Читать книгу Athanor 4: Die letzte Schlacht - David Falk - Страница 11

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Noch nie war Laurion so weit gelaufen. Selbst als sie aus dem zerstörten Ehala an die Küste gezogen waren, hatte er oft auf einem Karren gesessen, weil die Sandalen seine Füße wund gescheuert hatten. Nun hingen mehrere Blasen in blutigen Fetzen, aber nach einer Weile spürte er den Schmerz nicht mehr. Obwohl er nicht wusste, wie sie es schafften, ohne Sattel und Zaumzeug zu reiten, beneidete er die Grenzwächter um ihre Pferde, doch selbst Maraya und ihr Begleiter mussten zu Fuß gehen.

Einen Vorteil hatte das Laufen, denn es hielt die Kälte fern. Ständig war seine Robe klamm. Nachts fiel der Tau, morgens war alles nass, selbst mittags blieb es im Schatten des Waldes kühl, und gegen Abend stieg Nebel aus sumpfigen Niederungen auf. Nahm dieses Wetter hier nie ein Ende? Durch die Lücken zwischen den Baumkronen blickte Laurion zum Himmel. Bei Sonnenschein hätte das bunte Laub vielleicht an die Farben der Wüste erinnert, doch im grauen Dunst blieb es blass. »Ist der Himmel über eurem Land denn niemals blau?«

»Er war es oft genug«, behauptete Mahanael. »Zumindest bei uns an der Küste. Ich bin nie ins Landesinnere gereist.«

»Ich war schon einige Male in Yirgalem«, ließ sich Maraya vernehmen, »und ich kann euch versichern, dass der Himmel dort blau war. Aber einen so herbstlichen Wald habe ich nie zuvor gesehen. Wenn das so weitergeht, werden die Bäume sämtliche Blätter verlieren.«

Mahanael nickte kummervoll. »Es wirkt, als ob er stirbt.«

»Unsinn«, knurrte einer der Grenzwächter. »Außerhalb der Elfenlande geschieht das jeden Herbst, und im Frühling kehrt das Leben trotzdem zurück.«

»Ja, außerhalb«, betonte ein anderer. »Aber bei uns war es nie so. Das muss etwas bedeuten. Sicher hängt es mit dem Ewigen Licht zusammen.«

Bedrücktes Schweigen breitete sich aus. Die Grenzwächter ritten nicht nur an der Spitze und am Ende, sondern flankierten die Flüchtlinge auch an den Seiten. Ob sie es zum Schutz der Menschen taten oder um sie am Fliehen zu hindern, vermochte Laurion nicht zu sagen. Vielleicht traf beides zu, obwohl keinem von ihnen der Sinn nach Weglaufen stand. Sie hofften auf den Kaysar, der ihnen so viel versprochen hatte.

»Können wir eine Pause machen?«, fragte Rhea. »Ich hab Durst.«

»Ich könnte auch eine Rast vertragen«, schloss sich Sirkits Tante an und hielt sich mit gequälter Miene den Rücken, denn sie musste ihren Neffen tragen, der noch nicht so weit laufen konnte. Djefer, der überraschend darauf verzichtet hatte, sein Fischernetz mitzuschleppen, nahm ihr den Jungen zwar hin und wieder ab, doch es blieb eine schwere Bürde.

»Ich habe auch Durst«, sagte Nemera und richtete das Wort an die Elfen. »Es wäre an der Zeit für eine Rast!«

»Schon wieder?«, murrte die Anführerin der Reiter. Drachenauge hatte sie zu seiner Stellvertreterin bestimmt, während er auf seinem Greif über den Bäumen flog. »Wir haben gerade erst gefrühstückt!«

Bei dem tristen Wetter war der Sonnenstand schwer zu bestimmen, aber Laurion schätzte, dass es längst Mittag war.

»Menschen essen und trinken eben sehr viel öfter als wir«, erklärte Mahanael schon zum wiederholten Mal.

»Stellt euch nicht so an und geht weiter!«, blaffte die Anführerin.

»Ihr habt gut reden auf Eurem Pferd«, platzte es Laurion heraus. Als sie ihn scharf ansah, bereute er es sofort, aber er wollte ihren Zorn nicht umsonst erregt haben. »Bei uns sind Schwangere und Kinder, die geschont werden müssen.«

»Würdet Ihr das Gleiche von Elfenkindern verlangen?«, fügte Nemera hinzu.

»Vielleicht wäre unserem schnellen Vorankommen gedient, wenn wir eine kurze Rast machen und ihr Grenzwächter danach die Kinder mit auf die Pferde nehmt«, schlug Maraya vor.

Die Anführerin setzte bereits zu einer bissigen Antwort an, musterte dann aber nur die müde Menschenschar. In ihren Zügen zeigte sich kein Mitgefühl. Vermutlich überlegte sie, ob Marayas Vorschlag wirklich vorteilhaft war. »Einverstanden. Kurze Rast!«, rief sie so laut, dass es auch die Nachhut hörte. Selbst Drachenauge musste es vernommen haben, denn wenige Augenblicke später landete nahebei sein Greif.

Laurion reichte Rhea seine Kürbisflasche. Sirkit und Otreus setzten die schweren Bündel ab, in denen sie die eigenen und Nemeras Habseligkeiten schleppten, und Maraya spritzte sich sogar Wasser ins Gesicht, obwohl Laurion es kein bisschen warm fand. Auch die Grenzwächter stiegen ab, um sich an ihren Vorräten zu bedienen.

»Alle mal herhören!«, rief ihr Anführer. »Ich habe einen Boten aus Anvalon getroffen, der nach Everea unterwegs war. Es ist ein weiteres Menschenschiff angekommen. Sobald wir diese Gruppe hier abgeliefert haben, sollen wir zurück und den Geleitschutz für die andere verstärken.«

Während die Grenzwächter die Neuigkeit mürrisch aufnahmen, übersetzte Laurion die Botschaft, woraufhin unter den Dioniern Freude ausbrach. Selbst Mahanael lächelte.

»Also sind wir doch nicht die einzigen Überlebenden«, jubelte Emmos’ Frau.

