Читать книгу Athanor 4: Die letzte Schlacht - David Falk - Страница 12

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»Alles, was Ihr habt, ist das Wort eines Trolls?« Im nächtlichen Garten klang Vethanas Stimme zu laut und zu verächtlich.

Alarmiert sah Athanor zu Orkzahn. Der Troll ballte die Fäuste, und seine Augen glänzten im Laternenlicht beunruhigend auf. »Besser als das Wort einer Ogertochter!«

»Vethana ist nicht Kavaraths Tochter«, warf Athanor rasch ein. »Sie sieht ihm nur ein wenig ähnlich.«

Die rothaarige Kriegerin erhob sich brüsk von der Bank, auf der sie neben Peredin gesessen hatte. Ihre Hand fuhr zum Griff des Schwerts, das sie nicht mehr ablegte, seit die Untoten in der Ratssitzung erschienen waren. »Ich bin nicht hergekommen, um mich von einem haarigen Scheusal beleidigen zu lassen!«

Hastig hielt der Erhabene sie am Handgelenk fest. »Der Troll ist mein Gast«, sagte er so bestimmt, dass jeder die Drohung darin hörte. »Wer eine Waffe gegen ihn zieht, zieht sie gegen mich.«

Dennoch blieb Athanor bereit, aufzuspringen und sich mit der Klinge zwischen die Elfe und seinen Freund zu stellen. Sollte sie versuchen zu zaubern, würde er …

»Ich glaube ihm.« Die Stimme ertönte so plötzlich hinter Orkzahn, dass Athanor zusammenzuckte. Selbst dem Troll entfuhr vor Schreck ein Knurren. Omeon trat neben ihm in den Schein der Laterne. Er sah alt aus, sehr alt, und doch lag ungebrochener Wille in seiner Haltung und seinem Blick.

»Und wer seid Ihr?«, fragte Vethana herablassend, obwohl ihre Züge ein wenig Verunsicherung verrieten.

»Omeon ist der Älteste unter allen vier Völkern«, erklärte Peredin. »Er wurde geboren, als das Alte Reich der Menschen zerbrach.«

Athanor starrte den Greis ungläubig an. Dass Elfen mehrere Hundert Jahre lebten, hatte er gewusst, doch das Ende des Alten Reichs lag fast tausend Jahre zurück. Selbst der Erhabene war nur halb so alt.

»Und er scheint Einblick in Bereiche zu haben, die uns verschlossen sind«, fügte Mahalea hinzu. Aus ihrem Mund klang es jedoch eher anklagend als anerkennend.

»Seid Ihr gerade erst zurückgekehrt?«, erkundigte sich Peredin. »Wir hätten in dieser Angelegenheit gern schon früher mit Euch gesprochen.«

»Ich bedaure, dass Ihr auf mich verzichten musstet«, antwortete Omeon mit dem Lächeln eines Manns, der wusste, dass nicht er, sondern nur sein Nutzen vermisst worden war. »Ich habe … wichtige Verhandlungen geführt.«

»Verhandlungen?« Der Erhabene furchte die Stirn. »Jetzt ist nicht die Zeit, um in Rätseln zu sprechen, Omeon. Unsere Lage ist ernst.«

»Zweifellos«, bestätigte der Alte. »Deshalb habe ich um Verbündete geworben. Für ihre Hilfe verlangen sie jedoch einen Preis.«

»Wessen Unterhändler seid Ihr?«, fragte Mahalea scharf. »Ich will einem Verbündeten in die Augen sehen, bevor wir irgendwelche Zugeständnisse machen.«

»Das lässt sich einrichten.« Omeon wandte sich zu den Schatten jenseits des Laternenscheins um und bedeutete jemandem, näher zu kommen. Sofort legte Athanor die Hand um den Schwertgriff. Neben ihm spannte sich auch Akkamas zum Sprung, und Orkzahn verdrehte den Hals, um hinter sich zu spähen.

Eine unerwartet kleine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit. Die alte Faunin reichte Omeon nicht einmal bis zur Schulter, was auch an den beiden krummen Bocksbeinen lag, auf denen sie stand wie eine sich aufbäumende Ziege. Fast bis zur Taille hinauf war ihr Leib mit Fell bedeckt. Auf dem Rücken setzte es sich entlang der Wirbelsäule fort, um im Nacken in die etwas längeren Haare auf dem Kopf überzugehen. Die nackten Bereiche ihres Körpers waren nach Sitte der Faunfrauen mit verschlungenen Mustern bemalt, die von ihrer faltigen Haut und den ausgelaugten Brüsten ablenkten. Von der grünen Paste ging ein Duft nach Kräutern und Gräsern aus, was den Ziegengeruch jedoch nur unzureichend überdeckte. Im Gegensatz zum ergrauten Haar waren die Augen der Alten von dunklem Braun und sahen vollkommen menschlich aus. Das einzige Ziegenhafte an ihrem Gesicht war der schmale, graue Kinnbart, der allen alten Fauninnen wuchs.

»Erhabener, dies ist Edege, Älteste der Sippe der Widdergehörnten und Abgesandte aller Sippen, die in den Elfenlanden vertreten sind«, stellte Omeon sie vor.

