Читать книгу Athanor 4: Die letzte Schlacht - David Falk - Страница 7

4

Оглавление

Leones schleppte Sturmlöwe einen Eimer Wasser hinauf und setzte sich zu ihm. Der Greif trank wie eine Katze, indem er sich das Wasser mit der Zunge ins Maul löffelte. Es sah schrecklich umständlich aus und schien für die paar Tropfen, die in seinem Schlund ankamen, kaum den Aufwand zu lohnen, aber als Leones wieder hineinsah, war der Eimer fast leer. Grummelnd streckte sich Sturmlöwe auf dem Wehrgang aus und schlief augenblicklich ein. Seine Pranken zuckten, als ob er im Traum noch einmal nach der Mauerkrone hangelte.

Obwohl Die Faust vom Nordturm aus Wache hielt, ließ auch Leones den Blick über die mondbeschienene Landschaft schweifen. Hatten sich die Wiedergänger nur gegen einen vermeintlichen Angreifer verteidigt, oder waren sie ihnen gefolgt? Doch selbst wenn sie Sturmlöwe nachgelaufen waren, konnten sie im Sumpf nicht schnell vorangekommen sein. Für die Strecke, die der Greif zurückgelegt hatte, benötigte man zu Fuß sicher vier, vielleicht sogar fünf Tage.

Unten tappten Schritte über den Hof, dann klopfte jemand gegen Holz, und eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Leones bildete sich ein, Stimmen aus Theremons Arbeitszimmer zu hören, denn außer dem Ersten und dem Heiler waren nur Die Faust und er auf Nehora. Sicher ging es um Danaels Zustand. Hoffentlich wachte er bald auf. Unruhig erhob sich Leones und wanderte den Wehrgang auf und ab. Wie konnte ihm Theremon etwas so Ungeheuerliches unterstellen? Selbst wenn er gewusst hätte, wie man Untote beschwor, hätte er es niemals getan. Er war nicht Kavarath, nur zufällig entfernt mit ihm verwandt. Und doch hatte er sich an dessen Verschwörung beteiligt, hatte Kavaraths Gerede über die zu nachgiebige Erhabene geglaubt. Jetzt würde es ihm bis an sein Lebensende nachhängen. Sicher merkten die anderen, dass er lieber ihren Blicken auswich, als seine Unschuld zu beteuern. Das Lügen und Leugnen fiel ihm immer noch schwer. Aber dieses Mal hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Das musste der Erste ihm glauben.

Wieder klappte unten eine Tür. Leones blieb stehen und lauschte den Schritten, die sich der Treppe näherten. Am schlurfenden Gang erkannte er Perian. Ein gutes Zeichen. Hätte der Heiler dem Ersten Anlass dazu gegeben, wäre Theremon sicher selbst heraufgekommen, um ihn weiter zu verhören – oder hätte ihn sofort zu sich befohlen. Stattdessen betrat Perian mit einer Laterne den Wehrgang und klang für einen Grenzwächter schändlich kurzatmig.

»Geht es Danael besser?«, rief ihm Leones entgegen.

Bedauernd schüttelte der Heiler den Kopf. »Er schläft immer noch wie ein Stein. Aber mach dir keine Sorgen. Er scheint keine inneren Verletzungen zu haben. Wenn er aufwacht, wird er ganz der Alte sein.«

Leones wagte kaum zu fragen, doch Perians Tonfall hatte Raum für Zweifel gelassen. »Er wird aufwachen, oder?«

Zu seiner Überraschung zuckte Perian mit den Schultern. »Ich bin Heiler, kein Hellseher. Wenn du uns nichts über seinen Zustand verschwiegen hast …«

»Es gibt nichts zu verschweigen!«, fuhr Leones auf. »Bis kurz vor Nehora war er noch wach, verdammt!«

Sturmlöwe hob den Kopf und musterte ihn und den Heiler.

»Schon gut.« Beschwichtigend hob Perian die Hände, sodass ihm die Laterne direkt ins Gesicht schien. Geblendet ließ er sie wieder sinken. »Ich bin nur hier, um nach Sturmlöwe zu sehen.«

»Dann mach gefälligst deine Arbeit«, knurrte Leones. Seit zwei Tagen hatte er nicht geschlafen, um Danael sicher nach Nehora zu bringen, und zum Dank bekam er nichts als Verdächtigungen zu hören. Vielleicht sollte er die Grenzwache verlassen. Sie hatten ihn hier ohnehin nie gewollt.