»Die Urmutter steht uns bei!«

»Ein Hoch auf den Kaysar!«

»Könnt Ihr uns mehr verraten?«, fragte Nemera über das Stimmengewirr hinweg. »Den Namen des Schiffs oder wer es steuert?«

»Davon war keine Rede«, antwortete Drachenauge bedauernd. »Ihr werdet euch bis Anvalon gedulden müssen.«

»Wer immer es ist, gibt uns Hoffnung«, freute sich Laurion. Vielleicht erfüllten sich Nemeras Träume am Ende doch, und sie konnten hier ein neues Dion ohne Nekromanten begründen. Und eines fernen Tages, wenn ihr Volk zu neuer Blüte gelangt war, würde ein Kaysar mit einer Flotte über den Ozean fahren, um das alte Dion von den Drachen zurückzuerobern.

Die Regentin lächelte Laurion zu. Als ob sie an einer Tafel säßen, hob sie den Becher, den Sirkit ihr gereicht hatte. »Auf die Hoffnung!«

»Auf die Hoffnung!«, erwiderte er und nahm einen Schluck aus der Kürbisflasche.

»Dann versteht ihr sicher, dass wir in Eile sind«, merkte Drachenauge an und kehrte zu seinem Greif zurück. »Sagt euren Leuten, dass wir aufbrechen müssen!«

»Verschieben wir die Feier auf den Tag, an dem wir alle wieder vereint sind!«, rief Nemera. »Jetzt müssen wir weiter.«

»Darf ich wirklich reiten?«, fragte Rhea, während Sirkit, Emmos und zwei andere Dionier in unterschiedliche Richtungen ins Dickicht eilten, um sich noch rasch zu erleichtern. Die Grenzwächter schwangen sich wieder auf ihre Pferde.

»So ist es ausge…« Ein Warnruf ließ Laurion verstummen. Zwischen den Bäumen jagte ein Reiter heran. Er musste bereits nah gewesen sein, bevor er sein Pferd in Galopp gesetzt hatte, denn erst jetzt trommelten die Hufe laut auf den Waldboden. Das Aufglänzen von Metall verriet den Speer in seiner Hand.

»Das ist niemand von uns!«, schrie eine Grenzwächterin.

Drachenauge sprang wieder von seinem Greif und riss die Klinge heraus. Mehrere Elfen galoppierten bereits auf den Fremden zu. Sie zogen die Schwerter, doch der Krieger schleuderte schon den Speer. Erschrocken drehte sich Emmos nach dem Hufschlag um. Im nächsten Augenblick fuhren zwei Handbreit Stahl in seine Brust. Wie ein gefällter Baum schlug der junge Fischer zu Boden.

»Emmos!«, kreischte seine Frau und hastete auf ihn zu.

»Haltet sie auf!«, schrie Nemera, die selbst von Otreus zurückgehalten wurde.

Obwohl keine Aussicht bestand, sie rechtzeitig zu erreichen, rannte Laurion los. In diesem Augenblick schnitten die Grenzwächter dem Fremden den Weg ab. Der Angreifer schien sein Pferd sogar selbst anzuhalten und hob die Arme, um zu zeigen, dass er nun unbewaffnet war. An seiner Rüstung schimmerte Perlmutt. Ameathar.

Emmos’ Frau warf sich neben ihrem Mann auf die Knie und barg das Gesicht schluchzend an seinem Hals. Bestürzt blieb Laurion stehen. Emmos rührte sich nicht mehr. Seine weit geöffneten Augen starrten blicklos zum Himmel.

»Bei allen Astaren!«, brüllte Drachenauge Ameathar an. »Was zum Ewigen Tod ist in dich gefahren? Dieser Mensch hatte dir nichts getan!«

»Zwei Abkömmlinge Ameas starben durch Menschenhand am Ufer des Everos«, antwortete der Krieger. »Nun sind zwei Menschen von Elfenhand gestorben. Vorerst ist der Gerechtigkeit Genüge getan, aber ich werde euch begleiten und vor dem Rat gegen diese Eindringlinge sprechen. Ein ganzer Zweig meiner Familie fand beim Massaker des Oromenos den Tod. Nie haben die Menschen für diesen Frevel bezahlt.«

* * *

Beeindruckt sah Athanor zu Laogons Glocke hinauf. Seit Tagen herrschte in Anvalon hektisches Kommen und Gehen, doch hier, unter den beiden gewaltigen Bäumen, die das Dach für die Glocke bildeten, war nichts davon zu spüren. Aus jedem der beiden Stämme zweigte in großer Höhe ein Ast ab, der selbst als Stamm durchgegangen wäre, und anstatt sich zu verjüngen und in zahllose Zweige zu teilen, trafen sie sich in der Mitte und gingen so glatt ineinander über, dass es von unten unmöglich zu erkennen war, wo der eine endete und der andere anfing. Diese auf magische Weise gewachsene Brücke diente als Querbalken, an dem die riesige Glocke hing. Athanor schätzte, dass sie so hoch wie zwei Männer und am unteren Ende fast ebenso breit war. Wenn sie auf den emporblickenden Orkzahn herabgefallen wäre, hätte sie sogar den Troll in ihrem Inneren verborgen.

»Das legendäre Werk eines sagenumwobenen Astars«, sagte Akkamas ehrfürchtig. »Laogon soll sie den Elfen während des Krieges gegen Imeron geschenkt haben, damit sie ihn zu Hilfe rufen konnten, wenn Anvalon in Gefahr war.«

»Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er aufgetaucht wäre, um uns gegen diesen untoten Giganten beizustehen. Aber er lebt wohl schon lange nicht mehr.« Athanor ließ den Blick zu einem anderen Ast schweifen, von dem an zwei armdicken Seilen ein waagrechtes Stück Baumstamm herabhing. Mithilfe eines weiteren Stricks, der bis fast zum Boden reichte, konnte dieser Schlegel bewegt und gegen die Glocke geschlagen werden.