Peredin nickte der Faunin zu. »Seid gegrüßt, Edege. Im Namen der vier Elfenvölker heiße ich Euch in Anvalon willkommen.«

»Danke, Erhabener. Wir Faune haben vom großen Unglück der Elfen erfahren und bedauern es zutiefst«, versicherte sie im Elfisch der Faune, das wie ein alter Dialekt klang.

»Omeon sagte, dass Ihr gekommen seid, um uns Eure Hilfe anzubieten«, erwiderte Peredin. »Darüber würden wir alle gern mehr erfahren.«

»Ich sehe eine Versammlung vieler Abgesandter. Das ist gut«, sagte sie, obgleich sich etwas Furcht in ihren Blick schlich, als er Orkzahn streifte. »Aber starke Arme und scharfe Zähne werden uns nicht retten. Bist du ein Schamane?«, wandte sie sich direkt an den Troll.

Überrascht schüttelte Orkzahn den Kopf.

»Wie ich Euch sagte, Edege«, mischte sich Omeon ein, »die Trollschamanen wurden von Ghulen getötet. Die Faune sind unsere letzte Hoffnung.«

Vethana lachte auf. »Wollt Ihr uns auf den Arm nehmen? Euer hohes Alter in Ehren, Omeon, aber das ist lächerlich. Sind nicht gerade erst unzählige Faune zu uns geflohen, weil sie nicht einmal mit den untoten Menschen Theroias fertig wurden? Und jetzt sollen sie uns vor gigantischen Wiedergängern retten?«

Insgeheim musste Athanor ihr recht geben. Er selbst hatte Trolle und Elfen in die Schlacht geführt, um den Heiligen Hain der Faune in Theroia zu verteidigen, weil sie selbst nicht dazu in der Lage gewesen waren. Die Entscheidung des Hohen Rats, ihm eine viel zu kleine Truppe mitzugeben, hatte viele Leben gekostet. Und trotz seiner Hilfe waren die meisten Faunmänner gefallen, weshalb sich Frauen und Kinder zu ihren Verwandten in den Elfenlanden geflüchtet hatten. Was hätten sie auch gegen Xanthos’ Untotenheer ausrichten können? Nur ihm als rechtmäßigem Herrscher Theroias war die Macht zugefallen, seine Untertanen zurück in ihre Grabstätten zu schicken.

»Wir Faune können das Ewige Licht nicht wieder zum Leuchten bringen«, gab Edege zu. »Es war ein Heiligtum des Seins, das den Elfen geschenkt wurde, und ihr habt es nicht beschützt. Auch uns Faunen erwächst daraus Unglück, aber uns trifft es nicht so hart wie euch.«

Athanor beobachtete, wie Mahalea ihre ohnehin dünnen Lippen zu einem Strich verkniff. Der Vorwurf des Versagens würde sie für immer verfolgen.

»Inwiefern leidet ihr darunter?«, erkundigte sich der Erhabene.

»Liegt das nicht auf der Hand?«, fragte Mahalea. »Sie hatten hier ein angenehmes Leben ohne strenge Winter, und die Grenzwache sorgte dafür, dass sie sich keine Sorgen um Oger, Orks oder Trolle machen mussten.«

»So ist es«, bestätigte Edege freimütig. »Es war ein gutes Land für uns. Vor allem für jene, die vor einigen Monden ihre Männer verloren.«

»Und für den Verlust dieser Vorteile, die nur uns zu verdanken waren, wollt ihr jetzt auch noch entschädigt werden, indem ihr einen Preis für eure Hilfe verlangt?«, fuhr Vethana auf.

»Das ist ein bemerkenswertes Verständnis von Gerechtigkeit«, meinte Akkamas schmunzelnd.

»Aus der Verbundenheit langer guter Nachbarschaft heraus bin ich dennoch gewillt, mir Eure Forderungen anzuhören«, sagte Peredin. »Aber ich rate Euch, nicht unverschämt zu sein, denn angesichts unserer schwierigen Lage ist meine Gutmütigkeit begrenzt.«

Die alte Faunin bebte vor unterdrücktem Zorn, dass ihr Kinnbart zitterte. »Wir Faune haben das Ewige Licht nicht erlöschen lassen, aber Elfen sollen den Tod unserer Männer beim Heiligen Hain verschuldet haben.«

»Das ist wahr«, sagte Orkzahn in die betroffene Stille. »Sie haben auch viele Trolle das Leben gekostet.«

Athanor musterte Omeon, doch dessen Miene ließ nicht erkennen, ob das Gespräch den Verlauf nahm, den er sich vorgestellt hatte. Mit dieser Konfrontation war niemandem gedient. »Ich kann beide Vorwürfe aus eigener Anschauung bestätigen. Auch wenn keinen der hier Anwesenden eine Schuld an jenen Ereignissen trifft, so sind sie doch geschehen. Angesichts der Bedrohung, der wir uns alle gegenübersehen, sollten wir uns daher versöhnlich zeigen und uns die Hände reichen.«

»Wohl gesprochen«, lobte Akkamas. »So wie Athanor und ich ein Bündnis geschlossen haben, obwohl Angehörige meines Volks das seine nahezu vernichtet haben, so sollten auch Elfen, Faune und Trolle nun aufeinander zugehen, um Schlimmeres zu verhindern.«

»Wir brauchen keine Ratschläge von Drachen und ihren Freunden!«, schnappte Vethana. »Dass Drachen und Menschen gleichermaßen heimtückisch sind, mag euch verbinden, aber uns verbindet nichts mit Trollen und Faunen!«

»Ich bin stolz darauf, dass ich nichts mit einem zauberischen Elf gemeinsam habe«, knurrte Orkzahn.

