Читать книгу Athanor 4: Die letzte Schlacht - David Falk - Страница 8

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Peredin schien über Nacht gealtert. Vermutlich hatte er seit dem Angriff des Giganten nicht mehr geschlafen. Seine Wangen sahen eingefallen, seine Haare grauer aus. Müde scheuchte er sein Gefolge mit einer Handbewegung von der Schwelle des Empfangssaals. »Wir sprechen morgen weiter. Ich werde mich jetzt mit der Kommandantin und unseren Gästen beraten.«

Zufrieden beobachtete Athanor, wie sich die meisten Abkömmlinge Ardas zurückzogen. Je kleiner die Runde blieb, desto eher fand er bei Peredin Gehör.

Nur Beneleas stand noch an der Tür. »Gilt das auch für mich, Vater?«

»Brauchst du denn nicht etwas Ruhe?«, fragte der Erhabene besorgt. »Du warst schwer verwundet. Innere Verletzungen und ein zertrümmertes Bein«, fügte er an seine Gäste gewandt hinzu. »Ich fürchtete um sein Leben.«

»Der Heiler sagt, dass er morgen die letzten Spuren beseitigen wird«, wehrte Beneleas ab und hinkte in den Saal.

»Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum«, forderte Mahalea. »Bedauerlicherweise musste ich der Ratssitzung fernbleiben, da Freunde unserer Gäste …« Sie deutete auf Athanor und Akkamas. »… einen Streit zwischen der Grenzwache und bewaffneten Söhnen und Töchtern Ameas auslösten. Ich hoffe, dass dieser Zwist vorerst beigelegt ist, bis wir Zeit haben, uns seiner Gründe anzunehmen. Sprechen wir also darüber, was im Rat vorgefallen ist.«

Der Erhabene seufzte. »Ich bewundere Eure Tatkraft, Kommandantin, aber lasst mich wenigstens einen Anschein von Höflichkeit wahren. Bitte, verehrte Freunde, nehmt Platz und bedient Euch.« Er wies auf die im Raum verteilten Bänke und die kleinen Tische, auf denen Gebäck und Früchte und Krüge mit Wasser und Wein bereitstanden. »Niemand muss diese Unterredung im Stehen verbringen.«

»Ein Angebot, das ich dankend annehme«, erwiderte Akkamas und deutete eine Verneigung an. »Mir steht der Sinn heute nicht mehr nach Bewegung.«

Athanor musste trotz allem grinsen. »Du hattest ja auch die ganze Arbeit, während wir zum Herumsitzen verdammt waren.«

»Ich bin zu aufgebracht, um mich zu setzen«, gab Mahalea zu. »Euer Sohn deutete bereits an, dass Ihr den Rat mit einer unfassbaren Forderung konfrontiert habt.«

»Unfassbar, ja«, seufzte der Erhabene und ließ sich auf einer mit Kissen gepolsterten Bank nieder, um erschöpft gegen die Lehne zu sinken.

Rasch reichte sein Sohn ihm einen Becher Wein. »Mir scheint, dass Ihr es seid, der Ruhe bräuchte.«

»Das ist wahr, Beneleas, aber ich bin der Erhabene, und es ist meine Aufgabe, in dieser schweren Stunde einen Ausweg zu finden. Ich muss die Kommandantin in dieser Angelegenheit hören, bevor ich morgen wieder versuchen kann, den Rat zu überzeugen.«

Athanors Hoffnung, noch an diesem Abend eine Entscheidung über das Schicksal der Flüchtlinge erwirken zu können, schwand. Wenn Peredin wirklich erwog, die Elfenlande aufzugeben, war das ein so ungeheuerlicher Vorschlag, dass er die Elfen noch Tage oder gar Monde beschäftigen würde. Doch er fürchtete, dass weder ihnen noch den Flüchtlingen so viel Zeit blieb.

»Ihr wisst sicher, was die Zerstörung des Ewigen Lichts für uns bedeutet«, begann der Erhabene heiser. »Die vergangene Nacht habe ich damit verbracht, nach Auswegen zu suchen, doch alles, was mir einfiel, war nicht mehr als Wunschdenken – oder die vage Hoffnung auf etwas, das wohl niemals eintreten wird. Ich gestehe, dass ich heute Morgen verzweifelt war. Zum ersten Mal, seit ich Erhabener bin, ging ich in den Rat, ohne eine Strategie oder gar eine bestimmte Entscheidung ins Auge gefasst zu haben. Um von meiner Hoffnungslosigkeit abzulenken, bat ich die anderen Ratsmitglieder um Vorschläge, damit wir darüber diskutieren und am Ende abstimmen könnten.« Peredin nahm einen Schluck aus seinem Becher. Die lange Ratssitzung hatte seiner Stimme merklich zugesetzt.

»Dann war es nicht Euer Einfall, die Elfenlande zu verlassen?«, erkundigte sich Mahalea.

Der Erhabene lächelte. »Nein. Der Vorschlag kam aus Eurem Volk. Astarion wagte es, uns an die Existenz der Söhne und Töchter Chions zu erinnern.«

Die Kommandantin schien zu überrascht, um etwas zu erwidern. Ihr Blick verriet, dass sie Peredin nicht mehr wahrnahm. Wer waren diese Abkömmlinge Chions? In Athanors Gegenwart hatte sie nie jemand erwähnt. Handelte es sich um verachtete Bastarde wie die Töchter und Söhne Thalas, deren Existenz in Anvalon ebenfalls totgeschwiegen wurde? Mahanael hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Abkömmlinge Thalas darüber verbittert waren. »Noch ein Elfenvolk, das nicht im Rat vertreten ist?«, stichelte Athanor deshalb.

