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Fallender Fluss, zwei Jahre nach Theroias Untergang

Hier stimmt etwas nicht. Leones lauschte in die neblige Herbstnacht. Solange kein Wind wehte, herrschte um diese Jahreszeit immer Stille im Moor. Selbst das Sirren der Stechmücken war längst verstummt. Und doch … Hätte er nicht wenigstens den Ruf eines Vogels hören müssen? Ein Rascheln im Gesträuch? Aber da war nichts, nur Sturmlöwes Atmen. Wie eine riesige Katze hatte sich der Greif zusammengerollt und schlief. Noch vor wenigen Jahren hätte Leones den Sinnen der Chimäre vertraut und sich entspannt zurückgelehnt. Schließlich waren sie nicht allein. Danael saß bei ihnen, und dessen Greif jagte hinter den Sumpfschweinen her, die sie bei der Landung aufgescheucht hatten. Doch Sturmlöwe war im Dienst der Grenzwache alt geworden. Sein Leib wurde immer knochiger, und Fell und Gefieder hatten den einstigen Glanz verloren. Nach einem weiten Flug wie heute konnte ihn nicht einmal die Aussicht auf Beute locken. Bedauernd strich Leones über den klobigen Löwenschädel. Er war stets stolz auf seinen Greif gewesen, einen der wenigen, die keinen Adlerkopf, sondern ein Löwenhaupt besaßen. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er zu alt war, um einen Reiter zu tragen.

»Es ist zu still hier.« Auch Danael spähte nervös in die Nacht. Da sein Gesicht ungewöhnlich schmal war, lagen die Augen zu eng beieinander, um als schön zu gelten, aber er besaß den scharfen Blick, den man allen Abkömmlingen Heras nachsagte.

»Soll ich ein Feuer machen?«, bot Leones an. Die Feuchtigkeit zog ihm bereits in die Kleider, und es wurde mit jedem Augenblick kühler. Längst hatte er sein inneres Feuer geschürt und nährte es mit Magie, um nicht mehr zu frieren. Was für ein unwirtlicher Ort. Kein einziger Stern zeigte sich am Himmel. Der Schleier, der neuerdings Sonne und Mondlicht dämpfte, verbarg sie. Gab es ihn nur hier, in den Sümpfen und Mooren entlang des Fallenden Flusses, oder trübte er auch den Himmel über Beleam?

»Nein, kein Feuer«, warnte Danael. Erneut sah er sich um und stand auf. »Es könnte Orks oder einen Oger anlocken.«

Nur zu gern folgte Leones seinem Beispiel. Sie hatten für ihr Nachtlager zwar einen halbwegs trockenen Platz gefunden, aber der Boden war dennoch klamm. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie den Spähflug die Nacht hindurch fortgesetzt, doch die Greife waren müde und hungrig.

Verstohlen behielt ihn Danael im Auge. Der Sohn Heras traute ihm nicht – wie alle in Nehora. Erst vor zwei Monden war Leones aus Beleam gekommen, und er wusste, was sie hier an der Westgrenze über das Verräternest dachten. Zu viele Söhne und Töchter Piriths hatten dort Dienst getan, weshalb Kavaraths Einfluss größer gewesen war als der des Kommandanten im fernen Uthariel. Nun waren beide tot, und die neue Kommandantin hatte Beleams Besatzung aufgelöst und auf die anderen Stützpunkte verteilt. So wollte sie die alten Verflechtungen zerschlagen und neuen Verrat verhindern.

Insgeheim nahm Leones die Strafe demütig an. Er war ein Verräter. Auch wenn er nicht damit gerechnet hatte, dass Kavarath über Leichen ging, trug er eine Mitschuld am Tod vieler Elfen und – noch schlimmer – am Verlust ihrer Seelen, da sie fern des Ewigen Lichts gestorben waren. Der Hohe Rat hätte ihn dafür auf Lebenszeit aus den Elfenlanden verbannt. Dagegen war die Versetzung nach Nehora fast ein Geschenk. Danael konnte nichts davon wissen. Es gab keinen Beweis und keinen Zeugen, der gegen Leones ausgesagt hätte. Doch sie alle vermuteten es und flüsterten über ihn.