»Bei einem Astar wäre ich da nicht so sicher«, erwiderte Akkamas und setzte seine Runde um die Glocke fort. »Die Frage ist eher, worauf sich gerade seine Aufmerksamkeit richtet. Du hast Lykaron erlebt. Niedere Wesen zu retten, stand nicht sehr weit oben auf der Liste seiner Prioritäten.«

Athanor schnaubte abfällig. »Lass das keinen Elf hören. Sie mögen es nicht, wenn man sie mit Menschen in einen Topf wirft.«

»Würde ich doch niemals tun«, behauptete Akkamas verschmitzt.

Athanor nickte nur. Je länger er die Glocke betrachtete, desto mehr kam es ihm vor, als laste ihr enormes Gewicht auf seinen Schultern. Weder in Ithara noch in Theroia hatte es ein solches Wunder gegeben, doch dafür prunkvolle Paläste, säulengestützte Tempel, mit Mosaiken geschmückte Bäder, Statuen aus Bronze und Marmor … Und er hatte dazu beigetragen, das alles zu zerstören. »Ich kann verstehen, dass es den Elfen schwerfällt, sich von diesen Bauwerken zu trennen, die ihre Ahnen über Jahrtausende erschaffen haben.«

»Es findet sich immer eine neue Höhle«, brummte Orkzahn.

»Das mag sein, aber ich weiß, wie es ihnen ergehen wird, wenn sie in der Fremde an Anvalon zurückdenken werden.«

»Auch ich weiß es«, behauptete Akkamas. »Für lange Zeit waren mir die Städte Dions ein Zuhause. Aber unsere Heime wurden zerstört, bevor wir sie verließen. Diese Stadt dagegen steht noch. Vielleicht wird sie sogar noch lange erhalten bleiben. Unter diesen Umständen fällt es viel schwerer, sie zurückzulassen.«

»Ich hadere nicht mit den Elfen«, gestand Athanor. »Ich hadere mit mir.«

»Warum?«

»Weil ich ein schlechter König bin.«

Sein Freund schmunzelte. »Weil du hier herumlungerst und Kunstwerke bestaunst, statt dich um deine Untertanen zu kümmern?«

»Hol’s der Dunkle!« Er ärgerte sich jedes Mal, wenn ihm der Fluch noch entfuhr, aber die Macht der Gewohnheit war stärker. »Ist es so offensichtlich?«

»Es hätte schon gestern nichts mehr dagegen gesprochen, der Regentin entgegenzureiten. Wir können hier kaum etwas tun, als auf Nachrichten zu warten.«

»Aber du hast nichts gesagt.«

Nun grinste Akkamas. »Ihr seid der Kaysar. Es ist nicht an mir, Euch vorzuschreiben, wie Ihr Euer Volk zu führen habt.«

»Und schon weiß ich wieder, weshalb sich ein König nie auf seine Ratgeber verlassen sollte«, scherzte Athanor halbherzig.

»Keine Sehnsucht nach Nemeras … nicht zu verleugnenden Reizen?«

»Das ist es nicht«, wehrte er ab. »Eine bessere Gemahlin könnte sich kein Kaysar wünschen. Aber ich bin für diese Rolle einfach nicht gemacht. Ich kann Heere führen, Schlachten gewinnen, Feinde mit den eigenen Händen töten. Gib mir eine Aufgabe, die ich mit einer Waffe lösen kann, und ich tue es. Aber Nemera will etwas anderes. Ihr Volk will etwas anderes. Sie wollen einen gütigen Vater, der sich ihrer Schwierigkeiten annimmt und ihnen sagt, was sie zu tun haben. Zum Henker, das bin ich nicht, Akkamas! Du weißt es. Orkzahn weiß es. Aber sie wollen es nicht sehen.«

»Weil du ihre einzige Hoffnung bist.«

»Ja, danke, lad mir noch ein paar Säcke auf.«

»Das war nur eine Feststellung«, betonte Akkamas. »Ich sage nicht, dass du diesen Erwartungen gerecht werden musst. Wir alle können nur tun, was in unserer Macht steht. Du bist ein Krieger, also kämpfe! Um den Rest sollen sich andere kümmern.«

»Und wer?«

»Wenn wir mal von den Nekromanten absehen, gegen die ein wahrer Krieger wie du auf den Plan treten musste, hat Nemera Dion ausgezeichnet regiert. Überlass es ihr.«

»Sie wartet doch genauso auf meine Anweisungen wie die anderen.«

»Weil du der Kaysar bist, den sie nur vertreten hat. Sag ihr, dass sie ihre Aufgaben als Regentin wieder wahrnehmen soll, und sie wird es tun.«

Anstelle einer Antwort brummte Athanor nur. Es gefiel ihm nicht, Nemera zu gestehen, was er gerade seinen Freunden anvertraut hatte. Sie sollte zu ihm als ihrem Kaysar aufsehen. Ich bin ihr Herrscher, verdammt. Ich muss ihr keinen Grund nennen. Wenn sie eintraf, würde er ihr befehlen, sich allein um die Angelegenheiten der Flüchtlinge zu kümmern. »Gehen wir. Es wird bald Abend, und ich will mit Peredin noch einmal darüber sprechen, was Orkzahn über die Schamanen gesagt hat. Das ist bislang unsere einzige Spur.«

»Ich kann nicht erkennen, wie uns das weiterhelfen soll«, erwiderte Akkamas, während sie den Hain der Glocke verließen. »Die Elfen scheinen ebenso wenig von dieser Art Magie zu verstehen wie wir.«

»Aber irgendeinen Ansatz müssen wir finden. Orkzahn, bist du sicher, dass die Ermordeten eure letzten Schamanen waren?«

»Bin ich sicher?« Nachdenklich kratzte sich der Troll im Bart. »Nein. Bevor ich sie traf, wusste ich auch nicht von Einauge und Wirrkopf.«

»Dann könnte es also noch weitere geben?«

»Es war kein anderer am Berg der Ahnen«, wich Orkzahn aus. »Ich weiß es nicht, aber … ich glaube nicht daran. Es hat nie viele von ihnen gegeben.«