Auch Athanor hatte die unerschöpfliche Arroganz der Elfen satt. »Wer sagt eigentlich, dass wir sie brauchen?«, fragte er an seine Freunde und die Faunin gerichtet. »Rufen wir alle wohlgesinnten Drachen und Trolle zusammen und verschanzen uns in einer theroischen Festung!« Er hatte zwar keine Ahnung, wie viele diesem Aufruf folgen würden, doch alles war besser, als die Elfen anzubetteln.

»Ich bin dabei!«, rief Orkzahn.

»Ich habe geschworen, dich und die deinen zu beschützen, und dabei bleibt es«, erklärte Akkamas.

»Gemach, Athanor«, bat Peredin. »Vethana spricht nicht für alle Völker der Elfen, sondern nur für sich.«

»Obwohl zweifellos viele denken wie sie«, warf Mahalea ein.

»Ihr zum Beispiel«, folgerte Athanor spöttisch.

»Ich war immer auf die Sicherheit meines Volkes bedacht, und das steht für mich auch weiterhin an erster Stelle. Deshalb halte ich es für unklug, wenn wir uns ausgerechnet jetzt weitere Feinde machen, anstatt die Vorteile eines Bündnisses zur Kenntnis zu nehmen.«

Peredin nickte. »Auch ich halte ein Bündnis für weise. Und ich erkenne an, dass auch den Faunen großes Unheil und Schaden aus Kavaraths Verrat entstanden sind. Wir hatten deshalb zugestimmt, die Flüchtlinge aus Theroia aufzunehmen. Was fordert Ihr nun darüber hinaus?«, wandte er sich an Edege.

»Wir haben gehört, dass ihr fortziehen und ein anderes Heiligtum des Seins aufsuchen wollt. Wenn das wahr ist, erwarten uns hier bald nicht nur Eis und Schnee, sondern auch alle Gefahren, vor denen uns eure Wächter bislang bewahrt haben. Wir fordern deshalb, euch begleiten zu dürfen.«

»Mehr nicht?«, staunte Vethana.

Angesichts der Tatsache, wie viele Gegenstände spurlos verschwanden, wenn man sich zu eng mit Faunen umgab, schätzte Athanor den Preis nicht ganz so gering ein.

»Das können wir euch kaum verweigern«, gestand der Erhabene. »Ihr seid ein freies Volk und könnt die Elfenlande verlassen, wann immer es euch gefällt.«

»Es geht um mehr.« Omeon hatte so lange geschwiegen, dass Athanor ihn beinahe vergessen hatte.

»Wenn wir euch begleiten, erwarten wir, unter eurem Schutz zu stehen«, eröffnete ihnen Edege. »Omeon hat uns berichtet, dass die Trollschamanen von Ghulen getötet wurden. Auch einige unserer Schamanen hat dieses Schicksal ereilt. Wir sind bereit, mit euch gegen die Gefahr aus der Geisterwelt zu kämpfen, aber gegen die Ghule können wir nichts tun. Ihr müsst uns vor ihnen beschützen.«

Athanor stand auf. »Ganz gleich, wie sich die Elfen entscheiden mögen: Meine Klinge habt ihr!«

* * *

Um weiteren Toten und Untoten vorzubeugen, verbrannten die Grenzwächter Emmos’ Leiche.

»Nein, das will er nicht!«, schrie Rhea, und seine Witwe schrie noch lauter. Gemeinsam mussten Djefer und Otreus die tobende Schwangere festhalten, damit sie sich nicht in die Flammen stürzte. Obwohl sie selbst mit den Tränen rangen, sprachen Nemera und Sirkit beruhigend auf sie ein, beschworen sie, an das ungeborene Kind zu denken, während Laurion Rhea davontrug, um ihr den Anblick des brennenden Leichnams zu ersparen.

Haben wir nicht schon genug Schrecken mit angesehen? Wird das nie ein Ende haben? Die Grenzwächter mochten Ameathar wieder gefesselt haben und von ihnen fernhalten, doch es war offensichtlich, dass sie vermeiden wollten, Elfenblut zu vergießen, auch wenn der Preis dafür Menschenblut war. Den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch glaubte Laurion, die Blicke des Mörders zu spüren. Seine Hoffnung, dass alles gut werden würde, sobald sie dieses Anvalon erreichten, versickerte wie verschüttetes Wasser im Wüstensand. Durch Ameathar brachten sie ihr eigenes Verderben mit sich. Es war sein erklärtes Ziel, ihretwegen Hass und Streit im Hohen Rat zu säen, und Laurion sah keinen Weg, um es zu verhindern. Wenn sie Ameathar töteten, würde es die Elfen erst recht gegen sie aufbringen.

