich leisten konnte. »Sie sagte, sie hätte jemanden kennen gelernt.« Polly biss sich auf die Lippe und dachte nach. »Emma hat mich gebeten, es niemandem zu erzählen.«
»Aber jetzt ist das etwas anderes, Polly, oder?« Barraclough war nicht sehr überzeugt von der Art und Weise, wie Polly ihr Zögern zur Schau stellte, aber sie hatte das Gefühl, dass sie über etwas nachgrübelte. »Sie hatte jemanden kennen gelernt. Einen neuen Freund, meinen Sie?«
»Er war älter«, sagte Polly. »Emma sagte, er hätte ihr Arbeit verschafft. Ich weiß nicht, ob er ihr Freund war oder nicht.« Barraclough nahm an, dass »Freund« ein Synonym für jemanden war, mit dem man Sex hatte. »Sie hatte so viel Geld …«
Barraclough fragte Polly nach den Drogen. Nachdem sie sich von der ganzen Sache distanziert hatte, bot sie ihnen mehr oder weniger die gleiche Geschichte, die Paul Lynman McCarthy und Corvin erzählt hatte, außer dass das Unternehmen bei ihr viel weniger organisiert klang. »Emma kannte jemanden, der guten Stoff bekommen konnte«, sagte sie. »Und sie besorgte welchen für alle.« Es war weiter nichts Besonderes, behauptete sie. Barraclough fragte sie nach Heroin, und sie schien ehrlich schockiert. »Nein, nie. Nichts in der Art. Emma nahm…?« Sie vermied es, sie anzusehen, und sagte nichts mehr.
Suzanne ging nicht nach Hause zurück. Sie musste nachdenken, und der Park war der Ort, der es ihr ermöglichte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Jetzt wirkte er offen und weit, am hohen blauen Himmel hingen kleine Wolkenfetzen, das Gras war sattgrün und Bäume schwer vor Blättern. Sie ging bei Hunter’s Bar durch das Haupttor und folgte dem Weg an dem kleinen Spielplatz und dem Platz vorbei, wo sonntags die Fußballspiele stattfanden, wo die Schule das Sportfest veranstaltete und die Schausteller jeden Sommer ihre Zelte aufschlugen. Sie ging weiter am Café vorbei, über die Steinbrücke zum ersten Teich und beobachtete ein paar Minuten die Enten. Sie dachte über nichts Besonderes nach. Dann ging sie den Weg zum zweiten Teich entlang, wo ihr das schillernde Blau eines Eisvogels ins Auge fiel, und sah zu, wie er zwischen den beiden Inseln, auf denen die Wasservögel nisteten, hin und her schoss und dann flussabwärts verschwand.
Sie musste die Dinge in den Griff bekommen. Alles drohte, ihr zu entgleiten. Sie musste die Probleme klar sehen, damit sie sie nacheinander lösen konnte. In Gedanken wägte sie alles gegeneinander ab. Joel . Sollte sie Jane von ihrer Begegnung mit ihm erzählen? Es würde für jemanden, der es nicht gesehen hatte, wie eine Nichtigkeit klingen. Abwarten. Joels neue Fürsorglichkeit Lucy gegenüber würde sich bald in Luft auflösen, und dann würde er nur noch gelegentlich zu Besuch kommen. Das Alpha-Projekt . Sollte sie einfach nichts tun und abwarten, was passierte? Wahrscheinlich war es besser, nicht zu warten. Sie könnte morgen Keith Liskeard anrufen und einen Termin vereinbaren. Dann würde sie ihm genau erklären, was geschehen war. Sie sollte auch mit Maggie, ihrer Chefin, sprechen, hätte es heute schon tun sollen.
Ashley . Ohne es zu wollen, hatte sie die Aufmerksamkeit der Polizei auf Ashley gelenkt, und er hatte so reagiert, wie Adam sich verhalten hatte. Er war weggelaufen. Als Richard ihr sagte, dass Ashley weg war, dachte sie sofort an Adam. Die Buschtrommel des Alpha-Projekts funktionierte ausgezeichnet. Sobald die Polizei angefangen hatte, nach ihm zu suchen, hatte er davon erfahren, dessen war sie sicher. Und er hatte gewusst, woher die Information kam. Ashley hatte ihr vertraut.