Hadons Fluch! Ich suche doch nur einen Strohhalm, an den wir uns klammern können. Es musste etwas geben, das sie tun konnten – selbst wenn ihre Chancen dabei noch so gering waren. Er wollte nicht enden wie etliche Elfen, die nur noch mit leerem Blick ihre alltäglichen Pflichten erfüllten. Während andere in hektische Aktivität ausgebrochen waren, blieben sie von Entsetzen gelähmt. Längst trugen berittene Boten die Nachrichten vom Ende des Ewigen Lichts und dem Streit des Rats in alle Winkel der Elfenlande. Botenfalken verkehrten in Windeseile zwischen den Ältesten der vier Völker und ihren Vertretern im Rat oder in der Heimat. Den Antworten nach zu urteilen, wurde nun überall darum gestritten, welcher Weg der richtige war, und die ersten Verzweifelten, die sich für die Reise nach Norden entschieden hatten, trafen seit dem Morgen in Anvalon ein. Selbst ohne Gepäck erkannte Athanor sie daran, dass sie bei Orkzahns und seinem Anblick erschraken. Nur Akkamas sorgte eher für erstaunte Mienen, weil sie ihn für einen Sohn Ardas mit ungewöhnlich dunklem Haar hielten.

Um die Ratshalle standen Zuschauer und Räte zu den üblichen Nachgesprächen in kleinen Gruppen herum, in denen sie weiterstritten oder versöhnliche Töne anschlugen. Man verabredete sich zu nächtlichen Verhandlungen, die in kleinem Kreis Fortschritte zwischen erbitterten Gegnern versprachen, und wählte Vermittler aus, denen beide Seiten Vertrauen schenkten.

»Kannst du Peredin irgendwo sehen?«, erkundigte sich Athanor bei Orkzahn, der den besten Überblick besaß.

Wie immer nutzten die Befürworter des Bleibens das Auftauchen des Trolls, um ihn als bestes Beispiel für die Gefahren außerhalb der Elfenlande aufzugreifen. Athanor zollte Orkzahn großen Respekt, weil er die deutenden Finger und die laut geäußerten Beleidigungen ignorierte. »Der Erhabene steht beim Tor und spricht mit einer Kriegerin mit roten Haaren.«

»Dann warten wir, bis er nach Hause geht«, beschloss Athanor. Auch er neigte dazu, den Abkömmlingen Piriths zu misstrauen. Schließlich war auch Davaron einer von ihnen gewesen. Doch Peredin sah es anders, und er musste sich mit jenen Töchtern und Söhnen Piriths verbünden, die sich für seinen Vorschlag aufgeschlossen zeigten. In jedem Volk gab es Gegner und Befürworter, auch wenn die Anteile ungleich verteilt waren. Die meisten Widersacher hatte der Erhabene bei den Abkömmlingen Ameas, und Athanor merkte, wie Peredins Zuversicht, sie überzeugen zu können, mit jedem Tag schwand.

Neben ihm setzte Akkamas ein Lächeln auf, das Frauenherzen vermutlich zum Schmelzen brachte. Athanor bezweifelte jedoch, dass es bei Mahalea wirkte, die mit harschem Blick auf sie zukam. »Ich habe Neuigkeiten für Euch«, eröffnete sie Athanor, ohne Akkamas auch nur anzusehen. Ihre Miene unterstrich, dass sie es keineswegs für eine gute Nachricht hielt. »Meine Späher haben an der Küste ein Menschenschiff entdeckt. Der Schiffsführer nennt sich Markas und hat keinen Widerstand geleistet, als er sämtliche Waffen aushändigen sollte.«

»Wenn ihr ihm sagt, dass ihr ihn zu mir bringt, wird er Euch keine Schwierigkeiten machen«, versicherte Athanor. »Er ist Kaufmann, kein Krieger.«

»Das will ich hoffen«, erwiderte die Kommandantin. »Wir haben genug Ärger mit diesen aufgebrachten Abkömmlingen Ameas, an denen wir das Schiff vorbeibringen müssen.«

»Wir könnten hinfliegen und selbst für Geleitschutz sorgen«, bot Akkamas an.

»Nichts da!«, schnappte sie. »Glaubt Ihr, ich lasse zu, dass ein Drache Elfenblut vergießt, um ein paar Menschen zu retten?«

»Vielleicht wäre mein Anblick allein schon abschreckend genug.«

»Er wäre eher eine noch größere Provokation. Ich werde dieses Risiko nicht eingehen, und wenn Ihr dieser Anweisung zuwiderhandelt, habt Ihr auch die Grenzwache zum Feind, verstanden?«

Schon ihr Tonfall reizte Athanor dazu, das Gegenteil zu tun, doch er musste jetzt kühlen Kopf bewahren. Seit dem Vorfall mit dem Ewigen Licht waren die Elfen feindseliger denn je. »Wir werden nichts dergleichen unternehmen«, versprach er. »Ich vertraue darauf, dass Ihr Wort haltet und meine Leute sicher nach Anvalon bringt.«

Die Kommandantin nickte nur. Akkamas warf ihm einen fragenden Blick zu, und Orkzahn sah gewohnt finster auf Mahalea hinab, aber für den Moment musste ihnen genügen, dass ein drittes Schiff über den Ozean gelangt war. Athanor hatte schon nicht mehr daran zu glauben gewagt.

»Selbst für Euch dürfte weniger erfreulich sein, dass die Posten an der Ostgrenze vermehrt Trollbegegnungen verzeichnen«, berichtete Mahalea. »Untote waren bislang nicht dabei, aber das wirft ein umso schlechteres Licht auf Euren Freund hier«, fügte sie mit einem Blick auf Orkzahn hinzu. »Wenn es zu Übergriffen kommt, werde nicht nur ich unterstellen, dass er ein Kundschafter ist.« Abrupt wandte sie sich ab, um zu gehen.