Mit verschränkten Armen lehnte er sich gegen das Mauerwerk des Nordturms und sah zu, wie sich Perian neben Sturmlöwe hockte und ihm an verschiedenen Stellen die Hände auflegte. Wenn ihn Fremde berührten, fletschte der Greif für gewöhnlich die Zähne, doch bei den Heilern hielt er still. Er schien sie sofort an ihrer Ausstrahlung zu erkennen.

Wenn ich gehe, wird er auf seine alten Tage keinen neuen Reiter akzeptieren. Bis die Helfer von der Küste zurückkamen, würde Nehora dann ohne Greif und damit ohne Fernspäher dastehen. Das kann ich nicht machen. Nicht ausgerechnet jetzt. Nehora brauchte Sturmlöwe und ihn. Sie mussten herausfinden, was draußen in den Sümpfen vorging.

Leones atmete tief durch. Er würde es nicht für Perian oder gar den Ersten tun, sondern für die Elfen in den grenznahen Dörfern. Schließlich war er zur Wache gegangen, um sein Volk zu beschützen, und wenn sich immer neue Untote erhoben, schwebte es in größerer Gefahr denn je. Entschlossen stieß er sich von der Wand ab und kehrte zu Sturmlöwe zurück. Mit geschlossenen Augen kauerte Perian über dem Greif, der sich entspannt wieder auf dem Wehrgang ausgestreckt hatte. Schweigend blieb Leones stehen, um den Heiler nicht zu stören.

Nach einer Weile öffnete Perian die Augen und strich noch einmal über Sturmlöwes Fell. »Das war’s schon, alter Räuber.« Grinsend sah er zu Leones auf. »Nur ein paar Zerrungen oder so – und ein knurrender Magen.«

Lächelnd schob Leones seinen Ärger beiseite. »Schätze, den kann man nicht einfach so heilen.«

»Da unten liegen zwei Kaninchen, die ich im Gemüsegarten erwischt hab«, behauptete Perian und deutete zum Unterstand der Greife. »Na, zumindest das, was nach dem Abendessen noch von ihnen übrig war.«

Sturmlöwes Blick war dem Fingerzeig gefolgt, und zu Leones’ Überraschung erhob er sich und bewegte die Schwingen, als wollte er testen, ob es noch schmerzte. Erst dann stieß er sich ab und flatterte in den Hof hinunter. An den Kaninchenknochen hing vermutlich kaum noch Fleisch, aber es war besser als nichts.

»Scheint ihm wieder gut zu gehen. Danke.«

»Keine Ursache«, wehrte Perian ab. »Ich mag den alten Zausel. Er ist schlauer als die anderen.«

Leones nickte. »Er versteht mehr, als man glaubt.« Bevor er es unterdrücken konnte, verzog ihm ein Gähnen das Gesicht. »Wenn Theremon nicht nach mir verlangt hat, leg ich mich jetzt hin.«

»Er hat nichts dergleichen gesagt«, versicherte Perian und folgte ihm die Treppe hinab.

Leones war versucht zu fragen, was der Erste stattdessen von sich gegeben hatte, doch wenn es etwas Schlechtes gewesen war, würde Perian ihm ohnehin nicht die Wahrheit sagen. Also murmelte er nur »Gute Nacht!« und zog sich in sein Quartier zurück. Alles hier erinnerte ihn an Danael, mit dem er sich diese Kammer teilte, aber das war immer noch besser als ein misstrauischer Mitbewohner, der ihn jetzt womöglich mit Fragen gelöchert hätte. Es war jedoch mühselig, sich ohne Hilfe aus der grauen Rüstung zu schälen, deren einzelne Teile wiederum aus zahllosen lackierten Metallplättchen bestanden. Um die Schnallen und Bänder zu öffnen, musste er sich schmerzhaft verrenken. Als er sich endlich schlafen legen konnte, nahm er sich vor, schon bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen. Es gelang ihm immer, zum gewählten Zeitpunkt aufzuwachen, selbst mitten in der Nacht. Danael staunte jedes Mal wieder darüber, und Leones konnte nicht erklären, wie er es machte. Er schlug einfach im richtigen Moment die Augen auf.

Da die Kammer keine Fenster hatte, fiel nur durch die Ritzen der Tür etwas Licht, doch es genügte, um zu verraten, dass der Morgen angebrochen war. Auf dem Weg zur Latrine sah Leones bei Sturmlöwe vorbei, der sich brummend zusammenrollte und weiterschlief. Gähnend kam ihm Die Faust entgegen. Nach der langen Nacht auf dem Nordturm wollte sie wohl ins Bett. An ihrer Stelle stand nun Perian dort oben, obwohl auch er die halbe Nacht gearbeitet hatte. Sie waren einfach zu wenige für einen schonenderen Dienstplan.