Wachsam blickte sich Leones um. Nebelschwaden hingen so niedrig über den sumpfigen Wiesen, als ob sie an eine gläserne Decke stießen. Darüber reichte der Blick recht weit, gen Westen sogar bis zum hohen Schilf am Fluss. Langsam drehte sich Leones einmal um sich selbst. Vereinzelt erhoben sich Bäume und Büsche wie dunkle Skulpturen aus dem weißen Dunst und boten verborgenen Feinden Deckung. Es war so kalt, dass sein Atem als Wolke vor ihm aufstieg.

Plötzlich schrillte in der Ferne ein Quieken. Der Schrei eines Sumpfschweins, bevor ihm der Greifenschnabel die Kehle aufriss. Leones und Danael wechselten einen Blick. Alles schien in Ordnung. Wildfang hatte seine Beute gepackt und würde zurückkommen, sobald er sich den Wanst vollgeschlagen hatte. Mit etwas Glück würde noch eine Mahlzeit für Sturmlöwe bleiben. Doch gerade, als sie sich wieder ins Gras setzen wollten, gellte ein anderer Schrei durch die Nacht. Abrupt riss Sturmlöwe den Kopf empor. Selbst nach fast hundert Jahren Dienst in der Wache klangen für Leones alle Greifenschreie gleich. Er vermochte nicht zu sagen, ob sie Furcht oder Freude, Hunger oder Hass verspürten, aber die Chimären erkannten es. Ein weiterer Adlerschrei zerriss die Stille.

»Warte!«, rief Leones, doch es war zu spät. Sturmlöwe sprang bereits in die Luft. Der Flügelschlag wehte Leones eisigen Wind ins Gesicht.

»Was ist da los?« Hastig klaubte Danael seinen Bogen aus dem Gras.

»Keine Ahnung«, erwiderte Leones, während er sein Schwert zog. Sturmlöwe flog in Richtung der Schreie davon. Rasch nahm Leones die Verfolgung auf. Wurde Wildfang angegriffen? Warum kam das Biest dann nicht einfach zurück?

Neben ihm rannte Danael und legte im Laufen einen Pfeil auf. »Sieh dich vor! Das Moor ist tückisch!«

Leones nickte nur. Noch federte der Boden wie die Bohlen eines Stegs, doch schon wenige Schritte weiter sanken die Füße in Morast. Schlamm quatschte unter Leones’ Sohlen, zog erst zaghaft, dann immer fester an seinen Stiefeln. Nahebei glänzte Wasser zwischen den hohen Gräsern.

»Dort entlang!«, rief Danael und deutete auf ein helleres Stück Wiese. Einen Augenblick lang hing er fest. Leones hielt inne, um ihm zu Hilfe zu kommen, aber der Schlamm gab bereits schmatzend nach. Danael hetzte weiter, und Leones folgte ihm. Um ihre Füße spritzte Wasser aus flachen Pfützen auf. Wo steckte der verdammte Greif? Wildfangs Kreischen klang nah, und über ihnen forderte Sturmlöwes Brüllen den unsichtbaren Gegner heraus.

»Da!« Leones wies Danael die Richtung. Flatternde Schwingen ragten aus dem Dunst. Je näher sie kamen, desto besser konnte sein Blick den Nebel durchdringen. Wo war der Gegner? Steckte die Chimäre etwa in einem Schlammloch fest? Unvermittelt blieb Leones stehen. Vor ihm spiegelte sich das Mondlicht auf Wasser. Mit ausgestrecktem Arm hielt er Danael zurück. »Vorsicht!«

Der Weiher reichte so weit wie sein Blick. Schilf und Gräser ragten wie Inseln daraus hervor, aber dazwischen konnte er tiefer sein. Nur noch ein dünner Schleier trennte sie von Wildfang, der in flachem Wasser zappelte, dass es rauschte und spritzte. Zwischen seinen Schreien hackte er in die aufgewühlte Brühe, doch der Schnabel schien ebenso machtlos zu sein wie die verzweifelt schlagenden Flügel. Immer wieder schlugen sie, immer wieder bog sich Wildfangs Rücken bei dem Versuch, sich vom Boden zu heben. Vergebens.

»Bei allen Astaren!« Aufgebracht fuchtelte Leones mit dem Schwert, um Sturmlöwes Aufmerksamkeit zu erregen. Für eine solche Lage kannte er kein Zeichen, keinen Befehl, den der Greif verstanden hätte, und doch musste er irgendetwas tun. »Zieh ihn da raus, verdammt!«

Verblüfft sah er, wie Sturmlöwe herabkam und sich flatternd über Wildfang senkte. Begriff der Greif etwa doch, was man ihm sagte?

