Читать книгу Das Antikrebs-Buch - David Servan-Schreiber - Страница 25
Wunden, die nicht heilen
ОглавлениеDer große deutsche Arzt Rudolf Virchow gilt als der Begründer der modernen Pathologie: der Wissenschaft, die sich mit der Beziehung zwischen Krankheit und den Vorgängen im Körper und Gewebe beschäftigt. 1863 stellte er fest, dass mehrere Patienten offenbar genau an der Stelle Krebs entwickelten, wo sie einen Schlag erhalten hatten oder wo ihr Schuh oder ein Werkzeug permanent gerieben hatte. Unter dem Mikroskop fiel ihm die große Zahl von weißen Zellen im Krebsgewebe auf. Daraus entwickelte er die These, dass Krebs der aus dem Ruder gelaufene Versuch des Körpers ist, eine Wunde zu heilen. Seine Beschreibung wirkte jedoch zu anekdotisch, beinahe poetisch, und wurde deshalb nicht ernst genommen. Etwa 130 Jahre später griff Harold Dvorak, Professor für Pathologie an der Harvard Medical School, die Hypothese auf. In seinem Artikel »Tumors: Wounds that do not heal«26 (»Tumoren: Wunden, die nicht heilen«) präsentierte er einleuchtende Argumente für Virchows ursprüngliche Theorie. Dvorak erbrachte Belege für die verblüffende Ähnlichkeit zwischen natürlich hervorgerufenen Entzündungsprozessen und der Entstehung von Krebs.
Harold Dvorak stellte außerdem fest, dass mindestens jede sechste Krebserkrankung direkt mit einer chronischen Entzündung zusammenhängt (siehe Tabelle 2). Das gilt für Gebärmutterhalskrebs, der meist nach einer chronischen Infektion mit Papillomaviren auftritt, und für Darmkrebs, der sehr häufig bei Patienten gefunden wird, die an einer chronischen Darmentzündung leiden. Magenkrebs hängt mit einer Entzündung durch das Bakterium Helicobacter pylori zusammen (das auch Magengeschwüre hervorruft). Leberkrebs ist oft auf eine Infektion mit Hepatitis B oder C zurückzuführen, Mesotheliome in der Lunge auf eine von Asbest ausgelöste Entzündung, Lungenkrebs auf eine Entzündung der Bronchien, verursacht durch die zahlreichen giftigen Zusätze im Zigarettenrauch.
Fast 20 Jahre nach Harold Dvoraks bahnbrechendem Artikel veröffentlichte das amerikanische National Cancer Institute einen Bericht über die Forschung zu Entzündungsprozessen, die von Onkologen immer noch allzu oft ignoriert werden.28 Darin wird ausführlich beschrieben, wie die Krebszellen die Heilungsmechanismen des Körpers in die Irre führen. Um wachsen zu können, müssen sie eine Entzündung auslösen. Dazu produzieren sie in großen Mengen die gleichen hochentzündlichen Substanzen (Cytokine, Prostaglandine und Leukotriene), die bei der natürlichen Wundheilung zum Einsatz kommen.V Diese wirken als chemischer »Dünger« und fördern das Zellwachstum, in diesem Fall das Wachstum der Krebszellen. Wachsende Tumoren brauchen die Substanzen, um sich zu entwickeln und das umliegende Gewebe durchlässiger zu machen. So nutzen Krebszellen einen Vorgang, der eigentlich dem Immunsystem die Heilung von Wunden und Verfolgung von Eindringlingen ermöglicht, für ihre eigene Verbreitung und Vermehrung. Mithilfe der von ihnen hervorgerufenen Entzündung dringen sie in das umliegende Gewebe ein, gelangen ins Blut, wandern durch den Körper und gründen ferne Kolonien, die Metastasen.
Tabelle 2: Verschiedene Krebsarten, die direkt mit Entzündungen zusammenhängen (aus dem Artikel von Balkwill und Mantovani in Lancet, 2001).27
Krebsart | Entzündungsursache |
Malignes Lymphom (Lymphknotenkrebs) | Helicobacter pylori |
Bronchialkarzinom | Siliziumdioxid, Asbest, Zigarettenrauch |
Mesotheliom | Asbest |
Speiseröhrenkrebs | Barrett-Syndrom |
Leberkrebs | Hepatitisviren (B und C) |
Magenkrebs | Durch Helicobacter pylori verursachte Gastritis |
Kaposi-Sarkom | Humane Herpesviren Typ 8 |
Blasenkrebs | Bilharziose |
Darmkrebs | Chronische Darmentzündungen |
Eierstockkrebs | Entzündliche Beckenerkrankungen, Kontakt mit Talkum,Gewebeumbau (»tissue remodeling«) |
Gebärmutterhalskrebs | HPV (Humane Papillomaviren) |