»Die Abkömmlinge Chions sind kein eigenes Volk«, wehrte Peredin sogleich ab. »Ihrer Abstammung nach sind sie Söhne und Töchter Piriths, aber als Abtrünnige haben sie das Recht verwirkt, diesen Namen zu tragen.«

»Warum habe ich nie zuvor von ihnen gehört?«, beschwerte sich Beneleas.

»Unsere Wege haben sich am Ende des Vierten Zeitalters getrennt«, erklärte sein Vater. »Wenn ich nicht vor Jahren im Archiv des Rats darauf gestoßen wäre, wüsste ich selbst nichts darüber.«

»Dann leben sie also nicht in den Elfenlanden«, folgerte Athanor. »Und wenn sie es geschafft haben, ohne das Ewige Licht zu überleben, dann wollt Ihr von ihnen lernen, wie das möglich ist.«

Peredin schüttelte den Kopf. »Wenn es so einfach wäre, hätte es im Rat weniger Streit gegeben. In unserer Lage hätte niemand ernsthaft ablehnen können, eine Gesandtschaft nach Norden zu schicken, auch wenn die Abkömmlinge Chions Frevler sein mögen.«

»Die Frage ist, ob eine Gesandtschaft jemals zurückgekehrt wäre«, vermutete Mahalea. »Nach allem, was ich aus den Aufzeichnungen meiner Vorgänger weiß, kann man diesen Abtrünnigen nicht trauen.«

»Ihr besitzt in Uthariel Schriften über sie?«, staunte der Erhabene. »Dann wisst Ihr vielleicht mehr als ich.«

»Das bezweifle ich. Im Grunde handelt es sich nur um Auflistungen der Gefahren, mit denen sich die Grenzwache konfrontiert sehen könnte. Jeder Kommandant ergänzt sie um seine Erfahrungen. Was die Töchter und Söhne Chions angeht, ist dort verzeichnet, dass es sich um Frevler wider das Sein handelt, die nicht vor Mord an Angehörigen des eigenen Volks zurückschrecken. Ich weiß nicht mehr, welcher meiner Vorgänger diesen Abschnitt verfasst hat, aber die eindringliche Warnung ist mir im Gedächtnis geblieben. Sein Rat an alle Grenzwächter lautete, niemals einem Abkömmling Chions den Rücken zuzuwenden.«

»Dann kommt es also gelegentlich zu Begegnungen?«, erkundigte sich Akkamas.

»Nein. Der Vermerk lag mindestens zwei Jahrtausende zurück, und seitdem wurde er von keinem Kommandanten mehr aufgegriffen.«

»Woher wollt Ihr dann wissen, dass es dieses Volk überhaupt noch gibt?«, wandte sich Akkamas an Peredin.

»Wir wissen es nicht«, gab der Erhabene zu. »Aber für Astarions Vorschlag spielt es keine Rolle.«

»Das verstehe ich nicht«, gestand Mahalea. »Worauf wollt Ihr hinaus?«

»Erzählt uns die ganze Geschichte, Vater«, bat Beneleas und schenkte Peredin noch einmal nach, bevor er sich ebenfalls setzte. »Im Rat schlugen die Wogen so hoch, dass ich kaum noch etwas verstand.«

»So weit sie mir überhaupt bekannt ist, will ich das gern tun«, versicherte sein Vater. »Die Wurzeln des Streits reichen bis in den Krieg zurück, der uns am Ende des Vierten Zeitalters die Vorherrschaft über die Welt kostete. Dies wurde auch in dem alten Ratsbeschluss angedeutet, aber leider nicht weiter ausgeführt. Als Astarion heute darauf zu sprechen kam, zitierte ein Gelehrter der Abkömmlinge Ameas aus einer Chronik, in der die Bewohner des Nordens als Verräter an allen Elfenvölkern bezeichnet werden. Aber leider wissen wir nicht, worum es dabei ging. Der Ratsbeschluss selbst bezieht sich auf spätere Frevel, die von den Verrätern begangen wurden. Darüber konnten wir allerdings gar nicht mehr sprechen, weil der Gelehrte betonte, dass es sich bei den Abkömmlingen Chions um Söhne und Töchter Piriths handelt.« Peredin seufzte. »Sofort ist wieder der Streit um Kavaraths Mitwisser ausgebrochen, weil wir sie immer noch nicht anklagen konnten. Einige Ratsmitglieder werfen den Abkömmlingen Piriths jetzt vor, auf eine Tradition des Verrats zurückzublicken und deshalb kein Vertrauen mehr zu verdienen. Ich befürchte, dass nun Gerüchte umgehen, dass sie auch hinter der Zerstörung des Ewigen Lichts stecken. Die Vertreter der Abkömmlinge Piriths haben sich zurecht darüber empört, aber die Frage hat die Gemüter so sehr erhitzt, dass ich die Wogen nicht mehr glätten konnte. Am Ende haben sie aus Protest den Saal verlassen, und ich kann nur hoffen, dass Astarion sie bis morgen umzustimmen vermag. Die Debatte ist auch ohne diese Querelen noch schwierig genug.«