Vor seiner Wache musste der Heiler auch das Frühstück gekocht haben, denn im Speisesaal fand Leones dampfenden Hirsebrei vor. Hungrig schaufelte er den Brei in sich hinein. Seine letzte Mahlzeit lag schon einen Tag zurück. Während er noch ein paar Kellen Birnenkompott hinunterschlang, kam Theremon herein. Leones verging sogleich der Appetit.

»Danael ist wach und hat deinen Bericht bestätigt«, eröffnete ihm der Erste. Kein Lächeln, keine Entschuldigung. Als ob es nichts zwischen ihnen zu bereinigen gäbe. »Wir müssen mehr über diese Untoten erfahren.«

»Soll ich zurück zum Fallenden Fluss fliegen?«, fragte Leones nüchtern, obwohl er Theremon lieber am Kragen gepackt und geschüttelt hätte, bis der Erste seinen Irrtum zugab. Doch das war undenkbar. Seinen Vorgesetzten rührte man nicht an.

»Später. Dein Greif sieht nicht einsatzbereit aus. Es hätte auch keinen Sinn, dass er sich tagsüber verausgabt. Schließlich stehen die Wiedergänger nur bei Dunkelheit auf.«

Im Hof erklang Hufschlag. Die Patrouille kehrte zurück.

»Sturmlöwe soll sich für einen Nachtflug erholen«, ordnete Theremon an und ging zu den Reitern hinaus.

Verärgert blieb Leones sitzen. Er wollte niemanden sehen. Sie hielten ihn ja doch alle für einen Verräter. Erst als er draußen niemanden mehr hörte, kehrte er in sein Quartier zurück, hängte sich den Köcher mit Pfeilen um und schnappte sich einen Bogen. Greife hassten Nachtflüge, aber Theremon hatte recht, also musste er versuchen, Sturmlöwe gnädig zu stimmen. Am besten brachte er ihm den versprochenen Hirsch.

Erst als er am Fuß des Hügels durchs Unterholz streifte, verrauchte seine Wut. Trotz des leichten Dunsts vor der Sonne leuchtete das Laub in Rot und Orange, den Farben der Abkömmlinge Piriths. Er genoss den Anblick und lauschte den Rufen der Vögel. In der Ferne erklang das Röhren eines Hirschs. Leones folgte den Lauten, bis er auf Spuren stieß. Die Fährte führte ihn zu einem Flickenteppich aus Lichtungen und Wald, wo die Brunft der Hirsche in vollem Gang war. Mit gesenkten Geweihen forderten sich die Rivalen heraus, prallten aufeinander und verhakten sich. Aufgeregt liefen die Jungtiere umher, während die Hirschkühe von den Siegern zusammengetrieben wurden. Für Gefahren hatten sie in ihrer Raserei keinen Sinn. Leones pirschte sich an einen der erschöpften Verlierer heran und schoss ihm aus nächster Nähe einen Pfeil ins Herz.

Im Stillen bat er das Sein um Vergebung und vergrub drei Eicheln, die er unterwegs aufgesammelt hatte, um als Ausgleich für das Töten neues Leben zu spenden. Außerdem ließ er den Schädel, das Geweih und die schweren Innereien für die Aasfresser zurück. Selbst ohne Eingeweide wog der Hirsch noch so viel, dass Leones bald ins Schwitzen geriet. Mit geschulterter Beute schleppte er sich zur Festung hinauf und dämpfte durch Magie sein inneres Feuer. Sturmlöwe sah ihm erwartungsvoll entgegen.

»Damit sind wir quitt«, keuchte Leones und warf ihm den Hirsch vor. Grollend, als müsste er die Beute verteidigen, schlug der Greif die Zähne in den Kadaver und zerrte ihn in eine ruhige Ecke. Ihm zuzusehen, hätte ihn nur noch mehr gereizt, deshalb ging Leones zum Badehaus, um sich zu waschen. Nachdem er den sichtbaren Dreck losgeworden war, befreite er sich mit Wasser, Salz und Rauch vom Hauch des Todes, der jedem erfolgreichen Jäger anhaftete. Zu diesem Zweck stand eine Schale mit Räucherwerk bereit. Die Grenzer töteten öfter, als unter Elfen erwünscht war, weshalb sie bei vielen kein hohes Ansehen genossen. Leones hatte sich daran gewöhnt, aber wenn er in der Heimat zu Besuch war, wurde er von einigen Leuten gemieden.