»Wartet!«, rief Athanor und eilte an ihre Seite. Rasch dämpfte er seine Stimme, damit Orkzahn ihn nicht hörte, während er mit Mahalea davonging. »Wenn Ihr von Trollbegegnungen sprecht, heißt das, dass die Grenzwache diese Trolle tötet?«

»Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt. Sie werden zunächst aufgefordert, umzukehren und sich von den Elfenlanden fernzuhalten. Die meisten scheinen das zu befolgen und nach Norden zu gehen. Ich muss Euch nicht erklären, warum mir das kaum besser gefällt.«

»Das verstehe ich natürlich, aber wohin sollen sie sonst gehen, wenn sie von Untoten vertrieben werden?«

»Was wollt Ihr, Athanor? Sollen wir jetzt auch noch heimatlose Trolle aufnehmen? Überspannt diesen Bogen besser nicht!«

»Das liegt mir fern«, behauptete er. »Ich will nur, dass die Grenzwache jeden Troll befragt, ob er ein Schamane ist oder weiß, wo wir einen finden können.«

Mahalea bedachte ihn mit einem beinahe mitfühlenden Blick. »Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt, und werde diesen Befehl gern erteilen, aber Ihr solltet Euch keine Hoffnungen machen. Die Grenzwache hat die Trollschamanen fünfhundert Jahre lang gejagt und getötet. Sie werden uns nichts sagen, selbst wenn wir sie auf Knien anflehen.«

* * *

Im Licht der bläulich weißen Flammen warfen die Untoten wilde Schatten. Mal groß wie Trolle, mal verzerrt und verschwommen tanzten die Schemen über die hell erleuchtete Mauer. Leones griff nach der vorletzten Kürbisflasche. Seine Kameraden hatten den Vorstoß neben dem Nordturm und dann einen weiteren abgewehrt. Brennende Teile des Greifenunterstands, Balken, Bretter, Strohbündel vom Dach, alles war auf die Gegner hinabgeregnet, und Leones hatte das Feuer auch in die hinteren Reihen getragen. Von Turm zu Turm erstreckte sich nun zu Füßen der Mauer ein Streifen aus lodernden Trümmern und sich windenden Orks. Rauch und der Gestank verkohlenden Fleischs erfüllten die Luft. Leones keuchte. Wie Feuer brannte sich Qualm in seine Lungen hinab. Die mühsam gewahrte Konzentration zerbrach, seine Magie entglitt ihm. Hustend lenkte er Sturmlöwe auf einen Bogen, weg von Mauer und Rauch.

Kühle Nachtluft streifte seine Wangen, doch als er sie gierig einsog, packte ihn erneutes Husten und rüttelte ihn durch. Geistesgegenwärtig umklammerte er die Flasche. Er war so erschöpft, dass er seinen Fingern nicht mehr vertraute. Endlich konnte er wieder atmen. Erleichtert richtete er sich auf und wischte mit dem Ärmel den Schweiß aus der Stirn. Komm schon! Nur noch zwei. Er musste nur das Gewicht verlagern, um wieder Kurs auf den Westhang zu nehmen. Müde schloss er die Augen, suchte in sich nach der Hitze, nach den Strömen der Magie. Er sah vor sich, wie er die Wärme als rötliche Schlieren in das Öl hinter der dünnen Kürbisschale lenkte, doch es waren nur Bilder, er spürte es nicht. Wie konnte er nur so verflucht erschöpft sein? Seine Lider waren so schwer … Danaels Ohnmacht fiel ihm ein. Wenn ihm dasselbe geschah, stürzte er in den sicheren Tod. Alarmiert richtete er sich auf. Was tat er noch hier? Seine Magie war versiegt, die Flasche nutzlos. Jede Bewegung fiel ihm schwer, doch er schob den Kürbis in die Tasche zurück und lenkte Sturmlöwe knapp am Nordturm vorbei. Wegen der Zauberei hatte er völlig den Überblick verloren. Er musste wissen, wie es stand, wie weit die Orks auf den anderen Seiten vorgedrungen waren.

An der Nordmauer ballten sich die Wiedergänger bereits an drei Stellen, um ihre Leitern aus untoten Körpern zu bilden. Theremon hatte die Gefahr bemerkt und warf mit Rhayuna brennende Bretter und Balken auf die Gegner hinab, doch sie konnten nicht überall gleichzeitig sein. Bald würde einer der Türme aus Leibern hoch genug sein, dass die Untoten auf den Wehrgang drängten.

»Schneller!«, feuerte Leones Sturmlöwe an. Der Greif schlug hektischer mit den Flügeln. Vor der Ostmauer strömten die Orks von beiden Seiten auf das Tor zu. Die ersten hatten es schon erreicht. Mit Äxten, Steinen und Fäusten trommelten sie darauf ein. Um das mit mächtigen Zaubern getränkte Holz machte sich Leones keine Sorgen, es hatte selbst Angriffen der Trolle getrotzt. Doch sobald sie es merkten, würden die Untoten auch hier versuchen, die Mauer zu erklimmen.

Schon fegte Sturmlöwe um die Ecke. Die Südseite kam in Leones’ Blick. Wiedergänger drängten sich dicht an dicht. Während sich Keatos mühte, einen brennenden Balken allein zur Mauerkante zu schleifen, schoss Danael wahllos Brandpfeile in die Menge. Leones warf sich nach rechts und lehnte sich ein wenig nach hinten. Knurrend bog Sturmlöwe scharf ab. Dennoch landeten sie erst knapp vor dem Südturm auf der Mauer.

»Warte!«, befahl Leones. Er sprang ab und stürzte der Länge nach hin. Seine Beine hatten einfach unter ihm nachgegeben. Fluchend rappelte er sich auf. Vor seinen Augen platzten schwarze Nebelflecken und raubten ihm die Sicht. Er hätte niemals so viel Magie wirken dürfen. Doch was nützte ihm diese Erkenntnis jetzt? Wankend eilte er auf Keatos zu. Wenigstens klärte sich sein Blick wieder, auch wenn ihm seine Beine weich wie Grashalme vorkamen. Der Sohn Ameas zerrte den Balken auf jene Stelle zu, wo sich die Orks bereits am höchsten türmten. Rasch packte Leones das andere Ende, und gemeinsam wuchteten sie den Balken über den Rand. Das Gewicht genügte, um die obersten Wiedergänger in die Tiefe zu reißen. Wer mit den Flammen in Berührung kam, fing sogleich Feuer.