»Er steckt nicht im Schlamm«, warnte Danael leise und zielte unsicher hierhin und dorthin. »Seine Beine sind nicht weit genug eingesunken, um festzuhängen.«

Jetzt, da es Danael gesagt hatte, glaubte auch Leones, die Wahrheit zu erkennen. Oder lag es an Sturmlöwes Schwingen, deren kräftige Schläge den Nebel vertrieben? Gerade schlug der Greif die Zähne in Wildfangs Nacken und zerrte daran. Grollend und kreischend flatterten beide mit den Flügeln und sandten zitternde Wellen über den Teich. Ihr Lärmen übertönte jedes andere Geräusch. Sturmlöwe hob Wildfang höher als zuvor. Gebannt beobachtete Leones, wie sich Wildfangs Beine streckten. Irgendetwas hielt sie fest, aber im verfluchten Nebel konnte er nichts Genaues erkennen.

Danael ließ einen Pfeil von der Sehne schnellen. Über die Hälfte verschwand im Wasser, doch der Rest wackelte so heftig, dass Leones alarmiert das Schwert hob. Was auch immer der Pfeil getroffen hatte, bewegte sich.

Plötzlich blitzte unter Wildfangs Bauch etwas auf und stieß senkrecht nach oben. Der Greif schrie. Danael schoss und griff bereits nach dem nächsten Pfeil. Wildfangs Flügelschläge verloren an Kraft. Leones sah Sturmlöwe vor Anstrengung zittern. Vergeblich zerrte er an Wildfangs Nacken. Wieder und wieder glänzte auf, was aus dem Weiher nach dem Greif stach. Fluchend jagte Danael Pfeil um Pfeil ins Wasser, doch es half nichts. Wildfangs Bewegungen erlahmten bereits, und er hing immer noch fest.

»Weg da!«, schrie Leones. Hektisch klopfte er mit der freien Hand auf den anderen Arm, um Sturmlöwe zu sich zu rufen. Einen Lidschlag lang verhüllte sein Atem ihm den Blick wie der Nebel. Als er den Weiher wieder sah, stiegen vereinzelte Blasen darin auf. Irgendwo zur Linken plätscherte es. Zur Rechten schmatzte Schlamm. Mit aufgelegtem Pfeil fuhr Danael herum, doch er schien ebenso wenig zu sehen wie Leones, denn er schoss nicht.

Wildfang stürzte ins Wasser, dass es mit lautem Klatschen aufspritzte und in den Weiher prasselte wie Regen. Reglos blieb er liegen, während sich Sturmlöwe höher schwang und auf Leones zukam. Überall schien es plötzlich leise zu schwappen und zu plätschern.

»Wir müssen hier weg!«, warnte Leones.

Widerwillig löste sich Danael vom Anblick seines Greifs. Der Zwiespalt stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Er ist tot. Du kannst nichts mehr für ihn tun«, drängte Leones. Hastig drehte er sich um. Hatte nicht direkt hinter ihm …

Etwas Glänzendes hob sich aus dem Weiher. Im ersten Augenblick sah er nur triefendes Wasser und schlaffe Stängel, doch dann erkannte er darunter die Axt. Eine schwarze Hand hielt den Stiel gepackt. Überall wallte und wogte das Wasser. Hände und Waffen tauchten daraus auf.

Leones spürte Sturmlöwe neben sich landen. »Komm!«, rief er Danael zu und sprang auf den Rücken des Greifs. Schon wollte sich Sturmlöwe vom Boden abstoßen. Rasch streckte Leones die Hand nach seinem Kameraden aus. Danael griff zu. Sie waren zu schwer, der Greif würde sie nicht beide in Sicherheit tragen können, doch Leones sah, wie sich Danaels Blick nach innen wandte. Der Sohn Heras beschwor seine Magie. Sturmlöwe schwang sich in die Luft. Für einen Moment riss Danaels Gewicht an Leones’ Arm, zog ihn beinahe vom Rücken des Greifs, dann wirkte plötzlich der Zauber, und Danael wurde leicht wie eine Feder. Seine Hand umklammerte Leones’ so fest wie zuvor, sie fühlte sich ebenso stark und warm an, und doch schwebte der Sohn Heras nun schwerelos neben ihm. Solange Danaels Magie nicht versiegte, musste er ihn nur noch festhalten.