Im Morgengrauen brachen sie wieder auf. Müde schleppte sich Laurion weiter. Aus Furcht vor Ameathar hatte er keinen Schlaf gefunden, stattdessen Rhea in seinen Armen geborgen und dem verzweifelten Schluchzen der Witwe gelauscht. Nun zogen sie wieder durch diesen endlosen Wald, über dem derselbe dunstige Himmel hing. Längst hatte Laurion die Orientierung verloren. Bäume, Bäume, Bäume, und in den Lücken ihrer Kronen nur Grau. Im Halbschlaf schlurfte er durch den tristen Morgen und wähnte sich auf ewig in diesen Wäldern gefangen, verfolgt von Ameathar, der wie ein Schatten an seinen Fersen klebte und doch nie nah genug für einen Dolch in den Rücken war.

Die Erinnerung an den Schmerz schreckte ihn auf. In seinem Tagtraum hatten sich Vergangenheit und Gegenwart vermischt, doch wenn er von seinen wunden Füßen absah, war er unverletzt, und Ameathar ritt mit der Anführerin voran, damit ihn alle im Auge behalten konnten. Rhea saß vor einem der Grenzwächter auf dem Pferd. Djefer trug Sirkits Sohn auf den Schultern. Konnte es nicht einfach bei diesem friedlichen Bild bleiben?

Laurion fiel auf, dass das Gelände allmählich anstieg. Zwischen den Bäumen kamen überraschend nahe Berge in Sicht, und der Weg wurde immer steiler. Verblüfft stellte er fest, dass sie zum ersten Mal einem erkennbaren Pfad folgten. Wann waren sie auf diesen Weg gestoßen? Bald ging es so hoch hinauf, dass er ins Schwitzen geriet.

»Das müssen Anvalas Zinnen sein«, vermutete Maraya. »Sie umgeben Anvalon wie schützende Mauern.«

»Dann wart Ihr auch noch nie hier?«, fragte Laurion.

Maraya lächelte und war nicht annähernd so außer Atem wie er. Statt Schweiß perlte Wasser aus dem Trinkschlauch auf ihrem Gesicht. »Ja. Ich gestehe, dass es ein Grund mehr für mich war, Euch zu begleiten. Schon lange wollte ich diesen Ort sehen, an dem unsere Geschicke entschieden werden. Jetzt ist er wichtiger denn je.« Das Lächeln wich der sorgenvollen Miene, die die Elfen stets bekamen, wenn sie sich an das Ende des Ewigen Lichts erinnerten. »Warst du schon in Anvalon?«, fragte sie Mahanael.

Der Sohn Thalas schüttelte den Kopf.

»Ach nein, du sagtest ja bereits, dass du noch nie so weit im Landesinnern warst.«

»Wir Abkömmlinge Thalas haben keine Sehnsucht nach Orten, an denen wir nicht willkommen sind.«

Maraya sah zu Boden. Ob sie peinlich berührt war oder nur auf den steinigen Weg achten musste, war schwierig zu sagen.

»Da haben wir etwas gemeinsam«, stellte Laurion fest.

Nach einer Weile blieb der Wald hinter ihnen zurück, und sie näherten sich einem Pass zwischen zwei felsigen Gipfeln. Dass die beiden Greifenreiter wie Geier darüber kreisten, schien Laurion ein schlechtes Omen.

»Ein wenig neugierig bin ich schon«, gestand Nemera. Ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet und glänzten vom Schweiß. »Wir nähern uns schließlich der sagenumwobenen Hauptstadt der Elfen. In den Märchen meiner Amme war es ein Ort der Schönheit und des immerwährenden Frühlings.«

»Es wäre schöner, wenn ein gewisser Mörder nicht die Aussicht verschandeln würde«, murrte Laurion.

»Allerdings«, knurrte Otreus. »Uns erwartet eine ganze Stadt kaltherziger Bastarde. Anwesende ausgenommen«, fügte er mit einem reuigen Blick auf Mahanael und Maraya hinzu.

»Aber auch der Kaysar«, ergänzte die Regentin. Für Laurion sprach das einsetzende Schweigen Bände. Seit sie sich in Sarna getrennt hatten, verblasste Athanor gleichsam wieder zu der Sagengestalt, die der Kaysar in Dion gewesen war. Ihre kurze, wenn auch rettende Begegnung am Everos hatte nicht viel daran geändert.