»Ich muss zu Theremon«, rief Leones und wollte zu Sturmlöwe zurück, aber Keatos hielt ihn am Ärmel fest.

»Wir sind verloren!« Selbst durch schweißverklebte Haarsträhnen vermochte Keatos ihn so eindringlich anzusehen, dass Leones nichts zu erwidern wusste. »Bring wenigstens Danael in Sicherheit! Mit dem Greif könnt ihr es schaffen.«

Überrascht blickte Leones zu ihrem Kameraden, der gerade seinen letzten Brandpfeil verschoss. Torkelnd sah er sich nach Nachschub um. Er ist so fertig wie ich. »Er kann nicht mehr zaubern. Ohne seine Magie kommen wir nicht weit.«

»Versuch es doch!« Keatos’ Stimme schwankte zwischen Flehen und Drohen.

»Wir stürzen da unten ab!«, fuhr Leones auf. »Der ganze Wald wimmelt von Orks!« Zu Fuß und ohne Feuermagie würden sie niemals entkommen.

Bevor Keatos etwas erwidern konnte, riss sich Leones los und rannte zu Sturmlöwe zurück. »Die Öleimer!«, rief er Danael im Vorüberlaufen zu. »Anzünden und über die Kante schieben!«

Sturmlöwe brüllte vom Wehrgang herab und fletschte die Zähne. Zum Glück schien er nicht dumm genug, um sich in die Übermacht der Untoten zu werfen.

»Wir müssen da rüber!« Leones deutete zur Nordmauer und schwang sich auf Sturmlöwes Rücken. Der Greif wendete, sprang und war mit drei Flügelschlägen auf der anderen Seite der Festung, wo Die Faust und Theremon Latten und Bretter aus einem brennenden Stapel auf die Orks hinabwarfen. Der bläuliche Schein der magischen Flammen flackerte auf ihren Gesichtern wie Wetterleuchten.

»Wir müssen weg!«, rief Leones, noch bevor er von Sturmlöwes Rücken geglitten war. Mit seinen müden Beinen würde er nicht noch einmal springen. »Sie sind schon am Tor!«

Die Faust hielt inne und sah Theremon an, der mit grimmiger Miene ein weiteres Brett schleuderte. Schwer atmend wandte er sich Leones zu, starrte ihn an und doch durch ihn hindurch. Was gab es da lange zu überlegen? Aus dem Hof hallte das Hämmern der Orks gegen das Tor herauf.

»Es ist zu spät.«

Leones zweifelte an seinen Ohren. Was hatte der Erste gerade gesagt?

»Sobald wir den Riegel wegnehmen, drücken sie das Tor auf und drängen herein.«

Fassungslos wechselte Leones einen Blick mit Rhayuna. Der Erste hatte recht. Wie sollten sie den brennenden Karren durch das Tor hinausschieben, wenn gleichzeitig die Orks hereinstürmten? Hatte Theremon das nicht bedacht? Warum hatte er nicht früher den Rückzug befohlen?

»Dann müssen wir sie eben vom Tor verjagen.« Entschlossen zog Die Faust zwei Latten aus dem Feuer und eilte mit ihnen davon, als ob sie sich mit brennenden Schwertern in den Kampf stürzen wollte. Leones begriff, dass sie die Untoten vor dem Tor damit in Brand setzen wollte, doch wenn sich die Orks dort am Boden wälzten, kam der Karren erst recht nicht mehr durch. Was sollte ihnen dann den Hang hinunter als Rammbock dienen?

»Du kannst immer noch wegfliegen«, sagte Theremon, als ginge ihn das alles nichts an. »Du hast ihn.« Sein Blick schweifte zu Sturmlöwe, der erneut den Feinden vor der Mauer drohte.

Das würde dir so passen. Zornig starrte Leones ihn an. Damit du mich noch in deinem Heldentod für einen Verräter halten kannst. Was konnte er dafür, dass Theremons Greif vor Theroia gestorben war?

Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Befehlt den Rückzug, Erster, oder ich schwöre, ich werde nach Anvalon fliegen und vor dem Rat aussagen, dass Ihr meine Kameraden bewusst in den Tod geschickt habt!«

Theremons Augen funkelten vor Wut. »Es ist zu spät!«

»Ist es nicht. Bringt mir Feuer! Wir treffen uns über dem Tor.«

Ohne sich noch einmal umzublicken, schwang sich Leones wieder auf Sturmlöwes Rücken. Er hörte Theremon »Rückzug!« brüllen, alles Weitere ging im Säuseln des Winds und dem Fauchen und Prasseln des Feuers unter. Zufrieden sah er, wie viele Untote brennend am Fuß der Mauer lagen, doch es war nur ein Bruchteil des Heers, und während er in einem Bogen über den nordöstlichen Hang flog, entdeckte er im Mondlicht Scharen von ihnen, die Nehora den Rücken kehrten und in die Elfenlande weiterzogen.

Rasch schob er den Gedanken beiseite. Es blieben immer noch Tausende Gegner, von denen sich die ersten gerade auf den Wehrgang der Südmauer stemmten. Leones zwang sich, nicht hinzusehen. Blindlings fischte er eine der beiden Kürbisflaschen aus der Tasche und hielt den Blick dabei stur auf das Tor gerichtet. Es von oben mit Öl zu benetzen, war kaum möglich, denn das Holz war zum Schutz vor der Witterung ins Mauerwerk zurückgesetzt. Er hatte direkt darauf zufliegen wollen, um Sturmlöwe gleichsam vor dem Tor in der Luft stehen zu lassen, auch wenn es für den Greif unglaublich anstrengend war. Doch als sie näher kamen, merkte er, dass sie dann zu lange zu niedrig über den Orks hängen würden. Sturmlöwes Bauch wäre binnen Augenblicken mit Speeren gespickt.

Hastig drehte er ab. Als ob ihm die Zeit nicht ohnehin davonlief. Immer mehr Wiedergänger drängten vor diese Mauer, die einzige, vor der kaum Feuer brannte. Der südliche Wehrgang war bereits schwarz vor Orks.