Leones bemerkte Danaels forschenden Blick. Sorgte er sich, ob er dem Verräter vertrauen konnte? Worte würden daran nichts ändern. Besorgt sah Leones nach unten. Unzählige Tümpel schimmerten zwischen den Nebelfetzen im Mondlicht – und in allen regten sich die Toten einer längst geschlagenen Schlacht.

* * *

Mit dunklen Ahnungen blickte Laurion zur Elfenstadt Everea zurück. Selbst im fahlen Licht der dunstverschleierten Sonne schimmerten die Schilfdächer golden, und an den Giebeln glänzte Perlmutt mit silbernen Fahnen um die Wette. Wie passte so viel Schönheit nur zu so viel Argwohn und Hass? Wie konnten so hartherzige Wesen so anmutige, zerbrechliche Gebäude hervorbringen? Gab es unter den Elfen, die sich auf den Stegen drängten, denn niemanden, der Mitleid mit ihnen empfand? Viele von ihnen waren selbst Flüchtlinge und hatten gerade ihr Zuhause verloren. Die riesige Flutwelle hatte ihnen alles genommen, Angehörige und Freunde, Boote und Häuser. Sie standen ebenso vor dem Nichts wie die Dionier. Doch dass sie Elfen und Laurion und seine Begleiter Menschen waren, schien ein unüberwindliches Hindernis zu sein. Dieser Älteste, Ameahim, hatte Mahanael sogar als Verbrecher beschimpft, weil er gewagt hatte, zwei Dutzend Menschen in die Elfenlande zu bringen. Als ob sie Räuber, Mörder oder gar eine tödliche Krankheit wären. Wenn der Morgen mit einer blutroten Sonne beginnt …

Die Kemethoë und die Kaysas Segen wurden nun von schlanken Schiffen voll finster blickender Krieger eskortiert. Wie alle Abkömmlinge Ameas trugen sie blaue Gewänder, aber auch Rüstungen aus riesigen Fischschuppen und poliertem Horn. Einige hielten Schilde aus den Panzern großer Wasserschildkröten, und fast alle hatten sich mit Speeren bewaffnet, deren Spitzen Schilfblättern nachempfunden waren.

Misstrauisch spähte Otreus zu ihnen hinüber. »Hab ich nicht gleich gesagt, dass wir hier nicht willkommen sind? Wir hätten fliehen sollen, solange wir noch konnten.«

Die Regentin warf ihrem Leibwächter einen strafenden Blick zu. Sah er denn nicht, dass es weit und breit keine Zuflucht für sie gab? »Ihr Fürst erwähnte diese Grenzwächter, die über unser Schicksal entscheiden werden, also gibt es noch Hoffnung. Wenn wir uns vollkommen friedlich verhalten, können wir bestimmt ihr Vertrauen gewinnen.«

Otreus schnaubte, und alle anderen mieden Nemeras Blick. Es tat Laurion leid, aber auch ihm fiel es angesichts der vielen Waffen schwer, noch an ein gutes Ende zu glauben. Angeblich hatte Ameahim seinen Leuten nur befohlen, sie zu einer Insel zu bringen, die weit genug von der Stadt entfernt lag, damit die Menschen den Elfen nicht gefährlich werden konnten. Doch entsprachen seine Worte der Wahrheit? Was erwartete sie dort wirklich? Die Mienen der Elfenkrieger verhießen nichts Gutes.

Rasch gerieten die Häuser Evereas außer Sicht, und schon bald verlor Laurion im Labyrinth aus Wasser, Sandbänken, Auwald und Schilf die Orientierung. Die Gegend erinnerte ihn an das Delta des Mekat, wo die Fürsten von prunkvollen Barken aus Vögel gejagt hatten, aber hier war es kälter, und die einzigen Bogenschützen trieben dionische Flüchtlinge vor sich her. Einmal tauchte aus der Wildnis eine flache Brücke über einen abzweigenden Wasserweg auf – ein einsamer Beweis, dass sie sich noch in der Nähe der Stadt befanden. Die Elfen bogen jedoch nicht dorthin ab. Schweigend starrten sie zu den Menschen herüber, und einige – wie Otreus – blickten feindselig zurück. Lange Zeit war das leise Plätschern um die Schiffe der einzige Laut in der Stille.