Vor ihnen öffnete sich der Blick aufs Tal und die darin ausgebreitete Stadt. Im ersten Moment wirkte Anvalon wie noch mehr endloser Wald, aber dann sah Laurion ein Kupferdach, das selbst ohne Sonnenlicht feurig glänzte. Kaum hatte er es bemerkt, entdeckte er viele weitere Gebäude zwischen und unter den Bäumen verteilt. Buntes Herbstlaub hob sich von den silbrigen Blättern besonders großer Bäume ab. Ein Bach verschwand in einem flachen, länglichen Haus, dessen Form den Windungen des Gewässers folgte, und tauchte jenseits davon wieder auf, um seinen Weg durch das Tal fortzusetzen. Das Dach schimmerte wie die goldenen Dächer Evereas, während das Weiß der Kuppel, die sich näher am Hang gen Himmel wölbte, an die schneebedeckten Gipfel der Donnerberge erinnerte. Athanor hatte zwar versucht, ihm zu erklären, was Schnee war, doch Laurion konnte sich nichts darunter vorstellen. Vielleicht handelte es sich doch um eine Art weißes Gestein, aus dem auch die Bauten der Elfen bestanden. Denn zwischen der Kuppel und den Bergen kamen weiße Türme in Sicht, deren Form Laurion an Nadeln denken ließ. Aus der Nähe ähnelten sie jedoch filigranen Schnitzereien. Ihre Außenwände wiesen so viele Öffnungen in komplizierten Mustern auf, dass kaum noch Gestein übrig blieb. Freitreppen und Plattformen in schwindelerregender Höhe zeugten von der Furchtlosigkeit der Erbauer und Bewohner. Vor Staunen verrenkte sich Laurion fast den Hals und bemerkte den Kaysar erst, als neben ihm Otreus auf die Knie ging.

Rasch wandte er sich um. Die Anführerin und Ameathar waren von ihren Pferden gesprungen und sprachen mit Drachenauge und der Kommandantin, während Athanor an den Elfen vorbei auf die Dionier zukam, weshalb ein Teil von ihnen auf die Knie fiel. Laurion dagegen stand so erstarrt wie Nemera und blickte mit offenem Mund dem Riesen entgegen, der dem Kaysar und Akkamas folgte. Die beiden Männer reichten dem Koloss nicht einmal bis zur dunkel behaarten Brust. Mit seinen massigen breiten Schultern hätte er nur durch das größte Palasttor Ehalas gepasst. Trotz des Wetters trug er nur ein schmuddeliges Fell um die Hüften. Vielleicht wärmte ihn der dichte, struppige Bart, der bis auf die Brust hinunterwallte. Das Furchterregendste war jedoch sein grimmiges Gesicht, das ein Wust verfilzter schwarzer Haare umgab. Aus den Schatten unter den buschigen Brauen stachen gelbe Augen hervor.

»Erhebt euch, verflucht noch mal!«, rief Athanor. »Wenn ihr nicht gerade vor Erschöpfung zusammenbrecht, will ich nie wieder einen von euch auf den Knien sehen. Habt ihr das endlich verstanden?«

Gemurmelte Entschuldigungen begleiteten hektisches Aufrappeln, doch Laurion glaubte nicht, dass es das letzte Mal gewesen war. Hastig verneigte er sich, um seine Ehrerbietung zu zeigen, auch wenn ihm schwerfiel, dafür den Riesen aus den Augen zu lassen.

»Ich freue mich, euch endlich sicher in Anvalon zu wissen«, fuhr der Kaysar fort. »Und ich habe gute Neuigkeiten! Auch Markas’ Schiff hat den Ozean überwunden. Er befindet sich bereits auf dem Weg hierher.«

Pflichtschuldig jubelten die Dionier, doch Nemera lächelte nur kurz. »Wir haben leider eine schlechte Nachricht«, erwiderte sie. »Emmos, ein junger Fischer, der mit mir auf der Kemethoë fuhr, wurde gestern ermordet. Von diesem Elf!« Mit mühsam beherrschtem Zorn deutete sie auf Ameathar, der gerade von seinen Fesseln befreit worden war.

Wie ein Mann wandten sich der Kaysar, Akkamas und der haarige Unhold nach dem Krieger um. »Kommandantin, Eure Leute hatten den Befehl, die meinen zu schützen!«, rief Athanor wütend. »Haltet Ihr so Euer Wort?«

Auch die Elfenherrin sah verärgert aus. »Der Mann wird sich vor dem Rat für seine Taten verantworten müssen. Seid versichert, dass ich sein Handeln aufs Schärfste verurteile!«

Davon wird Emmos nicht wieder lebendig, dachte Laurion, doch das würde selbst ein Todesurteil gegen den Elf nicht bewirken.

»Ich warne Euch, Kommandantin, wenn sich dieser Kerl noch einmal einem Menschen auch nur nähert, töte ich ihn!«, drohte Athanor. »Eure Seelen sind mir nicht kostbarer als unsere Leben.«

»Ihr habt meine Erlaubnis, genau das zu tun«, erklärte die Elfe und bedeutete den Grenzwächtern, ihr zu folgen. »Abführen! Ameathar, zur Wahrung des Friedens von Anvalon steht Ihr bis auf Weiteres unter Arrest. Ihr werdet Therianads Amtssitz nicht mehr verlassen, bis man Euch vor den Hohen Rat ruft.«

Selbst der Kaysar sah den Elfen überrascht hinterher. »Hat sie mir gerade gestattet, diesen Mörder einen Kopf kürzer zu machen?«, fragte er Akkamas erstaunt.

»Nur wenn er sich nicht an ihre Anordnung hält. Damit hat sie ihm selbst überlassen, ob er das Risiko eingehen will.«

»Ich esse ihn gern für dich auf«, ertönte die dröhnende Stimme des Riesen. »Dann weiß niemand, wohin er verschwunden ist.«

Mit großen Augen sah Rhea zu dem Ungeheuer auf, während Nemera erblasste. Laurion hoffte, dass es nur ein grober Scherz gewesen war.