In neuem Winkel lenkte Leones Sturmlöwe aufs Tor zu. Sie mussten eine so rasante Kehre fliegen, dass sie wieder fort waren, bevor die Untoten wussten, wie ihnen geschah. Doch dafür musste er sich in die Kurve und gleichzeitig die Flasche in die andere Richtung werfen – und treffen. Sein Mund war plötzlich so trocken, dass sich die Zunge pelzig anfühlte. Mit flauem Gefühl im Magen krallte er die freie Hand in die Mähne und umschloss Sturmlöwes Leib fest mit den Beinen.

Der Greif ließ ein gereiztes Grollen hören. Sie waren fast da. Leones holte aus, was sein Gewicht vom Tor weg verlagerte. Schon kippte Sturmlöwe zur Seite, um nicht mit der Schwinge die Mauer zu streifen. Jetzt! Leones schleuderte die Flasche, brachte den Greif mit der heftigen Bewegung aus der Balance und rutschte zugleich auf dem glatten, fast senkrecht geneigten Rücken gen Abgrund. Längst war Sturmlöwe am Tor vorbei. Flatternd kämpfte er um Höhe und Gleichgewicht, während Leones entsetzt auf die Speerspitze starrte, die durch Sturmlöwes Schwinge stach. Mit dem nächsten Flügelschlag riss sich der Greif wieder los. Sie hatte wohl nur Federn getroffen, doch Sturmlöwe brüllte wütend. Hätte der Schwung ihn nicht weitergetragen, wäre er womöglich auf den Angreifer losgegangen. Leones lockerte die Umklammerung durch seine Beine. Er durfte den Greif nicht so massiv beim Fliegen behindern, sonst würde er ihn noch abwerfen und verschwinden. In der Wache gingen zahllose solcher Geschichten um.

Dass der Hang steil abfiel, half Sturmlöwe, schneller Höhe zu gewinnen. Leones sah über die Schulter. Hatte er das Tor überhaupt getroffen? Blut und Wind hatten zu laut in seinen Ohren gerauscht, um etwas anderes zu hören. Doch auf diese Entfernung konnte er im Mondlicht nichts erkennen. Es musste geklappt haben. Sturmlöwe würde dieses Manöver nicht noch einmal mitmachen. Fahrig zerrte er sich den Bogen über Kopf und Schulter und einen Brandpfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken. Vor Erschöpfung zitterten seine Finger so sehr, dass er den Pfeil kaum auf die Sehne bekam. Auf dem Wehrgang über dem Tor leuchtete eine der Feuerschalen. Also hatte der Erste seine Anweisung befolgt. Als Leones nun darauf zuflog, war kein Elf mehr zu sehen – auf keiner der Mauern. Stattdessen strömten Orks über den südlichen Wehrgang und drängten die Treppen zum Hof hinab. Seine Kameraden konnten ihnen dort unten nicht viel entgegensetzen. Er sah nur Lichtschein über die Mauern huschen, dann hatte Sturmlöwe endlich den Wehrgang über dem Tor erreicht und landete neben der Feuerschale. Schneller, verdammt! Leones zwang sich, weder nach den Untoten noch in den Hof hinunter zu spähen. Jeder Lidschlag zählte. Er beugte sich vor und zog ein brennendes Holzscheit aus der Schale. Aus dem Augenwinkel sah er Wiedergänger vom südlichen Wehrgang auf ihn zukommen. Fluchend ließ er das Scheit wieder fallen, fischte stattdessen die letzte Kürbisflasche aus der Tasche und schleuderte sie ihnen entgegen. Noch während sie auf den Steinen zerbarst, schnappte er sich erneut das Scheit und warf es hinterher. Fauchend sprangen weißliche Flammen auf. Die Untoten schlitterten mitten hinein. Schnell wollte sich Leones ein anderes Scheit greifen, doch keins bot mehr genügend Platz für seine Finger. Ihm blieb nichts übrig, als den Brandpfeil vorsichtig an die Flammen zu halten. Aus dem Hof drangen hektischer Hufschlag und Schreie herauf. Sie sterben! Eine unsichtbare Faust presste Leones’ Magen zusammen.

»Absprung!«, herrschte er Sturmlöwe an.

Flatternd warf sich der Greif von der Mauer, fürchtete zurecht die Speere der Orks, doch Leones hatte keinen Blick für sie übrig. Mit gespanntem Bogen drehte er sich nach dem Tor um. Noch waren sie zu nah, der Winkel zu steil. Er lenkte den Greif zur Seite und schoss. Er glaubte, den Knall zu hören, mit dem der Pfeil gegen das Holz schlug, doch im nächsten Augenblick blieb ihm das Herz stehen. Die Schutzzauber waren zu mächtig, der Pfeil steckte nicht fest. Als ob die Zeit langsamer verging, kippte er gen Boden und fiel trudelnd hinab. Auf ihrem Weg nach unten streiften die Flammen jedoch Öl. Magische Feuerzungen leckten plötzlich über das Holz. Die vordersten Untoten drängten zurück.

Mehr sah Leones nicht. Er lenkte Sturmlöwe in einer steil ansteigenden Schleife zurück über die Mauer und den jetzt hell erleuchteten Hof. Bei allen Astaren! Der präparierte Karren stand bereits in Flammen. Im grellen Licht lagen zwei tote Pferde, und brennende Wiedergänger wälzten sich am Boden. Dazwischen stand Theremon, deckte sich mit einem Schild und schwenkte eine Fackel. Von den anderen war nichts zu sehen. Leones begriff, dass sie sich hinter dem Karren im Gang zum Tor verschanzt hatten. Nun konnte ihnen der Wagen nicht mehr den Weg durch die Belagerer ebnen. Verdammt! Dann musste es eben ohne den Karren gehen.