»Dort könnt ihr landen und euer Lager aufschlagen!«, rief schließlich jemand auf dem vordersten Elfenschiff und deutete auf einen schmalen Sandstrand. Dahinter erhob sich lichter Wald.

»Es ist euch verboten, diese Insel zu verlassen«, warnte der Elf. »Wer dagegen verstößt, erweist sich als Feind und wird auf der Stelle getötet!«

»Was müssen Menschen ihnen angetan haben, dass sie uns so sehr misstrauen?«, fragte Nemera traurig.

Laurion konnte nur nicken. Der Hass der Elfen schien beinahe ebenso tief zu reichen wie die Bosheit der Drachen. Umso mehr verwunderte ihn, dass die Schiffe davonfuhren, sobald die Kemethoë und die Kaysas Segen am Ufer lagen und ausgeladen wurden.

»Ha!«, platzte Otreus heraus. »Woher wollen die Dreckskerle wissen, dass wir bleiben? Steigen wir wieder ein und verschwinden, Herrin!«

»Kannste allein machen, Hornochse«, brummte Djefer. Der stämmige Fischer schulterte, was von ihrem Kornsack geblieben war, und sprang damit an Land. »Das riecht nach Falle wie’n gammliger Fisch.«

»Du bist doch bloß zu feige, weil du Stümper den Kahn nicht schnell genug bekommst!«

»Hört auf damit!«, befahl Nemera. »Wir sind alle erschöpft und enttäuscht. Aber wir dürfen uns nicht provozieren lassen! Wenn wir uns keinen Fehler leisten, werden die Elfen erkennen, dass wir nicht ihre Feinde sind.«

»Euer Schiffsführer hat recht«, meinte Mahanael ernst. Der Elf war von Bord der Kaysas Segen gesprungen und hatte geholfen, sie höher auf den Strand zu ziehen. »Die Abkömmlinge Ameas werden euch im Auge behalten, auch wenn ihr sie nicht seht. Es sind ihre Inseln, und sie wissen sich lautlos in Wasser und Schilf zu bewegen.«

Sogleich glaubte Laurion, heimliche Blicke auf sich zu spüren. »Was schätzt du, wie lange sie uns hier festhalten werden?«

Mahanael hob ratlos die Schultern. »Ich weiß nicht, wie weit die Grenzwächter entfernt sind und wie schnell sie zu einer Entscheidung kommen.«

»Kann der Kaysar uns helfen?«, fragte Nemera bang.

»Er hat uns nicht einmal in Sianyasa angekündigt«, wagte Laurion einzuwenden.

»Er war in Eile, um diesem Riesen zu folgen«, verteidigte sie Athanor.

Er war in Eile, um Elfen zu retten, während wir hier von ihnen bedroht werden, grollte Laurion im Stillen. Auf wessen Seite steht er eigentlich?

»Ich weiß nicht, wie viel Athanors Wort bei den Grenzwächtern gilt«, gab Mahanael zu. »Ameahim hat wohl recht. Ich bin nur ein Seemann, der nichts von den Vorgängen an Land versteht.«

Nemera seufzte. »Also gut. Ich glaube zwar, dass Ihr sehr viel mehr seid – was Ihr ihm auch deutlich gesagt habt –, aber vorerst sollten wir uns darauf einstellen, ein paar Tage zu bleiben. Müßiggang bringt die Leute nur auf dumme Gedanken«, fügte sie mit einem Blick auf Otreus leise hinzu.

Rasch teilte sie die Flüchtlinge dazu ein, Unterstände aus jungen Baumstämmen und Schilf zu errichten, Holz für Kochfeuer zu sammeln und am Ufer die salzverkrustete Wäsche zu waschen. Rhea und Laurion schickte sie aus, um nach Kräutern und Beeren zu suchen – die einzige Aufgabe, die seinem Rang als Magier halbwegs angemessen war.

Zögernd erkundete er mit Rhea die Umgebung. Neugierig lief das kleine Mädchen voraus und führte ihn so immer weiter fort. Insgeheim erwartete er, jeden Augenblick auf einen versteckten Elfenkrieger zu stoßen, doch nichts dergleichen geschah. Waren sie wirklich allein auf der Insel? Obwohl ihm die Beobachter nie aus dem Kopf gingen, nahm er schließlich sogar ein kurzes Bad im Fluss. Endlich juckte kein Salz mehr auf der Haut. Rhea tauchte wie ein Otter und holte stolz ein paar Muscheln herauf. »Für die Regentin«, verkündete sie, bevor sie in ihrem triefnassen, aber nun sauberen Kittel weiterzog. Ein paar essbare Beeren fanden sie tatsächlich, nur mit den Kräutern hatte Laurion kein Glück. Viele der Pflanzen waren ihm fremd, und selbst wenn sie einem dionischen Küchenkraut ähnelten, schmeckten sie noch lange nicht wie ihre Verwandten jenseits des Ozeans.