Athanor nickte. Nachdem sein eigenes Volk durch Verrat vernichtet worden war, konnte er das Misstrauen gegenüber den Abkömmlingen Piriths nur zu gut verstehen. Doch ein ganzes Volk für die Intrigen einer einzigen Familie zu verurteilen, war ungerecht und stand dem Frieden im Weg. »Diese Vorwürfe werden den Zusammenhalt der Abkömmlinge Piriths verstärken. Solange sie von außen angegriffen werden, werden sie sich gemeinsam verteidigen.«

»Anfangs hatte ich gehofft, dass die Anschuldigungen einen Keil zwischen die Aufrichtigen und die Verräter treiben würden«, gestand Peredin. »Aber Ihr habt recht. Wir warten seit Monden umsonst darauf, dabei sollten die Aufrichtigen ebenso verunsichert sein wie wir.«

»Allerdings«, stimmte Mahalea ihm zu. »Wie kann man noch Tür an Tür oder gar unter einem Dach leben, wenn man nicht weiß, wer an Kavaraths Komplott beteiligt und für den Tod so vieler Elfen mit verantwortlich war? Ich würde keinen Schlaf mehr finden, bis ich es herausgefunden hätte.«

Beneleas sprang auf. »Dann sollen wir nichts mehr dazu sagen, bis sie geruhen, uns die Verräter von selbst auszuliefern? Sie haben eine Erhabene ermordet! Wer sagt uns, dass meinem Vater nicht dasselbe Schicksal droht?«

»Mäßige dich, Beneleas!«, forderte Peredin. »Kavarath war der skrupellose Intrigant hinter diesen Taten. Die Trolle haben ihn dafür gerichtet. Ivanaras Mörder starb sogar am Ort seines Verbrechens – von der Hand der Kommandantin. Beide haben ihre Verfehlungen also mit dem Leben – und vermutlich auch ihrer Seele – bezahlt. Diese abschreckenden Beispiele dürften genügen, um ihre Mitwisser von weiteren Bluttaten abzuhalten.«

»Das hoffen wir, Erhabener«, sagte Mahalea, »aber ich habe auch Verständnis für Beneleas’ Bedenken.«

»Wir haben jetzt dringlichere Sorgen«, wehrte Peredin ab.

Widerstrebend setzte sich sein Sohn wieder und nahm einen Schluck Wein.

»Ich habe Euch nur von dem Streit erzählt, damit Ihr wisst, was im Rat vorgeht. Von Euch erwarte ich, dass Ihr mir helft, diesen unseligen Disput zu vertagen, bis wir unser Überleben gesichert haben.«

Mahalea nickte. »Diese Frage hat selbstverständlich Vorrang. Aber wie sollen uns nun ausgerechnet diese Abtrünnigen helfen?«

»Während des Vierten Zeitalters lebten Elfen über ganz Ardaia verstreut«, erklärte der Erhabene.

»Selbst jenseits des Ozeans?«, wollte Athanor wissen. Der Sphinx, von dem er zum Kampf gegen den Riesen beim Turm der Vergessenen Götter gezwungen worden war, hatte von einstigen Elfenstädten erzählt, deren Ruinen aus dem Wüstensand ragten.

»Nicht in Dion«, antwortete Akkamas. »Aus meinem Land zogen sie sich bereits am Ende des Dritten Zeitalters zurück, als der Krieg der Astare nur Sand und Asche hinterließ. Zumindest wurde es mir so von meinen Vorfahren überliefert, und ich neige dazu, ihnen zu glauben«, fügte er mit einem Lächeln an Peredin hinzu. »Aber jenseits der Donnerberge mag es anders ausgesehen haben.«

»Ich bin sicher, dass Ihr die Geschichte Eurer Heimat besser kennt als ich«, sagte der Erhabene gelassen. »Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass das Vierte Zeitalter das Zeitalter der Elfen genannt wird, weil wir damals das größte und mächtigste Volk Ardaias waren.«

Akkamas nickte. »Dem wollte ich keineswegs widersprechen.«

»Was hat das jetzt alles mit den Abkömmlingen Chions zu tun?«, fragte Beneleas ungeduldig.

»Ich weiß, worauf Ihr hinauswollt«, vermutete Mahalea. »Wenn Elfen überall auf der Welt gelebt haben, waren sie zu weit von unserem Ewigen Licht entfernt, um im Alter hierher in die Elfenlande zu pilgern.«

»So ist es«, bestätigte Peredin. »Es muss auch für sie ein Ewiges Licht in erreichbarer Nähe gegeben haben. In einigen alten Liedern ist noch die Rede davon, weshalb sich Astarion daran erinnert hat. Ich hätte gern den Hüter unseres Ewigen Lichts dazu befragt, doch wie Ihr mir berichtet habt, wurde er bei dem Angriff des Giganten getötet, und seine Gefährtin ist verschwunden.«

»Soll ich nach ihr suchen lassen?«, bot Mahalea an. »Oder nach einem anderen Alfar?«

»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit. Und Eure Leute haben mit der Lage an der Küste und der Sicherung unserer Grenzen mehr als genug zu tun.«

»Und nicht einmal diese Aufgabe vermögen sie zu erfüllen.« Der Satz hing so deutlich unausgesprochen in der Luft, dass Athanor nicht sicher war, ob Peredin ihn vielleicht doch gesagt hatte.

»Dann wollt Ihr also nach dem Ewigen Licht suchen, in dessen Nähe diese Abkömmlinge Chions leben«, schloss Akkamas daraus.