Leones wendete auf so engem Bogen wie möglich. Hatten ihn seine Kameraden bemerkt? Er flog über dem Hof direkt auf das Tor zu, doch durch die Flammen auf dem Wagen konnte er sie nicht sehen. »Ausfall!«, brüllte er. »Raus mit euch!«

Er sah nicht einmal, ob Theremon aufmerkte, denn er hielt den Blick starr auf die Feuerschale gerichtet. Schon jagte Sturmlöwe durch die Wolke aus sengender Hitze und Rauch, die von dem Karren aufstieg. Leones beugte sich neben Sturmlöwes Schulter hinab, klammerte sich mit Beinen und Fingern fest, während er einen Arm nach der Feuerschale ausstreckte. Es kam ihm vor, als hinge er kopfüber. Vielleicht tat er das auch. Er wusste nur, dass sich seine Hand um ein Bein des Dreifußes schloss, die Schale mitzerrte und über die Mauerkante riss. Feuer regnete auf die Orks vor dem Tor hinab.

Mit letzter Kraft zog sich Leones auf Sturmlöwes Rücken zurück. Wann hatte er seinen Bogen fallen lassen? Er wusste es nicht. Keuchend kauerte er über der Mähne des Greifs. Sein Herz hämmerte, unter der Rüstung klebten seine Kleider vor Schweiß. Was ist mit den anderen? Vorsichtig, um nicht ins Rutschen zu kommen, lenkte er Sturmlöwe ein weiteres Mal zur Ostmauer zurück. Wenn er jetzt das Gleichgewicht verlor, war es vorbei. Er würde sich nicht mehr festhalten können.

Gerade preschten drei Reiter mit Fackeln aus dem Tor. Mit schreckgeweiteten Augen sprangen die Pferde über brennende Leiber und rasten ins Gedränge der Untoten hinein. Wie Rammböcke pflügten sie durch die vordersten Reihen, dann steckten sie fest.

Im gleichen Moment verlor Leones sie aus dem Blick, sah nur noch die Mauer, die Sturmlöwe überflogen hatte, und das Inferno auf dem Hof. Blutüberströmt lag Theremon zwischen besiegten Gegnern. Die Flammen auf einem der reglosen Orks leckten bereits an Theremons Hand, aber er rührte sich nicht mehr. Wo kein Feuer war, wimmelte es von Wiedergängern. Sie drängten durch die Türen, in die Keller und umlagerten den Karren, der ihnen den Weg hinter den Elfen her versperrte.

Leones lenkte Sturmlöwe um die Festung zum Tor zurück. Für Theremon konnte er nichts mehr tun. Ich kann für niemanden mehr etwas tun. Die Erkenntnis schmeckte bitter wie Galle.

Als er Die Faust auf dem Hang entdeckte, bohrte ein Ork seinen Speer in die Brust ihres Pferds. Schon während das Tier zu Boden ging, warfen sich die Untoten auf sie, hackten erst auf ihre Beine, dann auf den Rest ein. Mit der Fackel steckte sie einige in Brand, doch bevor Leones auch nur herangeflogen war, verschwand sie bereits unter der Masse der Feinde.

Keatos hatte eine Spur brennender Gegner hinterlassen, bis sie auch sein Pferd zum Straucheln brachten. Leones sah die Flammen und den Ring aus Gegnern, der Keatos umgab. Brüllend schwang der Sohn Ameas die Fackel nach ihnen und drehte sich dabei so elegant, dass es einem Feuertanz glich. Einen Lidschlag lang träumte Leones davon, Sturmlöwe hinabstoßen, Keatos packen und davontragen zu lassen, dann traf den Amea-Sohn von hinten ein Stein an den Kopf, und er brach lautlos zusammen. Sofort waren die Wiedergänger über ihm. Schaudernd wandte Leones den Blick ab.

Danael! Konnte er wenigstens dem letzten seiner Kameraden helfen? In einem Aufwallen von Zorn und Hoffnung sah er sich um. Danaels Pferd hatte es weiter geschafft als die anderen. Wo der Hang steil wurde, trampelte es sich durch die Menge, schlug, biss und stieg, während sich der Sohn Heras an die Mähne klammerte und die Fackel schwenkte. Die Neigung des Untergrunds half dem Tier, die Gegner zum Straucheln zu bringen und dadurch voranzukommen. Nur noch wenige Schritte, dann würde es so abschüssig werden, dass sich niemand mehr der Wucht eines Pferds entgegenstemmen konnte. Leones lenkte Sturmlöwe auf Danael zu. Vielleicht konnte er die Orks ablenken, sie einen entscheidenden Moment lang verwirren. Im Licht der Fackel glänzte Blut aus etlichen Wunden. Von allen Seiten schoben die Untoten ihre Vordermänner auf das tobende Pferd zu, warfen Steine, hackten mit Äxten und stachen mit schartigen Klingen.

Gefährlich niedrig brauste Sturmlöwe über sie hinweg, brüllte und schlug mit den Pranken nach ihnen, bevor ihn Leones hastig wieder nach oben dirigierte. Auch der Greif war müde. Leones spürte das Zittern der Muskeln unter sich. Am durchbohrten Flügel war kaum ein Schaden zu sehen, nur ein wenig zerzaustes Gefieder, und doch merkte er, wie Sturmlöwe ständig seine Lage in der Luft wieder ausglich. Dennoch lenkte er ihn in enger Kurve zurück. Er war zu erschöpft, um das Schwert zu ziehen oder auch nur den Arm zu heben, aber er stimmte in Sturmlöwes Brüllen ein, als sie erneut auf das Knäuel um Danael zujagten.

In diesem Augenblick fuhr eine Axt nieder. Leones sah nur, wie sie hinter Gegnern verschwand, doch einen Lidschlag später brach Danaels Pferd mit einem Hinterlauf ein. Auf drei Beinen machte es einen letzten Satz nach vorn, rammte Untote, die gegen andere Orks stießen, und stolperte über die gestürzten Gegner. Danael ließ die Fackel fallen und krallte sich fest. Geschwächt und verwundet fand das Pferd auf dem steilen Hang keinen Halt. Es fiel, während Sturmlöwe darüber hinwegflog. Leones Brüllen geriet zum verzweifelten Schrei.

Athanor 4: Die letzte Schlacht

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