Beim Abendessen war Mahanael noch stiller als sonst. Laurion nahm an, dass ihr Freund um seine Familie trauerte, denn die Flutwelle hatte Sianyasa völlig zerstört, und fast alle Bewohner der schwimmenden Stadt waren ums Leben gekommen. Deshalb hatte Mahanaels Älteste ihn mit den Dioniern nach Everea geschickt, wo sie sich Obdach und Nahrung erhofft hatten.

Plötzlich stand Mahanael auf und trat mit entschlossener Miene vor Nemera. »Heute Vormittag haben wir Ameahim überrascht. Das war unklug, denn so fehlte ihm die Zeit, sein Vorgehen zu überdenken. Ich gehe noch einmal zu ihm und versuche, ruhig mit ihm zu sprechen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er davon. Im Schatten der Bäume verschwand er so rasch, dass es Laurion vorkam, als hätte ihn die Dämmerung verschluckt.

Besorgt sah Nemera ihm nach. »Das gefällt mir nicht. Dieser Ameahim ist zornig auf ihn, weil er uns hergebracht hat. Sagte er nicht, dass er ihn dafür zur Rechenschaft ziehen will?«

Laurion nickte. Es war mutig von Mahanael, den Elfenfürsten noch einmal aufzusuchen, aber …

»Darf er die Insel überhaupt verlassen?«, fragte Nemeras Zofe. »Er wurde bei dem Verbot nicht ausgenommen, oder?«

Vergeblich versuchte Laurion, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. War ausdrücklich von Menschen die Rede gewesen? »Ich fürchte nicht.« Brachte Mahanael nicht nur sich selbst, sondern sie alle in Gefahr? Laurion sprang auf. Wenn er sich beeilte, konnte er den Elf noch einholen. »Ich werde ihn aufhalten.«

»Aber seid vorsichtig!«, rief Nemera ihm nach.

Das habe ich vor. Solange er Mahanael fand, bevor er die Insel verlassen hatte, würde ihnen hoffentlich nichts geschehen. Doch leider wurde es mit jedem Augenblick dunkler, und Laurion verstand ohnehin nichts vom Fährtenlesen. Selbst eine Fackel hätte ihm daher wenig genutzt. Hastig stolperte er durch die Finsternis. Dornige Ranken schienen nach seinen Füßen zu angeln und rissen an seiner Robe. Wo befand sich die vermaledeite Brücke? Lief er noch in die Richtung, die Mahanael eingeschlagen hatte?

Vor ihm wurde es heller. Die Bäume wichen einer Lichtung, die von Schilf und Gesträuch umgeben war. Wo die Schilfgräser wuchsen, musste das Ufer sein. Wenn er dort entlanglief, würde er irgendwann auf die Brücke stoßen. Aber der schnellste Weg war es wahrscheinlich nicht. »Mahanael?«, rief er leise. Nur ein Rascheln im Gebüsch antwortete ihm.

Nicht trödeln! Wenn er schon den längeren Weg nehmen musste, galt es, umso schneller zu sein. Mit dem Lärm eines zornigen Büffels brach er durchs Gestrüpp. Manchmal geriet er ins Schilf, dessen scharfe Blätter in seine Füße schnitten, und schon im nächsten Moment versank er bis zu den Knöcheln in Schlamm und hastete auf trockenen Grund zurück. Wie groß war die verfluchte Insel eigentlich?

Ständig musste er auf den Boden achten, um nicht in einem Sumpfloch zu landen. Als er wieder einmal aufblickte, leuchtete zwischen den Halmen fernes Licht. War er womöglich im Kreis gelaufen?

Laurion reckte sich, um übers mannshohe Schilf zu spähen. Der flackernde Schein mehrerer Fackeln bewegte sich durch die Dunkelheit und spiegelte sich auf dem Wasser. Wer auch immer sie trug, kam näher. Vorsichtig eilte Laurion weiter. Schon konnte er Gestalten ausmachen, die über eine schmale Brücke schritten. Viele Gestalten. Und im Fackellicht glänzten Speerspitzen auf. Laurion erstarrte.