»Mehr noch«, erwiderte der Erhabene. »Ich will mein Volk dort hinführen. Hier haben wir keine Zukunft mehr. Dort vielleicht schon.«

»Aber die Elfenlande sind unsere Heimat!«, protestierte Beneleas. »Wir können sie doch nicht einfach so aufgeben!«

»Glaubst du, mir würde nicht auch das Herz bluten?«, fragte Peredin. »Unsere heiligen Stätten, unsere Häuser und Gärten, alles, was uns nährt und schützt, befindet sich hier. Aber welchen Sinn soll das Leben hier noch haben, wenn deine Generation die letzte sein wird?«

In ohnmächtigem Trotz ballte Beneleas die Fäuste. Gegen die Worte seines Vaters gab es keinen vernünftigen Einwand, nur die Angst vor dem Unbekannten und tiefen Schmerz. Athanor wandte sich ab. Er verstand Beneleas’ Gefühle. Er hatte denselben inneren Kampf bei Nemera gesehen. Und wenn er es in einsamen Momenten zuließ, spürte auch er den Verlust seiner Heimat. Das Verlorensein unter fremden Völkern und Himmeln. Obwohl er sich selbst eine Mitschuld dafür geben musste, hatten ihm die Drachen alles geraubt, was ihm lieb und vertraut gewesen war. Sollte ein Volk nach dem anderen dasselbe Schicksal erleiden? Es sah ganz danach aus. Würden als Nächstes die Trolle ihre angestammten Hügel verlassen? War Orkzahn deshalb hier?

Athanor blickte durch eines der hohen Bogenfenster nach draußen. Das Geflecht aus magisch geformten, steinernen Ranken, mit dem die Abkömmlinge Ardas ihre Räume vor Wind und Regen bewahrten, gewährte erstaunlich gute Sicht auf den Garten. Obwohl die Sonne bereits versunken war, reichte das Zwielicht noch aus, um Orkzahn zu entdecken. Der Troll saß hinter einem flachen, aber breiten Erdhaufen, aus dem an einigen Stellen Rauch aufstieg. Offensichtlich war er allein, und für den Moment wollte Athanor nicht einmal wissen, was sein Freund da im Garten trieb. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder Beneleas zu, der versuchte, Peredin davon zu überzeugen, dass es Irrsinn war, die Elfenlande zu verlassen.

»Wir wissen doch überhaupt nicht, was uns im Norden erwartet«, warnte der junge Elf.

»Auf jeden Fall ein langer, eisiger Winter«, prophezeite Athanor.

»Nach allem, was ich heute gesehen habe, dürfte uns die Kälte jedoch auch hier ereilen«, hielt Mahalea dagegen.

»Aber hier haben wir unsere Häuser und Vorräte!«, wandte Beneleas zu recht ein.

»Und wir wissen nicht, ob uns die Zwerge gestatten werden, ihre Reiche zu durchqueren«, gab Mahalea zu bedenken. »Nachdem Davaron in die Schatzkammern Firondils einbrechen wollte, sind sie schlechter denn je auf uns zu sprechen.«

»Zwerge kann man leicht besänftigen«, behauptete Akkamas. »Opfert ihnen alles, was Ihr an Gold und Edelsteinen besitzt, und sie werden so damit beschäftigt sein, die Reichtümer unter sich aufzuteilen, dass Ihr unbeachtet weiterziehen könnt.«

Athanor schwankte zwischen Belustigung und dem Drang, seinen Freund Vindur zu verteidigen. »Dasselbe würden die Zwerge über Drachen sagen«, spottete er.

Müde rieb sich Peredin das Gesicht. »Wie soll ich die Bedenken eines ganzen Rats zerstreuen, wenn ich nicht einmal meinen eigenen Sohn überzeugen kann?«

»Dann lasst es bleiben!«, rief Beneleas. »Warum sollten wir eine ungewisse Zukunft in unserer Heimat gegen die sicheren Gefahren dieser Reise eintauschen?«

»Weil sich die Lage immer weiter zuspitzen wird!«, entfuhr es Athanor. »Eure Elfenlande sind kein Bollwerk gegen die Dunkelheit mehr! Wie viele Flutwellen und Giganten brauchst du, um das zu kapieren?«

»Du bist nur ein Mensch!«, fuhr Beneleas auf. »Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen!«

»Aber dein Vater hat es«, blaffte Athanor. »Und allmählich sollte er es tun.«

»Wir sind keine Menschen, die sich von ihrem König herumkommandieren lassen. Wir denken selbst!«

»Dann fang endlich damit an!« Am liebsten hätte Athanor ihn am Kragen gepackt und geschüttelt, bis er Peredins Argumente endlich verstand.

Der Erhabene hob mahnend eine Hand. »König Athanor ist unser Freund und Verbündeter. Ohne ihn würden wir vielleicht schon jetzt in den Trümmern dieses Hauses sitzen, deshalb wünsche ich …« Ein plötzliches Rumpeln unterbrach ihn.

Von einem Lidschlag auf den anderen bebte der Boden unter Athanors Füßen. Instinktiv suchte er Halt an der Saalwand und spürte sie ebenfalls wanken. Über ihm raschelte das Laubdach wie im Sturm. Im gefliesten Boden öffneten sich Risse, doch einen Lidschlag später stand alles wieder still. Ungläubig sah er sich um. Wer gesessen hatte, war aufgesprungen, und Akkamas blickte ihn ebenso verblüfft an wie Peredin und Beneleas.