Erfrischt marschierte er über den Hof, wo Sturmlöwe mit blutverschmiertem Maul an seiner Mahlzeit zerrte. Es wurde Zeit, nach Danael zu sehen, bevor sein Kamerad glaubte, dass er ihm gleichgültig war. Als er sich dem Lazarett näherte, öffnete sich gerade die Tür. Bei seinem Anblick blieb Keatos auf der Schwelle stehen und musterte ihn mit hellen, graugrünen Augen. Leones wappnete sich gegen weitere Vorwürfe. Obwohl sie versuchten, es niemanden merken zu lassen, wusste jeder, dass Keatos und Danael ein Liebespaar waren. Leones fand dieses Versteckspiel albern, aber Liebeleien waren in der Wache nun einmal nicht erwünscht, weshalb alle so taten, als gäbe es sie nicht.

Da sich Keatos nicht rührte, blieb Leones vor ihm stehen. »Bist du auch krank?«, zog er ihn auf, obwohl Keatos’ Gesicht immer diesen Grünstich hatte.

Nachsichtig lächelte der Sohn Ameas. »Danael ist nicht krank, nicht einmal verwundet, und das verdankt er dir.« Unvermittelt reichte er Leones die Hand. »Er hat mir erzählt, wie du ihn gerettet hast. Dafür danke ich dir.«

Überrascht erwiderte Leones den festen Händedruck. »Das hätte doch jeder für einen Kameraden getan.«

»Das hoffen wir«, sagte Keatos, während er davonging. »Aber wir wissen es nicht.«

Wenn sich der Sohn Ameas bewegte, musste Leones stets an fließendes Wasser denken. Vielleicht lag es am Schimmern des silberblonden Haars, vielleicht auch an den seidigen Stoffen, aus denen seine Kleidung geschneidert war. Er wirkte weiblicher als Die Faust, doch neben der hageren Kriegerin sah fast jeder verweichlicht aus.

Achselzuckend wandte sich Leones ab und ging hinein. Danael saß aufrecht am Kopfende des Betts, wo jemand die Wand mit Kissen gepolstert hatte. Wasser und Obst standen in Reichweite, und es roch nach Kräutern und Tee. »Ah, Leones.« Der Sohn Heras schien sich wirklich zu freuen, ihn zu sehen. »Geht es dir gut?«

»Sollte ich das nicht fragen?«, gab Leones zurück.

Danael lächelte schief. »Die Faust hat mir von unserer … Landung erzählt. Ich hing mit meinem vollen Gewicht an deinem Arm. Der Ruck hätte dir die Schulter auskugeln können.«

Jetzt, da er darüber nachdachte, tat Leones die Schulter tatsächlich weh. Unwillkürlich bewegte er sie, um das Gefühl zu vertreiben. »Halb so schlimm.«

Danael nickte, sah aber nicht überzeugt aus. »Ich schulde dir was.«

Leones winkte ab. »Wir sind Grenzwächter. Wenn wir uns nicht gegenseitig den Hintern retten, wer dann?«

»Da ist was dran«, meinte Danael grinsend. Er schien darauf zu warten, dass Leones noch etwas sagte, doch Leones fiel nichts ein. Unbefangenes Plaudern gehörte nicht zu seinen Stärken.

»Der Erste hat mir eine Menge Fragen gestellt«, erzählte Danael schließlich.

Leones merkte auf. Erneut schien Danael auf etwas zu warten, das nicht geschah. Hatte Theremon offen über seine Anschuldigungen gesprochen? Hatte er gefragt, ob die Untoten Leones’ Werk waren?

»Ich habe ihm gesagt, dass dich keine Schuld am Verlust meines Greifs trifft. In den Sümpfen war es schon immer gefährlich.«

Leones nickte. Dass Danael ihn verteidigt hatte, freute ihn, doch an Theremons Feindseligkeiten würde es wohl nicht viel ändern. »Aber bislang gab es keine Wiedergänger.«

»Ich glaube, dass es Orks waren.«

»Orks?« Unwillkürlich sah Leones die Gestalten im Nebel wieder vor sich. Er hatte die groben, ungeschlachten Kerle für Menschen in Rüstungen gehalten, aufgeschwemmt und vom dunklen Moorwasser verfärbt. Selbst die Haut der theroischen Untoten war bräunlich gewesen, obwohl sie nur ausgetrocknet waren. Er schüttelte den Kopf. »Seit wann lauern Orks unter Wasser? Denk daran, wie lange sie Wildfang festgehalten haben. Ein Ork wäre längst ersoffen.«

»Ich rede von untoten Orks«, betonte Danael.

Leones erstarrte. War das möglich? Aber wenn sich Menschenleichen erhoben, warum dann nicht auch Orks? »Wahrscheinlich hast du recht. Du bist ein Sohn Heras. Du hast bessere Augen als ich.«

»Ich wünschte nur, ich hätte noch einen Greif, um der Sache auf den Grund zu gehen.« Echte Trauer um Wildfang huschte über Danaels Gesicht, bevor er Leones wieder ansah.