»Was habt ihr vor?« Erst die anklagende Stimme machte ihn auf den einzelnen Elf aufmerksam, der am Ende der Brücke stand. Mahanael.

»Wir werden die Menschen töten«, antwortete der vorderste Fremde. Auch er trug eine Fackel und hielt eines der gebogenen Schwerter in der Hand.

»Sie haben nicht gegen die Vereinbarung verstoßen«, protestierte Mahanael.

»Die Lage hat sich geändert«, gab der Schwertträger zurück. Er hatte Mahanael fast erreicht und hielt an. Misstrauisch ließ er den Blick schweifen. Offenbar fürchtete er, dass die Dionier im Dickicht lauerten. Laurion verwünschte seine weiße Robe und webte einen Zauber. Ich bin nur das Schilf. Ihr seht mich nicht, weil ich Schilf bin.

»Das Ewige Licht wurde zerstört!«, rief der Schwertträger wütend. »Diese Menschen bringen nichts als Unglück über uns!«

»Wie können sie das Ewige Licht zerstört haben? Sie waren doch die ganze Zeit hier«, hielt Mahanael dagegen. Doch seine Stimme klang unsicher. Aus irgendeinem Grund hatten ihn die Worte getroffen.

»Erst haben sie die Flutwelle gesandt, dann den Riesen«, schimpfte jemand.

»Sie wollen uns auslöschen!«, brüllte ein anderer.

Die aufgebrachten Elfen setzten sich wieder in Bewegung. Mit begütigend erhobenen Händen wich Mahanael zurück. »Ich lebe seit Monden bei ihnen. Sie sind unsere Freunde.«

»Du solltest dich schämen, Verräter!« Der Schwertträger schwang die Fackel nach ihm.

»Menschen sind tückisch«, tönte eine Kriegerin mit Schild und Speer. »Wir müssen sie töten, bevor sie uns im Schlaf ermorden!«

Unter aufgebrachten Rufen schob die Menge Mahanael von der Brücke. Am Ufer drängte sie sich um den Anführer und ihn.

»Wir schützen auch dich, du Narr!«, blaffte irgendjemand.

»Kein Elf darf mehr sterben, sonst ist seine Seele verloren!«

Laurion zitterte. Wovon sprachen sie da nur? Warum glaubten sie so fest daran, dass alle Menschen ihre Feinde waren? Er musste die anderen warnen. Für eine Flucht blieb kaum noch Zeit. Und wie sollten sie ohne Mahanael entkommen? Hin- und hergerissen starrte er auf die wütende Meute. Plötzlich zog sie weiter, und eine Gestalt blieb am Boden zurück. Mahanael!

Laurion rannte los, ohne auf das Knacken und Rascheln zu achten, mit dem er durch Ried und Büsche brach. War der Elf etwa tot? Was sollten sie dann tun? Barmherzige Urmutter, hilf! Atemlos ließ er sich neben Mahanael fallen und tätschelte ihm die Wange. »Wach auf!«

Aus dem sonnengebleichten Haar sickerte Blut. Offenbar hatte ihn jemand hinterrücks niedergeschlagen. Diese elenden Schweine! Laurion sprang wieder auf und hetzte ans Wasser. Mit den Händen formte er eine Schale, doch sie fasste erbärmlich wenig. Kurz entschlossen tauchte er die Arme bis über die Ellbogen unter. Blitzschnell saugte sich der Stoff seiner Robe voll. Er lief zu Mahanael zurück, ließ das kalte Wasser auf dessen Gesicht rinnen und wrang einen weiteren Schwung aus den Ärmeln heraus. Blinzelnd kam Mahanael zu sich.

»Komm!«, schrie Laurion und zerrte den benommenen Elf auf die Füße. »Sie werden alle umbringen!«

Bei der Erinnerung riss Mahanael die Augen auf.

»Komm schon!«

»Warte! Ich weiß einen besseren Weg.«

»Welchen denn?« Sah er denn nicht, wie viel Vorsprung die Feinde hatten?