»Mir scheint, wir müssen dir dringend ein Wildschwein besorgen«, erwiderte Athanor nur. »Das ist heute schon das zweite Angebot dieser Art.«

Wie zur Antwort knurrte der Magen des Riesen. Beinahe unmerklich wich Nemera zurück, und Rhea suchte rasch hinter Laurion Deckung. Es war, als ob der Kaysar sie alle erst jetzt wieder wahrnahm. »Dies ist der Troll Orkzahn, der mit mir gegen die Untoten Theroias kämpfte«, rief er so laut, dass es jeder hören konnte. »Ich sehe Angst in euren Gesichtern, aber ich versichere euch, dass er ein treuer Freund ist. Er wird auch euch mit seinem Leben verteidigen.«

Stolz schlug sich der Troll mit einer Faust gegen die Brust, dass es dumpf darin hallte.

* * *

Leones schlief in der Krone einer großen Broteiche. Immer wieder schreckte er auf und hoffte, dass ihn die Untoten hier oben nicht fanden – falls es ihnen gelang, ihn einzuholen. Sturmlöwe lag offenbar bequemer. Mit baumelnden Beinen hatte er sich auf einem verzweigten Ast ausgestreckt, dessen Gabeln ihn davor bewahrten, abzurutschen. Gelegentlich peitschte er die Luft mit dem Schwanz wie eine gereizte Katze, aber die geschlossenen Augen verrieten, dass er schlief. Er hatte das Löwenhaupt mit dem Kinn auf dem Ast abgelegt und sah so friedlich aus, dass es Leones fast schmerzte. Das Ewige Licht war zerstört, Wiedergänger überrannten die Elfenlande, und seine Kameraden waren tot. Es gab keinen Frieden mehr in dieser Welt.

Als die Sonne aufging, konnte Leones nicht mehr schlafen, doch bis Sturmlöwe aufwachte, saß er hier fest. Noch waren sie zu nah an Nehora, um sich auf den Boden zu wagen, und mit jedem Augenblick wuchs die Gefahr. Der unruhige Schlummer hatte nicht ausgereicht, um ihm seine Magie zurückzugeben. Er spürte sie, aber sie war schwach, wie in weiter Ferne. Wenn er die Augen schloss, sah er Flammen und Orks. Wieder und wieder rissen sie Die Faust vom Pferd, brach Keatos schlaff wie eine Puppe zusammen, stürzte Danael mit seinem blutenden Hengst. Es war Theremons Schuld. Hatte er nur so getan, als ob er den rechtzeitigen Rückzug plante? Oder war er einfach in einen Kampfrausch geraten, obwohl ein Erster darüber erhaben sein sollte? Es spielte keine Rolle mehr. Sie waren alle tot. Leones’ Kehle schnürte sich zusammen, und plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. Um sich nicht zu verraten, unterdrückte er mühsam das Schluchzen, doch die Tränen konnte er nicht aufhalten. Er hatte als Einziger überlebt und keinen Grund, sich zu freuen. Es würde ihm nur neue Verdächtigungen einbringen. Warum war ausgerechnet der verräterische Sohn Piriths entkommen? Durch den Greif lag die Antwort zwar auf der Hand, aber in Anvalon würden sie dennoch zweifeln. Trotzdem musste er dorthin. Der Hohe Rat musste erfahren, was geschehen war und welche Gefahr allen Elfen drohte.

Ungeduldig sah er zu Sturmlöwe hinüber und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Brummelnd dehnte und streckte sich der Greif und widmete sich dann dem beschädigten Flügel. Er leckte über die Federn, nagte mit den Zähnen daran herum, zog und zerrte, bis er endlich zufrieden schien. Dabei stieß er so oft gegen die Zweige, dass das Rascheln totsicher ihr Versteck verriet. Angespannt blickte Leones durch das Laub nach unten. Er befand sich zu hoch, um die Eicheln auf dem Boden zu sehen, doch einen Ork würde er entdecken. Sturmlöwes Magen knurrte. Auch Leones hätte viel für ein nussiges Brot aus Eichelmehl gegeben, und noch schlimmer war sein Durst, aber beides musste warten. Seine Tasche war leer. Nur ein Fettfleck erinnerte an die mit Öl gefüllten Flaschen. Leones wünschte, er hätte sie niemals geworfen. Vielleicht wäre er dann noch stark genug gewesen, um einen Kameraden zu retten.

Endlich sah Sturmlöwe ihn erwartungsvoll an, als ob er wissen wollte, wie es nun weiterging. Um die Schwingen halbwegs auszubreiten und fliegen zu können, mussten sie in den Randbereich der Krone, und wie schon beim Landen brach das äußere Geäst unter ihrem Gewicht. Mit hektischen Flügelschlägen bremste der Greif ihren Sturz und befreite sich aus den Zweigen. Leones konnte sich nur festhalten, bis der heikle Moment vorüber war. Es tat gut, bei Tag zu fliegen, – nicht nur, weil Sturmlöwe bald mühelos dahinglitt. Der Anblick der Wälder beruhigte Leones. Wie ein Meer aus grünen Wogen erstreckten sich die Hügel der Elfenlande von Horizont zu Horizont. Etwas so Großes konnte nicht zerstört werden. Selbst wenn das Wild vor den Untoten floh, würden die Bäume und Bäche bleiben und ihnen Heimat sein, solange es noch einen Elfen gab. Obwohl … hatte sich nicht ungewöhnlich viel Laub verfärbt?