Sie versuchte, es zu verdrängen, aber sie hörte immer wieder Steve McCarthys Stimme: Sie sind verantwortlich dafür . Nein, er hatte gesagt: Sie sind nicht verantwortlich … Sie sah ihn vor sich, sein Gesicht verwandelte sich in das ihres Vaters, der sie mit kaltem Blick tadelnd ansah. Es gibt Recht und Unrecht, Suzanne. Ich erwarte von dir, dass du den Unterschied kennst .
So einfach ist es nicht , sagte sie bittend, aber sein Gesicht war verschwunden. Sie sah über die Gitterstäbe in ein Bettchen, in das winzige, von einem weißen Tuch umhüllte Gesichtchen, die geballten kleinen Fäuste, das Gesicht verzog sich, und der Mund suchte nach etwas. »Er weint gleich«, sagte sie. »Darf ich ihn halten?«
»Das ist gut, Suzanne, halte ihn, siehst du, so …« Und sein Gewicht in ihren Armen, der Babygeruch und die dunkelblauen Augen, die sie anschauten. »Dein kleiner Bruder, Suzanne. Du wirst deiner Mutter eine große Hilfe sein, bestimmt.« Ihre Mutter. Ein weißes Gesicht auf dem Kissen, ein schwaches, müdes Flüstern. Kümmere dich um ihn, Suzanne . Sie war entzückt von seinem Gesicht, seinen Händen, wie klein alles war.
Sie wusste, wohin sie wollte, ging durch das Tor, überquerte die Straße und gelangte in den nächsten Park. Links von ihr war ein grasbewachsener Hügel, im Frühjahr ein Meer von Narzissen. Der Weg vor ihr war breit und gerade und lud sie in den kühlen Schatten des Waldes ein. Sie sah auf das Schild. Das Stück Papier war nicht mehr da. VORSICHT… Sie fühlte ihre Füße schwer werden und war in Versuchung, umzukehren und nach Haus zu gehen. Aber sie wusste, das durfte sie nicht. Die Bäume schützten ihre Augen vor der Sonne, aber immer wieder blitzte sie kurz durch die Zweige.
Suzanne kam zu der Brücke, die zu Shepherd Wheel führte, und ließ den Blick über die Gebäude schweifen. Alles war abgeschlossen und still und sah genauso aus wie immer, aber auch so, als umschlösse es dunkle Geheimnisse. Sie durfte sich nicht von ihrer Phantasie mitreißen lassen. Es war nur eine Werkstatt. Sie war froh, dass der Hof abgeschlossen war. Wenn er offen gewesen wäre, hätte sie um das Haus herumgehen und wieder in das dunkle, stille Wasser hinabsehen müssen.
Über die Türen waren schwarz-gelbe Polizeibänder gespannt, die wie an einer Statue befestigte Bänder aussahen – fremd und widersinnig. Sie ging über die Brücke. Hier gab es keine Absperrung, man war wohl bei der Polizei nicht allzu besorgt um den Tatort, denn es war niemand mehr da, um die Leute fern zu halten. Sie ging den Weg entlang und den Abhang zum Teich bei Shepherd Wheel hinauf, der den Zweck erfüllte, das Rad anzutreiben. Der Wasserstand war immer noch niedrig, aber die Strömung an den schlammigen Ufern schien stärker, als fülle sich der Teich wieder. Die Enten quakten, als sie vorbeikam.
Am Ende des Teichs, wo er mit dem Bach zusammentraf, blieb sie stehen. Stufen führten zu einer weiteren Brücke und zur Straße hinauf. Suzanne betrachtete das Wasser. Es rauschte über ein Stauwehr hinunter und floss wieder in den Hauptarm des Bachs. Sie blickte zurück zum Teich hinauf. Die Schatten spielten auf der Wasseroberfläche. Shepherd Wheel lag still und lautlos unter den Bäumen. Suzanne hatte eine Entscheidung getroffen.
Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie musste Ashley finden.
Barraclough hatte das Gefühl, zur Erledigung des Papierkrams verdammt worden zu sein, während sich die interessanten, wichtigen Dinge an anderer Stelle abspielten. Sie starrte auf die Notizen vor sich. Wo war Emma in diesen letzten zwei Wochen ihres Lebens gewesen? Sie hatte die Wohnung ihres Vaters verlassen und war in die Carleton Road 14 eingezogen. Ende Mai war sie aus der Carleton Road ausgezogen, aber es gab keine Hinweise darauf, wohin sie gegangen war. Sie hatte Jane Fielding die Adresse ihres Vaters gegeben, aber dort hatte sie nicht gewohnt. Und doch war sie irgendwo gewesen, war aktiv und verdiente offenbar Geld. Polly hatte sie gesehen. Pollys Geschichte hatte ihnen das Bindeglied geliefert, das ihnen bisher gefehlt hatte. Emma hatte einen Freund, der sich Ash nannte. Zusammen mit allem anderen, was sie wussten, war der wahrscheinlichste Kandidat dafür Ashley Reid, auch wenn Polly dies nicht bestätigen konnte. Ashley Reid … Barraclough runzelte die Stirn. Emma war offensichtlich eine schwierige junge Frau mit einigen Problemen, aber alles, was Barraclough bis jetzt erfahren hatte, deutete darauf hin, dass Emma auch intelligent war. Nach den Auskünften, die sie vom Alpha-Centre erhalten hatten, war Ashley Reid von unterdurchschnittlicher Intelligenz. Was hatte ihn für sie attraktiv gemacht? Laut Polly hatte Emma dann aber jemand anderen gefunden. Eifersucht. Eines der klarsten Motive, die es gibt. Barraclough kannte ihren Shakespeare.
Sie hatte Reids Akte vom Jugendamt angefordert und war mit der Aufgabe betraut worden, sie durchzusehen. Sein Leben – seine neunzehn Jahre – waren schwierig gewesen. Barraclough erlebte jeden Tag die Auswirkungen von Kriminalität, sodass sie in Bezug auf Straftäter nicht sentimental war. Aber als sie Reids Akte durchlas, kam der Zorn in ihr hoch, den sie immer dann fühlte, wenn sie das Leben sah, in das manche Menschen hineingeboren wurden.
Ashley war erst 1989 unter die Aufsicht des Jugendamts gekommen, als er neun Jahre alt war. Seine Eltern waren Carolyn Reid, geborene Walker, und Phillip Reid. Sie waren aus Großbritannien, aber er war in Amerika zur Welt gekommen, wohin seine Eltern 1978 ausgewandert waren. Seine Mutter hatte ihn nach England gebracht und ihn mit seinem Bruder, Simon, bei ihrem älteren Bruder Bryan, dem Onkel der Kinder, zurückgelassen. Sie schienen das privat, ohne Einschalten eines Amtes geregelt zu haben. Barraclough runzelte die Stirn. Sicher wäre doch die offizielle Beteiligung des Jugendamts erforderlich gewesen. Sie sagte das zu Corvin, der sich gerade Polly Andrews’ Aussage durchlas.