»Leones?« Die Faust warf einen suchenden Blick durch die Tür. »Du sollst alles für einen Spähflug vorbereiten«, richtete sie aus.

»Ich muss los«, sagte Leones.

»Pass auf dich auf!«, rief ihm Danael nach. »Und auf deinen Greif!«

* * *

»Gibt es einen Grund dafür, dass Ihr auf meinem Rücken auf und ab lauft wie eine Löwin im Käfig?«, erkundigte sich Akkamas. »Wenn Ihr so weitermacht, könnte ich dünnhäutig werden.«

»Entschuldigt, ich war in Gedanken«, antwortete Mahalea und blieb endlich stehen. Ihre Unruhe hatte auch an Athanors Geduld gezerrt, doch er wollte ihr mühsam errungenes Einvernehmen nicht für Kleinigkeiten riskieren. Allzu weit waren sie von Anvalon nicht mehr entfernt. In der Ferne ragten bereits die Berge auf, die wie ein Schutzwall wirkten und gegen den Giganten doch wirkungslos geblieben wären.

»Das Land verändert sich bereits«, sagte Mahalea wie zu sich selbst. »Obwohl das Ewige Licht erst vor zwei Tagen erloschen ist.«

»Was meint Ihr?« Athanor sah nur gewöhnlichen Wald.

»Die Bäume, sie verfärben sich.«

»Und das ist ungewöhnlich?« Herrschte in den Elfenlanden etwa ewiger Sommer, wie es die Legenden berichtet hatten?

»Es gibt immer ein paar Bäume, die sich in Herbstlaub kleiden, aber nie so viele und nie über Nacht. Wir haben so selten Schnee, dass sie ihre Blätter behalten. Sie werfen nur einen Teil ab – jedes Jahr an anderen Zweigen.«

»Und was hat das mit dem Ewigen Licht zu tun?«, erkundigte sich Akkamas.

»Aus dem Ewigen Licht strömte die Macht des Seins in unser Land. In seiner unmittelbaren Umgebung blühten die Pflanzen das ganze Jahr hindurch, und Früchte reiften selbst mitten im Winter …« Mahalea schien zu erschüttert, um weiterzusprechen.

Athanor begann zu begreifen, welche Schuld auf ihr lastete. Es war ihr nicht gelungen, die Katastrophe zu verhindern. Als Kommandantin hatte sie geschworen, die Elfenlande zu verteidigen, doch die Grenzwache war zu schwach, um diese Aufgabe zu erfüllen. Nun würden Schnee und Eis bei ihnen Einzug halten und die Gärten ihre überbordende Fruchtbarkeit verlieren.

»Man kann auch mit kahlen Bäumen und strengen Wintern überleben«, versicherte Athanor. »Wir Menschen haben das viele Jahrtausende lang getan.«

Mahalea warf ihm einen bitteren Blick zu. »Das ist es nicht allein. Auch wenn wir Heutigen vielleicht überleben können, wird es keine zukünftigen Generationen mehr geben. In ein paar Monden wird das letzte Kind geboren werden. Danach beginnt das Sterben.«

»Weil ihr glaubt, dass eure Seelen aus dem Ewigen Licht kamen?«, vergewisserte sich Akkamas.

»Wir glauben das nicht nur!«, fuhr Mahalea auf. »Es ist ein Kreislauf, der seit Anbeginn bestand. Unsere Seelen kommen aus dem Ewigen Licht, und dorthin kehren sie auch wieder zurück. Nur so können sie in einen neuen Körper geboren werden. Wer das Ewige Licht nicht erreicht, wird von den Seelenfängern in die Schattenwelt verschleppt, aus der es kein Entrinnen gibt. Dort verblasst die Seele, bis sie die letzte Erinnerung verlässt. Nichts bleibt von ihr übrig.«

»So ergeht es uns Menschen seit jeher, und dennoch wurden uns Kinder geboren«, gab Athanor zu bedenken.

»Elfen sind keine Menschen«, beschied ihm Mahalea knapp. »Ihr hattet nie ein Ewiges Licht.«

Athanor zuckte mit den Achseln. Wenn sie unbedingt schwarzsehen wollte, war das nicht sein Problem. Aber vielleicht hatte sie recht. Elfen waren keine Menschen. Sie lebten ungleich länger und wirkten eine Magie, die Menschenmagiern offenbar verschlossen blieb. Waren sie tatsächlich zum Aussterben verurteilt? Eine Spur Genugtuung konnte er nicht leugnen. Sie hatten wenig Mitgefühl für die Menschen gezeigt, doch durch das Eintreffen der Flüchtlinge gab es für Theroia wieder Hoffnung.