Einzig Mahalea wirkte gefasst. »Nun bebt die Erde also auch hier.«

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Athanor und sah alarmiert aus dem Fenster. Aufgeschreckte Elfen flohen aus anderen Türen in den Garten. »Nähert sich etwa ein weiterer Gigant?«

»Ich habe Späher ausgesandt, die uns sicher davor gewarnt hätten, wenn es so wäre«, antwortete die Kommandantin. »Ich weiß nicht, was diese Beben zu bedeuten haben, aber an der Grenze zu den Trollhügeln kamen sie bereits mehrmals vor.«

»Es kann nur ein Vorzeichen weiteren Unheils sein«, befand Akkamas ernst. »Als Gast mag es mir nicht zustehen, mich in Eure Angelegenheiten einzumischen, aber ich muss dem Kaysar zustimmen. Ihr seid hier nicht mehr sicher.«

Beneleas schien zu erschüttert, um etwas zu erwidern, doch Mahalea nickte. »Diese Entscheidung wird keinem von uns leicht fallen. Auch ich bin innerlich zerrissen, aber die Grenzwache hat diesen Kräften nichts entgegenzusetzen. Welchen Sinn hat es, hier bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, wenn wir dabei unsere Seelen verlieren? Sosehr es mich auch schmerzt: Ich werde für den Plan des Erhabenen stimmen.«

* * *

Leones eilte mit Rhayuna über den Hof, um sich auf den nächsten Flug vorzubereiten. »Würdest du mir mit der Rüstung helfen?«

»Willst du dir nicht endlich etwas Praktischeres zulegen?«, erwiderte Die Faust und deutete auf ihren gesteppten Mantel, der fast bis zu den Knien reichte. Durch mehrere Schlitze bot er genügend Bewegungsfreiheit, um zu kämpfen, zu klettern oder einen Greif zu reiten, aber wehrhaft sah die Rohseide nicht gerade aus.

»Nein danke, Rhayuna. Ich weiß, dass dein Volk irgendwelche Zauber in diesen Stoff webt, aber … sobald eine Klinge auf mich zurasen würde, käme ich mir darin nackt vor. Es ist nur Seide!«

Die Faust lachte auf. »Wenn Pfeile meiner Haut so wenig anhaben könnten wie diesem Mantel, würde ich auch nackt in die Schlacht rennen.«

»Eine gute Taktik, um den Gegner zu verwirren«, befand Leones scherzhaft. Insgeheim fand er es jedoch abstoßend, eine nackte Elfenfrau den lüsternen Blicken von Menschen oder gar Orks auszusetzen. Angewidert schüttelte er die Vorstellung ab und konzentrierte sich darauf, was er mitnehmen musste. Das Wichtigste war die Rüstung. Sorgfältig legte er sie mit Rhayunas Hilfe an, gürtete das Schwert darüber und griff nach der Provianttasche. Seine Wasserflasche hätte direkt daneben liegen sollen, doch er konnte sie nirgends sehen. »Haben wir noch Kürbisflaschen? Ich muss meine in den Sümpfen vergessen haben.« Bei ihrem überstürzten Aufbruch war das kein Wunder, aber es ärgerte ihn dennoch. Jede kleine Nachlässigkeit würde Theremon in seinem Urteil bestätigen.

»Ich seh mal nach. Brauchst du sonst noch etwas aus der Rüstkammer?«

»Eine neue Bogensehne. Die hier ist spröde geworden«, schätzte Leones und fuhr noch einmal prüfend mit den Fingern darüber.

Die Faust verschwand mit einem Nicken nach draußen. Manchmal kam es Leones vor, als sei sie die Einzige auf Nehora, die jeden gleich behandelte. In den Übungskämpfen schlug sie auch immer gleich fest zu – egal, wen sie vor sich hatte. Leones ertappte sich bei einem Schmunzeln. Vielleicht hielten ihn doch nicht alle für ein mieses Schwein.

Während er sich Tasche, Umhang und Köcher umhängte, ging er in Gedanken noch einmal die Ausrüstung durch. Wenn er allein in die Wildnis flog, durfte er nichts vergessen. Das Nötigste hatte er bereits in seiner Gürteltasche, und er verwarf den Einfall, ein Seil mitzunehmen. Wenn er in zu tiefen Morast geriet, würde ihn Sturmlöwe herausziehen müssen, und mit einem Strick wusste der Greif nichts anzufangen. War die Chimäre überhaupt bereit, schon wieder zu fliegen? Als Leones zur Küche ging, lag Sturmlöwe mit prallem Wanst in der Sonne und schlief. Das verhieß nichts Gutes, aber sie durften keine weitere Nacht verstreichen lassen. Eins nach dem anderen, mahnte sich Leones. Vielleicht war Sturmlöwe wider Erwarten wach, bis er alle Vorbereitungen getroffen hatte.

In der Festungsküche herrschte trotz der beiden Fenster stets Dämmerlicht, was an der vom Rauch der Jahrtausende geschwärzten Decke lag. Schon beim Eintreten schlug Leones der Geruch nach Ruß entgegen, und auch jetzt qualmte ein kleines Feuer auf der Herdstelle, über der ein Wasserkessel hing. Daneben saß Vedsevia, die nachts mit Keatos auf Streife ritt, und barg ihr Gesicht in den Händen, als hätte sie Kummer. Leones war versucht, wortlos an ihr vorbei in die Speisekammer zu gehen. Er hatte genug eigene Sorgen und musste bald aufbrechen. Doch warum rührte sich die Tochter Ardas nicht, obwohl sie seine Schritte gehört haben musste? »Alles in Ordnung?«

Wie ein waidwundes Tier sah sie zu ihm auf. Ihre grünen Augen waren ungewohnt groß und dunkel, die hellbraunen Haare zerzaust, als sei sie gerade erst aufgestanden. »Ja, schon gut«, murmelte sie, obgleich ihre Augen das Gegenteil sagten.