»Nicht, wenn dem Amt gemeldet wird, das Kind sei bei seiner Mutter und sie seien eine glückliche Familie«, sagte er. »Nur wenn es einen Grund zur Sorge gab. Sie haben schon genug zu tun, ohne sich nach Arbeit umsehen zu müssen.«
»Ich wüsste gern, ob es den Onkel und die Tante noch gibt.« Barraclough betrachtete die Namen. Bryan und Kath Walker. »Ich frage mich, was sie uns sagen könnten.« Sie las weiter in der Akte. Das Jugendamt hatte die Eltern nicht finden können. Ashleys Mutter war offenbar nach Amerika zurückgegangen. In den Anmerkungen gab es keinen Hinweis auf seinen Vater. Bryan und Kath Walker hatten beide Jungen aufgenommen, aber Simon war schon früh in Pflege gegeben worden. Er war autistisch, und für die Tante und den Onkel wurde es zu schwierig, mit ihm fertig zu werden. Sie hatten Ashley zusammen mit ihrem eigenen Kind aufgezogen, das fünf Jahre älter war. Michelle. Ob Ashley wohl den Kontakt zu seiner Cousine gehalten hatte? Sie machte sich eine Notiz, dass sie dem nachgehen wollte.
Nach fünf Jahren hatten die Walkers Ashley in Pflege gegeben. Sie sagten, er sei »außer Kontrolle«. Es gab Spannungen zwischen den Kindern. Man hatte versucht, Carolyn Reid zu finden. Die Walkers hatten als ihre zuletzt bekannte Adresse einen Ort in Utah angegeben, aber soweit Barraclough wusste, gab es keine Spur von der Frau. Sie hatte ihre Kinder verlassen und war verschwunden. Die Aufzeichnungen berichteten über Probleme in Ashleys Entwicklung. Man beschrieb seinen körperlichen Zustand als relativ gut, aber er sei in sich gekehrt, verhaltensgestört und habe erst spät lesen gelernt. So weit Barraclough das beurteilen konnte, hatte niemand eine ausdrückliche Diagnose gestellt, die seine Probleme erklärte. Er war innerhalb der Jugendhilfe hin und her geschoben, aber nie adoptiert oder auch nur langfristig bei Pflegeeltern untergebracht worden. Als er älter wurde, begannen die typischen Probleme des Jugendlichen: Schuleschwänzen, Sachbeschädigung, Diebstahl und Gewalttätigkeit. Ein Kind hat man fürs ganze Leben, nicht nur zu Weihnachten …
Sie musste herausfinden, wo Ashleys Familie jetzt war.
Simon ging durch den Park, lief in der Dunkelheit durch den Wald, dessen Pfade ihm wie Muster vor den Augen standen. Die Linien und Risse der Baumrinden erzählten, wie der Baum sich entwickelt hatte, gewachsen und groß geworden war. Er blieb stehen und betrachtete im Schein der Straßenlaternen das Wechselspiel von Schatten und Licht, Licht und Schatten, wenn der Wind die Blätter bewegte. Hier war der Weg steil und führte ihn zu einem schmalen Pfad an der Mauer. Und von dort aus ging es durch die Öffnung und danach durch das Tor.
Dann die stille Straße, Straßenlampen leuchteten, warfen unter den hohen Hecken und Büschen Schatten. Backsteinmauern, Vierecke, Türöffnungen. Licht- und Schattenflächen, die auf der Straße wie Wasser hierhin und dorthin wogten.
Ein Gesicht am Fenster, ein blasser verschwommener Klecks mit dunklen Flächen als Augen, dünnes Haar, das sich um ihr Gesicht kräuselte. Wie eine Zeichnung, dann Wiedererkennen , ein leeres Quadrat und ihr Gesicht mittendrin, still und reglos in die Dunkelheit hinausschauend. Dann – verschwunden. Lucy .
Lucy stieg ins Bett und legte sich in die Kissen zurück. Er war noch da. Er war an seinem Platz und passte auf. Sie merkte es, wenn sie aus dem Fenster sah. Er verbarg sich im Dunkeln, aber dort, wo das Licht unter den Baum schien, hatte sie seine Füße sehen können. Ein Auto fuhr die Straße entlang, dessen Lichtschein Lucy an der Decke beobachtete. Sie kamen. Sie kamen näher. Sie konnte nicht die ganze Zeit aufpassen. Die Frau von der Polizei wollte es wissen, aber Lucy würde es nicht sagen. Emma verstand das nicht. Lucy wusste Bescheid. Und Lucy sagte es nicht. Niemandem.