Akkamas stieß ein Grollen aus, das nach Bedauern klang. »Ich wünsche Eurem Volk, dass die Lage weniger verzweifelt ist, als sie scheint.«

Wortlos starrte Mahalea auf Anvalon hinab, während sie den Südpass überflogen. An den Hängen erhoben sich die schlanken, weißen Türme, in denen die Abkömmlinge Heras lebten. Sie liebten es, dem Himmel nah zu sein, und ihre Magie bewahrte die filigranen Gebäude vor Sturm und Verfall. Nicht weit von den Türmen entfernt wölbte sich die Kuppel der weißen Ratshalle. Obwohl es Abend wurde, standen dort viele Elfen beisammen. Einige entfernten sich jedoch in kleinen Gruppen, was darauf hindeutete, dass die Ratssitzung zu Ende war.

»Wo soll ich landen?«, fragte Akkamas.

»Bei Peredins Amtssitz«, antwortete Mahalea. »Ich muss mich für meine Abwesenheit im Rat entschuldigen«, setzte sie mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf Athanor hinzu, »und in Erfahrung bringen, was ich versäumt habe.«

Von oben sah der Palast der Abkömmlinge Ardas wie ein weiterer Wald zwischen den Gärten und Hainen des Tals aus. Nur das silbrige Laub der Bäume unterschied sich von dem der meisten anderen. Während die Abkömmlinge Piriths mit einem Dach aus poliertem Kupfer prunkten, das dank ihrer Magie niemals Grünspan ansetzte, und die Töchter und Söhne Ameas ihr Anwesen mit Goldried gedeckt hatten, wirkte Peredins Amtssitz geradezu schlicht.

Akkamas landete vor dem größten Tor. Im ersten Moment erschraken einige Elfen, doch dann erinnerten sie sich wohl daran, was sie über einen verbündeten Drachen gehört hatten. Dass Mahalea von seinem Rücken sprang, tat das Übrige. Aus Richtung der Ratshalle eilten jedoch aufgeregte Elfen herbei. Den braunen und grünen Gewändern nach zu urteilen, waren es Abkömmlinge Ardas, die an der Ratssitzung teilgenommen hatten.

»Was ist passiert?«, rief ihnen Mahalea entgegen.

Athanor erkannte Peredins Sohn, Beneleas, an der Spitze der kleinen Gruppe. Nur ein leichtes Hinken verriet, dass er beim Kampf gegen den Giganten verletzt worden war. »Der Hohe Rat ist im Streit auseinandergegangen.«

»Im Streit?«, empörte sich Mahalea. »Wie können sie sich ausgerechnet jetzt entzweien? Wir sind so angreifbar wie nie!«

»Es geht um eine heikle Frage«, gab Beneleas zu. »Ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll.«

»Wovon?«, hakte Mahalea nach.

»Mein Vater will die Elfenlande verlassen.«

* * *

Laurion spürte nur Wärme und ein leichtes Stechen in der Schulter, doch das Raunen der Dionier hinter seinem Rücken verriet ihm, wie schnell sich die Wunde unter der Hand des Heilers schloss. Auf der alten Ordensburg hatte ihm die Elfenmagie das Leben gerettet. Ohne Meriothins Hilfe wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, die Donnervögel zu rufen und ihnen damit die Zeit bis zu Akkamas’ Eingreifen zu erkaufen. Diese Heiler vollbrachten Unglaubliches. Sogar Nemera, die selbst an jenem Tag geheilt worden war, konnte die Augen nicht von diesen Wundern abwenden. Innerhalb weniger Augenblicke verwandelte sich das Loch in Emmos’ Arm in eine leicht gerötete Narbe. Schon bald würde sie kaum noch zu sehen sein.

Als Laurions Fieber sank, kehrte seine Kraft zurück. Erleichtert dankte er dem Elf, doch der ging wortlos davon. Er hatte wohl nur seine Pflicht erfüllt. Überhebliches Pack! Dass Laurion die eigene Magie neben der ihren minderwertig vorkam, machte es nicht besser.

»Keiner von ihnen kann alles zaubern.«

Verblüfft sah er zu Rhea hinab. Las sie etwa seine Gedanken?

»Jeder hat seine eigene besondere Magie. Genau wie wir.«

»Du bist sehr klug, Rhea«, lobte Laurion. »Aber ich will nicht, dass du ungefragt meine Gedanken mithörst. Das ist sehr unhöflich.« Kennt sie etwa auch meine Gefühle für Nemera?