Leones wollte nicht an weiteres Unheil denken. Sie brauchten Wasser, und Sturmlöwe musste jagen. Mit den vereinzelten Vögeln über den Baumkronen konnte der Greif nichts anfangen, sie waren zu klein und wendig, aber immerhin verrieten sie, dass das Wild hier noch nicht geflohen war. Doch wo sollte er landen? Auf der erstbesten Lichtung zu warten, bis sich Sturmlöwe bequemte zurückzukehren, kam nicht infrage. Er musste so schnell wie möglich nach Anvalon.

Als er den Blick erneut schweifen ließ, fielen ihm ein Stück gen Norden silbrige Flecken im grünen Laubdach auf. Lebten hier Söhne und Töchter Ardas? Er lenkte Sturmlöwe darauf zu und entdeckte erst die Gärten, dann die Häuser eines kleinen, abgelegenen Dorfs. Offenbar nichtsahnend gingen die Bewohner ihrem Tagwerk nach. Leones landete so unvermittelt auf der Lichtung zwischen den Häusern, dass er nicht nur die Tauben und kreischende Fasane aufschreckte. »Ich bin Grenzwächter!«, rief er den Leuten zu, die überrascht von ihren Beeten und Handarbeiten aufsahen. »Untote Orks haben die Festung Nehora überrannt und könnten schon morgen hier sein. Bringt euch in Sicherheit!«

Einen Moment lang starrten sie ihn an wie einen Geist. Die meisten von ihnen hatten vermutlich noch nie einen Greif mit Löwenhaupt oder überhaupt einen Greif gesehen. Doch dann kam Bewegung in ihre Mienen. Einige wirkten ungläubig, andere fassungslos, aber die meisten sahen alarmiert aus. Erst jetzt ging Leones auf, dass sie wohl noch nicht von der Zerstörung des Ewigen Lichts erfahren hatten, sonst wären sie nicht so unbeschwert ihren täglichen Verrichtungen nachgegangen. Sollte er es ihnen sagen? Nein. Dann hätte sie nur die Verzweiflung gelähmt, von der auch seine Kameraden befallen gewesen waren.

»Es ist eine ganze Armee, die auf euch zumarschiert«, konterte er die aufgeregten Fragen, ohne zuzuhören. »Ihr müsst euch beeilen!«

Manche liefen bereits los, um Angehörige aus den Gärten und dem Wald zu holen. Andere verschwanden in ihren Häusern, wo sie vermutlich ihre Sachen packten. Nur eine Frau blieb bei ihren Haselsträuchern zurück, sammelte hastig Nüsse auf und drängte die helfenden Kinder, sich zu beeilen.

»Könnte ich auch etwas Proviant bekommen?«, fragte Leones. »Mein Greif und ich haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Es wäre sehr undankbar von uns, dir nicht zu helfen«, befand die Fremde und deutete zur offenen Tür eines Hauses hinüber. »Nimm dir, was du brauchst.«

»Danke.« Leones befahl Sturmlöwe mit einer Geste, auf ihn zu warten, und trat zögernd über die Schwelle. Als er sah, dass er allein war, fiel die Scheu von ihm ab, und er stopfte etwas Obst, Nüsse und Hirsebrot in die Tasche. Dabei fiel sein Blick auf einen Krug Wasser, den er in einem Zug leerte. Jetzt musste er nur noch eine Mahlzeit für Sturmlöwe auftreiben. Hinter dem Haus stieß er auf einen der zahmen Fasane, packte das Tier und drehte ihm rasch den Hals um. Für den Greif mochte es nur ein Appetithappen sein, aber es war besser als nichts. Er warf Sturmlöwe seinen Fang zu und ignorierte die Kinder, während der Greif die Zähne fletschte, um ihnen zu zeigen, dass er nicht bereit war zu teilen.

Leones kehrte ins Haus zurück, um sich mit Wasser, Salz und dem Rauch des Herdfeuers von seinem Frevel zu reinigen. Als er damit fertig war, lagen von dem Fasan nur noch Schwanzfedern im Gras. Den Rest hatte Sturmlöwe verschlungen. »Denkt daran«, warnte Leones alle, die in Hörweite waren, »diese Orks sind Wiedergänger! Sie verhandeln nicht, und ihr könnt sie nicht töten. Flieht, so schnell ihr könnt!«

Während er weiterflog, hoffte er, dass sie begriffen hatten, wie ernst es ihm war. Sollten sie versuchen, sich in ihren Häusern zu verschanzen, würden sie sterben. Wie viele Dörfer gab es wohl, die noch nichts von der Bedrohung ahnten? Er konnte nicht überall landen, wo er in der Ferne Heimbäume sah. Er hätte die Leute bitten sollen, einen Boten zu ihren nächsten Nachbarn zu senden. Bei allen Alfaren! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Jetzt konnte er sich nur noch wünschen, dass sie selbst darauf kamen.