Leones zuckte mit den Schultern. Na klar. Warum sollte sie sich auch ausgerechnet dem Verräter anvertrauen? Missmutig stapfte er weiter und füllte aus den Vorräten seine Provianttasche auf. Er beschränkte sich auf Verpflegung für die zwei Tage, die ein Spähflug gewöhnlich dauerte, aber zur Not konnte er damit auch deutlich länger durchhalten.

Als er die Tür zur Speisekammer wieder hinter sich schloss, saß Vedsevia immer noch da und starrte das mittlerweile kochende Wasser an, statt es in den Becher mit Blättern zu füllen, den sie wohl selbst auf dem Tisch bereitgestellt hatte. War sie etwa krank? Warum ging sie dann nicht zum Heiler?

Kopfschüttelnd schwenkte Leones den Haken, an dem der Kessel von der Decke hing, zur Seite und schöpfte mit einer Kelle heißes Wasser in den Becher. Mit dem Dampf stieg Espenduft auf. Erstaunt hob er die Brauen. Seine Mutter hatte ihm diese Blätter aufgebrüht, wenn er als Kind nach einem Albtraum verängstigt gewesen war. Weshalb trank eine unerschrockene Kriegerin diesen Tee?

»Irgendetwas ist geschehen«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Etwas Schreckliches.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Leones. Er hielt nicht viel von Ahnungen, aber sie sah so erschüttert aus, dass er es nicht so leicht abtun konnte.

»Als ich aufwachte, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Sie schrie. Sie rief nach mir. Ich soll nach Hause kommen.«

»Könnte es nicht einfach ein schlechter Traum gewesen sein?«

In ihrer Miene rangen Sorge und Zweifel um die Vorherrschaft. »Es klang so echt. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich es hörte. Ich bekomme es nicht mehr aus dem Kopf. Ich spüre, dass es wahr ist.« Mit jedem Wort wurde ihr Blick eindringlicher und verzweifelter. »Aber ich kann doch jetzt nicht um ein paar freie Tage bitten, um nach Hause zu reiten.«

Leones nickte. Es war undenkbar. »Wenn etwas vorgefallen ist, werden sie dir eine Nachricht schicken. Es hat keinen Sinn, vorher damit zum Ersten zu gehen. Falls überhaupt etwas passiert ist«, fügte er mit Nachdruck hinzu.

Seufzend vergrub Vedsevia wieder das Gesicht in den Händen und nickte. Sicher verstand sie, dass sein Rat das Vernünftigste war. Leones zögerte, aber was sollte er noch sagen? »Ich muss los. Theremon erwartet mich.«

Fahrig winkte sie ab. »Schon gut.«

Ihr Tonfall machte es Leones nicht leichter, doch seine eigene Unbeholfenheit ärgerte ihn so sehr, dass er nach draußen stürmte. Sie ist Grenzwächterin, verdammt! Sie wird schon zurechtkommen.

Auf dem Hof hatte sich Perian über Stumlöwe gebeugt, um ihn noch einmal zu heilen. Theremon stand vor der Tür seines Quartiers und sah zu Keatos hinauf, der wohl vorübergehend die Wache auf dem Nordturm übernommen hatte, damit Perian nach Sturmlöwe sehen konnte. Doch der silberhaarige Sohn Ameas blickte nicht über die Landschaft, sondern hantierte an den Fängen eines Falken auf seiner Hand herum. »Eine Nachricht aus Anvalon!« Woher eine Botschaft kam, verriet die Farbe der Bänder, mit denen sie befestigt wurde. Schwarz stand für Uthariel, Weiß für die Hauptstadt, und die übrigen Farben verteilten sich auf die anderen Festungen wie Nehora und Beleam.

Theremon runzelte die Stirn. Aus Anvalon erhielten sie nur dann Befehle, wenn sich die Kommandantin dort befand. »Bleib auf deinem Posten! Ich komme gleich hoch.« Ungeduldig wandte er sich Leones zu. »Du musst herausfinden, ob von diesen Untoten Gefahr für uns ausgeht. Wenn es unbedingt notwendig ist, hast du meine Erlaubnis, in den Sümpfen zu landen und zu übernachten, aber nur dann, verstanden? Unser letzter Greif ist zu wertvoll, um ein Risiko einzugehen. Also sei vorsichtig!«

Gereizt erwiderte Leones Theremons Blick. Hatte er seinen Greif verloren oder Danael? Er wusste selbst, wie viel von ihren Spähflügen abhing. »Ich werde entweder mit Sturmlöwe zurückkehren oder gar nicht.« Er hatte es sarkastisch sagen wollen, doch als er es aussprach, merkte er, wie ernst es ihm war. Sollte Sturmlöwe sterben, würde er Nehora den Rücken kehren und sich zu Fuß in seine Heimat durchschlagen. Unter Theremon gab es in der Grenzwache keinen Platz mehr für ihn.