»Aber …«

»Kein Aber. Stöber lieber in den Köpfen der Elfen! Dann wissen wir wenigstens, was sie vorhaben.«

»Dazu müsste ich aber meine Stirn an ihre legen. Soll ich?«

»Um Kaysas willen, nein!« Womöglich fühlten sich die Mistkerle sofort wieder bedroht. »Wir sollten uns einfach ruhig und unauffällig verhalten.«

Schmollend schob das Mädchen die Unterlippe vor, nickte dann aber doch. Immerhin zog ein Teil der Amea-Krieger ab und fuhr ernüchtert stromabwärts, gen Everea. Zurück blieben zwei Schiffe – eins, das Ameahim der Grenzwache geliehen hatte, und eins für die eigenmächtigen Krieger, die sich weigerten umzukehren. Einige Grenzwächter waren zu Pferd unterwegs und zwei sogar auf Greifen. Mit den großen Adlerköpfen und ihren breiten Schwingen erinnerten sie Laurion an Donnervögel, doch die Körper und Beine ähnelten denen von Löwen. Ob ihre Reiter mit ihnen sprachen, wie er sich mit den Donnervögeln verständigte? Wenn die Elfen nicht so abweisend gewesen wären, hätte er sie gern dazu befragt.

»Du, Sohn Thalas«, blaffte der Anführer der Grenzwächter Mahanael an. »Wie hast du die Schiffe gegen den Strom vorwärtsgebracht?«

»Mit Windmagie«, erwiderte Mahanael knapp. Seine Miene verriet nicht, was er über den rothaarigen Elf dachte, dessen golden glänzende Augen wie die eines Drachen aussahen.

»Kannst du damit weitermachen? Ich will nicht noch mehr Abkömmlinge Ameas um Hilfe bitten müssen«, gab der Grenzwächter zu. »Ich traue ihnen nicht genug.«

Mahanael nickte ernst. »Eine Weile kann ich den Zauber noch aufrechterhalten.«

»Aber keine Tricks!«, warnte der Drachenäugige. »Zwei von meinen Leuten werden die Boote steuern, und die Menschen teilen wir unter …«

Laurion hörte nicht mehr zu, denn Rhea zerrte heftig an seiner Robe und deutete zu den Schiffen. Während die Blicke der Elfen auf ihren Anführer und die Gefangenen gerichtet waren, hatte sich hinter ihnen eine einsame Gestalt erhoben und einen Speer von der Kemethoë geholt. Die Locken, die wie zornige Schlangen von seinem Kopf abstanden, verrieten Mentes. Mit erhobener Waffe rannte er stumm auf die Amea-Krieger zu.

»Vorsicht!«, schrie Laurion und zeigte auf den Wiedergänger. Verwundert wandten sich die Elfen um. Zu spät. Der Krieger, der Mentes am nächsten stand, drehte sich zwar mit gezückter Klinge um, doch schon steckte die Speerspitze in seiner Kehle. Überrascht brüllten und schrien plötzlich alle durcheinander. Etliche Gegner stürzten sich auf Mentes. Ihre Waffen fuhren in den untoten Leib, hinterließen klaffende Wunden, aber kein Blut rann heraus. Ungläubig beobachteten die Grenzwächter das Gemetzel. Mentes war nun so dicht umringt, dass er den Speer nicht mehr einsetzen konnte. Er ließ ihn fallen und rang mit einem der Gegner um dessen Schwert. Als ob es die Klingen und Speerspitzen in seinem Körper nicht gäbe, biss er dem entsetzten Elf in den Arm.

Dieser Wahnsinnige! Sie werden uns alle umbringen! »Wir können nichts dafür«, beteuerte Laurion dem Drachenäugigen. »Er will sich nur an seinen Mördern rächen.«

Der Elf betrachtete ihn skeptisch, aber vielleicht glaubte er ihm doch. »Einen Ring um die Gefangenen!«, fuhr er seine Leute an. »Bildet einen Ring! Niemand setzt sich über den Befehl der Kommandantin hinweg! Du bleibst bei mir«, beschied er Laurion und zerrte ihn am Ärmel mit sich, fort von Rhea und den anderen.

Glaubt er etwa, dass ich Mentes aufhalten kann? »Er ist ein Wiedergänger. Ich kann da nichts tun!«

Der Untote hatte dem Gebissenen die Waffe entwunden und holte mit der Klinge zum Hieb aus. Mit ihrem Schild warf sich eine Kriegerin zwischen Mentes und sein Opfer. Krachend prallte das Schwert auf den Schildkrötenpanzer, der deutlich sichtbare Sprünge bekam.