Als die Sonne den höchsten Punkt überschritten hatte, erreichte er einen Weiler, der aus lediglich drei Häusern bestand, und verkündete die schlechte Nachricht auch dort. Dieses Mal wies er die Leute an, die Warnung weiterzutragen, während Sturmlöwe aus dem Dorfteich trank und dabei eher mit Glück als Geschick einen Karpfen erwischte. Leones befand, dass der Greif vorerst genug gefressen hatte. Von größeren Brocken würde er nur müde und schwerfällig werden.

Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, zog er über der nächsten Ansiedlung nur ein paar Kreise und rief den Bewohnern seine Warnungen zu. Wenn er Sturmlöwe dazu bringen konnte, die halbe Nacht weiterzufliegen, würden sie Anvalon schon morgen erreichen. Bis Sonnenuntergang trug er die Nachricht in zwei weitere Dörfer, ohne dort zu landen. Das seit Tagen ungewöhnlich stille Wetter wurde ihm langsam ebenso unheimlich wie der ständige Dunst vor der Sonne. Fast wünschte er sich, gegen Regen und Wind ankämpfen zu müssen, nur um Gewissheit zu haben, dass zwischen dem Wetter und dem Erlöschen des Ewigen Lichts kein Zusammenhang bestand. Doch es zogen keine Wolken auf, keine Brise regte sich, nur hier und dort stieg mit der Dämmerung Nebel auf.

Sturmlöwe begann, gereizt zu grummeln. Er war müde und wollte landen. Stattdessen musste er die nachlassenden Aufwinde ausgleichen, indem er immer öfter mit den Flügeln schlug. Auch Leones wurden die Lider in der Dunkelheit schwer. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen, und die schwere Arbeit mit Axt und Säge steckte ihm ebenso in den Knochen wie die Schlacht. »Im nächsten Dorf rasten wir für die Nacht«, versprach er dem Greif und klopfte ihm aufmunternd die Schulter. Sturmlöwe brummte. Ob er ihn verstanden hatte, wussten nur die Götter.

Als der Mond aufging, kam zwischen den Hügeln ein See in Sicht. Das Wasser glänzte so sehr, dass Leones die mit Goldried gedeckten Dächer am Ufer übersehen hätte. Es waren die dünnen Rauchsäulen der Herdfeuer, die seine Aufmerksamkeit erregten. Nach der Sitte der Abkömlinge Ameas besaßen die aus Schilf geflochtenen Wände keine Fenster, und die Türen blieben bei Nacht geschlossen. Erst aus der Nähe sah Leones Licht durch die Ritzen schimmern.

Er landete auf einer der Plattformen zwischen den Pfahlhäusern, die aus dem Schilfgürtel aufs Wasser hinausragten. Hinter den Türen und Wänden hörte er Stimmen und die leisen Klänge einer Flöte. Das Lied klang so wehmütig, wie er sich fühlte, aber er wollte nicht daran erinnert werden – nicht jetzt. Bis er die Botschaft nach Anvalon und in seine Heimat getragen hatte, durfte er der Verzweiflung nicht nachgeben.

Um die traurige Melodie zu beenden, klopfte er an die Tür, hinter der sie erklang. Sofort brach das Lied ab, und mehrere Stimmen ertönten. Schritte näherten sich, dann wurde die Tür geöffnet. Gegen den Schein des Herdfeuers sah Leones kaum mehr als den Umriss eines Mannes, der das lange helle Haar im Nacken zusammengebunden hatte. Als der Fremde Leones’ Rüstung – und vielleicht auch das Schwert – bemerkte, strafften sich sogleich seine Schultern. Fast schon feindselig baute er sich vor Leones auf und versperrte den Eingang. »Was willst du?«

Warum dieser schroffe Ton? Noch nie war Leones so barsch empfangen worden. »Ich bin Grenzwächter und komme mit einer dringenden Warnung …«

»Noch so einer.« Der Stimme nach war der Fremde im Alter von Leones’ Vater. »Und wenn sie noch zehn Boten aus Anvalon schicken: Wir bleiben hier!«

Aus Anvalon? Hatte Theremons Nachricht an Uthariel den Rat bereits erreicht und so sehr beunruhigt? »Aber ihr müsst fliehen.« Rasch schätzte Leones, wie viel Vorsprung er mittlerweile hatte. »Sonst werden euch in …«

»Wir müssen gar nichts!«, fiel der Mann ihm ins Wort. »Hier ist unsere Heimat. Dienen jetzt nur noch Feiglinge und Verräter in der Wache, dass ihr alle weglaufen wollt?«

Es reicht! Leones’ Faust schoss vor, bevor er selbst wusste, dass er sie dem Kerl ins Gesicht rammen wollte. Vor Wut spürte er kaum, wie sie ans Kinn des Fremden prallte. Der Mann kippte rückwärts, fiel so schnell, dass er den Sturz kaum abfangen konnte. Es gelang ihm nur, nicht mit dem Kopf auf den Boden zu schlagen. Hinter ihm saßen andere ums Herdfeuer herum und starrten Leones fassungslos an.

»Es ist mir scheißegal, ob ihr flieht oder euch abschlachten lasst, aber wenn er mich noch einmal Verräter nennt, stech ich ihn ab!«

Athanor 4: Die letzte Schlacht

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