Der Erste starrte ihn grimmig an. Noch schien er nicht sicher, ob ihn Leones verhöhnte oder nur seine Entschlossenheit zeigen wollte. »Viel Erfolg!«, wünschte er und wandte sich ab, um zu Keatos auf den Turm zu steigen.

»Du mich auch«, murmelte Leones.

Die Faust, die in der Nähe gewartet hatte, musterte ihn fragend, doch er schüttelte den Kopf. Als sie ihm die neue Flasche reichte, schwappte Wasser darin. Leones lächelte anerkennend. Nicht jeder Kamerad hätte sich die Mühe gemacht, die Flasche bereits für ihn zu füllen.

»Frisch bespannt.« Mit selbstzufriedener Miene gab sie ihm seinen Bogen zurück.

»Danke.«

Die Faust winkte ab. »Sieh zu, dass du uns rechtzeitig davor warnst, was sich da draußen zusammenbraut! Irgendwas geht da vor sich. Ich würde meinen Hintern darauf verwetten, wenn ich einen nennenswerten hätte.«

Lachend ging Leones zu seinem Greif und dem Heiler hinüber. Die Faust leistete eindeutig schon ein paar Jahrhunderte zu lange Dienst in der Wache, um noch wie andere Elfen zu sein. »Wie sieht’s aus?«, erkundigte er sich bei Perian, der Sturmlöwes Mähne kraulte.

Der Heiler richtete sich auf und sah ein wenig ertappt aus. Nutzte er die Sorge um Sturmlöwes Einsatzbereitschaft als Vorwand, um ihn zu hätscheln? »Falls er noch Muskelkater oder ähnliches hatte, sollte jetzt alles weg sein«, sagte er betont sachlich.

»Gut. Dann los, alter Junge! Es gibt Arbeit!« Leones deutete zur Mauerkrone hinauf.

Sturmlöwes dunkles Grollen ließ Leones’ Eingeweide beben, doch der Greif erhob sich, dehnte dabei gähnend Rücken und Glieder und spreizte die Flügel bis zur letzten Schwungfeder.

Sieht gut aus, befand Leones erleichtert und lief die Treppe hinauf. Vom Hof auf den Wehrgang zu flattern, war für die Greife anstrengend, weil die Aufwinde fehlten. Wenn es keinen Grund zur Eile gab, stieg Leones deshalb erst oben auf. Sturmlöwe erwartete ihn bereits. Witternd sog der Greif die Luft ein, dass sich die Nüstern blähten. Trotz seines Alters war er ein majestätischer Anblick, und Leones empfand Stolz, sich auf Sturmlöwes Rücken schwingen zu dürfen. Mit ausgebreiteten Flügeln sprang der Greif in den Abgrund. Von einem Augenblick auf den anderen zerrte Wind an Leones’ Haar und heulte ihm in den Ohren. Die Kräfte des freien Falls packten seinen Magen und drückten ihn nach oben. Unter ihm kam der steinige Hang so schnell näher, dass sein Herz raste. Er würde sich wohl niemals daran gewöhnen, wie Sturmlöwe absackte, bis eine passende Luftströmung ihren Fall bremste. Nie konnte Leones vorhersagen, wie lange es dauern würde. Es geschah einfach. Plötzlich schwebte der Greif, der Wind säuselte nur noch, und Leones’ Herzschlag beruhigte sich.

Sturmlöwe kreiste in den warmen Winden, um sich von ihnen wieder emportragen zu lassen. Höher und höher, bis selbst Nehora tief unter ihnen lag. Erst dann verlagerte Leones sein Gewicht, um den Greif nach Westen zu lenken. Die Sonne stand bereits so tief, dass sie ihn blendete, doch es blieb genug Zeit bei Tageslicht, um die ersten Ausläufer der Sümpfe zu erreichen. Schon bald hatten sie die gewellte, mit Wäldern gesprenkelte Landschaft überquert, die sich jenseits der Elfenlande erstreckte. Dahinter breitete sich die weite Ebene aus, durch die sich der Fallende Fluss wand. Schon aus der Ferne war der breite, metallisch glänzende Strom zu erkennen, der sich je nach Jahreszeit mal mehr, mal weniger träge durch die Sümpfe wälzte und weit im Süden ins Meer ergoss.

Bis zu seinen Ufern würden sie es heute nicht mehr schaffen. Die Aufwinde verloren bereits an Kraft. Immer öfter musste Sturmlöwe mit den Flügeln schlagen, um wieder Höhe zu gewinnen, bevor er weiter dahingleiten konnte. Leones entschied, dass sie sich weit genug von Nehora entfernt hatten, und begann mit der eigentlichen Suche. Falls ihnen die Angreifer gefolgt waren, konnten sie sich bereits in dieser Gegend befinden. Durch Gewichtsverlagerungen lenkte er Sturmlöwe in großen Schleifen nach Norden. Unter ihm wechselten sich Moore und Feuchtwiesen mit vereinzelten Hainen und Hecken ab, die im Licht der sinkenden Sonne immer längere Schatten warfen. So wachsam Leones auch hinunterspähte, aus dieser Höhe würde er keinen Untoten entdecken, der sich den Tag über zwischen Sträuchern und Bäumen verbarg. Sie mussten niedriger fliegen, auch wenn es den Greif mehr Kraft kostete und sie langsamer vorankamen.