»Wie kann er ein Wiedergänger sein?«, herrschte der Grenzwächter Laurion an. »Es ist heller Tag!«

»Das stört sie neuerdings nicht mehr. Ich weiß auch nicht, warum.«

Mit einem Knurren blieb der Drachenäugige stehen. »Weg da!«, brüllte er die Amea-Krieger an. »Wollt ihr euch alle umbringen lassen? Der Kerl ist tot!«

Feindselige Blicke richteten sich auf ihn und Laurion. Wer nicht an den Wiedergänger kam, wandte sich ihnen zu.

»Mentes!«, schrie Laurion. »Hör sofort auf! Ich verstehe ja, dass du sauer bist, aber sollen wir deshalb alle sterben?«

Der Untote wütete ungerührt weiter.

»Er hört nicht auf mich.«

»Das sehe ich selbst«, schnappte der Grenzwächter. »Zurück von dem Wiedergänger, zurück! Ihr werft nur eure Seelen weg!« Der Blick der Drachenaugen verschleierte sich. Im ersten Moment fürchtete Laurion, der Elf wäre getroffen, und rechnete mit dem gleichen Schicksal für sich. Es waren genügend Schwerter und Speere auf ihn gerichtet. Doch schon loderte eine grelle Flamme aus Mentes’ zerlumptem Gewand. Erschrocken wichen seine Gegner zurück. Das weiße Feuer fraß sich zischend in den lebenden Leichnam. Mentes warf sich zu Boden, wälzte sich im Gras, aber es half nichts. Neues Feuer loderte in seinem widerspenstigen Haar. Immer schneller breiteten sich die Flammen aus. Der Gestank nahm Laurions Kehle in würgenden Griff. Er presste die Hand auf den Mund und wandte sich ab. Vielleicht war es doch ein Segen der Urmutter gewesen, dass er die Schlacht gegen die Drachen verschlafen hatte.

»Der Wiedergänger hat zwei von uns getötet!«, rief jemand. »Da seht ihr, wie gefährlich die Menschen sind!«

»Versenken wir sie im Fluss, bevor sie noch mehr anrichten können!«

Hasserfüllte Mienen wandten sich Laurion zu. Neben ihm riss der Grenzwächter die Arme empor und klopfte hektisch mit einer Hand aufs Gelenk der anderen. Warum zog der Narr nicht lieber sein Schwert? »Dieser Mensch hat uns vor dem Angriff gewarnt!«, rief er stattdessen. »Runter mit den Waffen! Wer gegen das Sein frevelt, erntet das Nichts!«

In den Mienen einiger Gegner regte sich Zweifel, doch andere kamen bedrohlich näher.

»Überlass ihn uns, dann verschonen wir dich«, knurrte der Krieger in der perlmuttverzierten Rüstung.

Endlich zog auch der Drachenäugige die Klinge. »Ich werde meine Seele zu verteidigen wissen, Frevler.«

»Seid ihr wahnsinnig, Elfenblut vergießen zu wollen?«

Weitere Stimmen erhoben sich, doch sie gingen im Rauschen großer Schwingen unter. Wie ein riesiger Stein fiel der Greif mit einem Adlerschrei vom Himmel. Ein Prankenhieb schleuderte die Waffe des Amea-Kriegers davon. Neben Laurion wirbelte der Grenzwächter auf dem Absatz herum, bevor ihnen jemand in den Rücken fallen konnte. Ein zweiter Greif kreiste über Freund und Feind. Der Reiter auf seinem Rücken zielte mit einem Pfeil in die Menge. Grenzwächter auf Pferden trieben ihre Tiere zwischen die Flüchtlinge und die Amea-Krieger.

»Waffen runter! Wird’s bald!«, brüllte der Drachenäugige.

Widerstrebend kamen auch die grimmigsten Gegner der Aufforderung nach.

»Mir reicht’s mit euch! Ich mag euch nicht verbieten können, uns zu verfolgen, aber ihr werdet Abstand halten. Und du …« Er wandte sich an den Wortführer, der mit abwehrend erhobenen Händen vor dem drohenden Greif stand. »… bist verhaftet wegen Angriffs auf einen Grenzwächter. Über dein Schicksal soll der Hohe Rat in Anvalon entscheiden.«

Zornig ballte der Krieger die Fäuste.

Jetzt sollte der Kerl auch noch mit ihnen fahren? Laurion wünschte, der Greif hätte den Elf zerfetzt. Wie wollten die Wächter ihn am Zaubern hindern? Ein Magier blieb selbst in Fesseln gefährlich.

Athanor 4: Die letzte Schlacht

Подняться наверх