Je mehr Höhe sie verloren, desto dunklere Ahnungen beschlichen Leones. Wenn sich dort unten Feinde versteckten, konnten sie aus der Deckung heraus auf Sturmlöwe schießen, und er war kein Sohn Heras. Er beherrschte keinen Zauber, um Pfeile abzulenken. Sie kamen aus dem Sumpf. Wahrscheinlich hatten sie viele Jahre unter Wasser gelegen. Keine Bogensehne war unter solchen Umständen noch brauchbar. Nur wenn es wirklich Untote sind … Er schob die Zweifel beiseite und konzentrierte sich auf die Suche, doch auf den Mooren und Wiesen entdeckte er nur grasendes Wild und Kraniche, die auf ihrem Zug nach Süden eine Rast einlegten. Ihre Schreie hallten gespenstisch durch den aufsteigenden Nebel.

Nach einer Weile befand Leones, dass sie weit genug nach Norden flogen waren, und kehrte um. Am Horizont versank die Sonne mattrot im Dunst. Dämmerung und Nebel legten sich wie ein Schleier übers Land und raubten Leones zunehmend die Sicht. Fluchend lenkte er Sturmlöwe niedriger. Noch kamen sie schneller voran als ein Reiter, doch der Greif musste ständig mit den Flügeln schlagen, was er unmöglich die ganze Nacht durchhalten konnte. Leones ließ ihn landen und ausruhen. Mit etwas Glück würde es im Lauf der Nacht aufklaren.

Sturmlöwe legte die Flügel an, rollte sich auf dem nassen Gras zusammen und schlief sofort ein. Sein Vertrauen rührte Leones. Der Greif wusste nichts von Lügen und Verrat. Während der Himmel immer dunklere Blautöne annahm, zog Leones ruhelos Kreise um seinen Freund. Vorsorglich nahm er den Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil auf. Die Stille des Moors glich jener vor dem Angriff auf Wildfang, doch Leones rief sich ins Gedächtnis, dass sie nicht ungewöhnlich war. Trotzdem zuckte er zusammen, als eine Eule vorbeiflog. Untote waren stumm. Und sie bewegten sich leise. Kein Geräusch durfte ihm entgehen. Wachsam streifte er durch das feuchte, hohe Gras, das seine Hosen durchnässte. Am Horizont hob sich die Mondsichel strahlend weiß aus dem Dunst. Es wurde Zeit, wieder aufzubrechen.

Gerade als er zu Sturmlöwe zurückgehen wollte, drang ein kaum hörbares Schleifen an sein Ohr. Lauschend erstarrte er. Langsam kam das Geräusch näher. In zackigem Takt wurde es lauter und leiser. Schritte! Und je länger er horchte, desto mehr gesellten sich nördlich und südlich von ihm hinzu. Wie von selbst trugen ihn seine Beine an Sturmlöwes Seite. Der Greif hatte den Kopf gehoben und nahm Witterung auf. Sein warnendes Grollen beseitigte jeden Zweifel.

»Weg hier!«, rief Leones gedämpft.

Sturmlöwe sprang bereits auf, während sich Leones noch auf seinen Rücken schwang. Dunkle Gestalten schälten sich aus dem Nebel. Eben noch waren sie stur geradeaus marschiert, doch plötzlich rissen sie Äxte und Klingen empor und rannten auf Sturmlöwe zu. Mit einem Satz katapultierte sich der Greif in die Luft. Leones schoss auf den vordersten Feind. Der Kerl war so nah, dass Leones die Hauer aus dem Unterkiefer des Orks ragen sah. Schon steckte der Pfeil tief in seiner Brust. Es störte ihn nicht. Er wirbelte herum und hackte unbeeindruckt nach Sturmlöwes Klauen, als der Greif über die Angreifer hinweg an Höhe gewann.

Leones sah nicht, ob der Hieb traf. Er konnte nur hoffen, dass Sturmlöwe das Bein schnell genug angezogen hatte. Unter ihm schrumpften die Gegner auf die Größe von Kindern. Drohend schwenkten sie ihre Waffen, doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Wiedergänger. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Aber woher kamen sie? In den fieberverseuchten Sümpfen lebten keine Orks. Und warum blieben sie nicht in ihren nassen Gräbern?

Rasch vergewisserte er sich, dass sie tatsächlich keine Bögen bei sich trugen. Einige stießen wütend Speere in die Luft, doch sie waren klug genug, ihre Waffen nicht zu verschwenden. Ein in die Höhe geschleuderter Speer besaß nicht genug Wucht, um einem Greif gefährlich zu werden. Leones ließ Sturmlöwe in sicherem Abstand über den Untoten kreisen, um ihre Anzahl zu schätzen. In der Dunkelheit mochte ihm der eine oder andere entgehen, aber der Nebel hatte begonnen, sich aufzulösen, und bot ihnen immer weniger Deckung. Nicht dass es sie gekümmert hätte. Ihnen lag offensichtlich nichts daran, sich zu verbergen. Sie starrten zu ihm herauf, die Gesichter in stummen Wutschreien verzerrt, und mit jedem Augenblick kamen von Westen neue Wiedergänger hinzu.

Nimmt das denn überhaupt kein Ende? Alarmiert lenkte er Sturmlöwe höher, um sich mehr Überblick zu verschaffen. Jenseits der Untoten, die ihn bemerkt hatten, stapften weitere Orks übers Moor. Leones zog einen größeren Kreis. Über trockeneren Stellen war der Nebel aufgerissen. Immer größere Lücken taten sich auf, und wo er auch hinsah, marschierten Untote gen Osten, auf die Elfenlande zu.

Athanor 4: Die letzte Schlacht

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