»Du kannst sie überholen, aber du wirst nicht schnell genug sein, um die Schiffe rechtzeitig ins Wasser zu bringen. Vertrau mir!«

Die Umrisse des Elfs verschwammen vor Laurions Augen, schrumpften und verwandelten sich. Im nächsten Moment stieß sich ein weißer Vogel vom Boden ab. Vor Ehrfurcht stand Laurion wie versteinert. Das ist wahre Magie! Beinahe lautlos schwang sich das Tier in den Nachthimmel hinauf. Gegen den Vogel bewegten sich die anderen langsam. Und ich stehe immer noch hier herum! Aufgeschreckt rannte Laurion los. Im Gegensatz zu ihm kannten die Elfen die Richtung. Für den Umweg am Ufer blieb keine Zeit. Er musste ihnen folgen, bis er allein weiterkam. Zwischen den Bäumen konnte er den Schein der Fackeln noch sehen und holte rasch auf.

Sobald er näher kam, zuckte er bei jedem knackenden Zweig zusammen. Mahanael hatte ihn zwar nur gesehen, weil er sich bemerkbar gemacht hatte, doch sicherheitshalber verstärkte Laurion seinen Zauber. Ihr seht mich nicht. Ich verschmelze mit der Nacht. Gerade rechtzeitig, denn schon blickte jemand argwöhnisch über die Schulter. Du siehst mich nicht. Ich bin der Schatten des Waldes, das finstere Gestrüpp, die Dunkelheit zwischen den Sternen.

In entschlossenem Schweigen marschierten die Elfen voran. Nur das Rascheln ihrer Schritte störte die Stille. Für Laurion klang es wie ein Messer am Schleifstein. Zügig überquerten sie eine kleine Lichtung. Im Fackellicht glaubte Laurion, einen alten Baum zu erkennen. Hier war er mit Rhea vorübergekommen.

Jetzt! Laurion stürmte los und schlug sich seitlich in die Büsche. Wie er durchs Unterholz brach, war unüberhörbar. Alarmierte Rufe ertönten. »Da bewegt sich was!«

Laurion konnte nicht verhindern, dass Zweige förmlich einladend winkten. Mit leisem Knall schlug vor ihm ein Pfeil in einen Baum. Er rannte noch schneller. Gleich hatte er die Mörderbande hinter sich. Wenn er aus dem Fackellicht verschwand, würden sie kein wackelndes Laub mehr sehen. So plötzlich fuhr neben ihm ein Speer in den Boden, dass er vor Schreck fast gegen einen Baumstamm sprang. Im letzten Moment stieß er sich ab und hetzte keuchend weiter. Um ihn herum wurde es dunkler. Die Schatten verschmolzen zur Finsternis der mondlosen Nacht.

Wie aus dem Nichts traf ihn von hinten ein Stoß gegen die Schulter. Wucht und Schmerz warfen ihn nieder, und er landete auf den Knien. Weiter! Weiter! Aufstöhnend strauchelte er vorwärts. Seine Schulter brannte, als ob sie in Flammen stünde. Halb erwartete er einen erneuten Schlag in den Rücken, doch niemand war hinter ihm, nur der Schmerz, der ihm Tränen in die Augen trieb. Lauf, verdammt! Er richtete sich auf und wieselte um die Bäume. Leuchtete dort nicht ein weißes Segel in der Dunkelheit? Er entdeckte den schnell gezimmerten Unterstand am Waldrand. Dahinter glänzte der Fluss im Sternenlicht. Die anderen hatten die Schiffe bereits ins Wasser geschoben und die Segel gesetzt.

»Da hinten ist schon Fackelschein!«, rief Emmos. »Wie lange sollen wir denn noch warten?«

»Ich bin hier!«, krächzte Laurion. Jetzt würde selbst der undankbare junge Fischer ihn sehen. Atemlos hetzte er über den Strand und ins hoch aufspritzende Wasser, doch der weiche Flussgrund bremste seine Schritte. Sofort sog sich der Saum seiner Robe voll Wasser. Der schwere Stoff behinderte ihn.

»Laurion!«, schrie Nemera.

Mehrere Paar Hände streckten sich ihm entgegen. Als er danach griff, loderte der Schmerz in seiner Schulter wieder auf. Dunkelrote Wolken trübten seinen Blick. Panisch umklammerte er die Hände, die an ihm zogen.

»Schafft ihn endlich an Bord!«, brüllte Djefer.

Neben Laurion knallte ein Pfeil in die Bordwand.

»Da kommt ein Schiff!«, gellte es schrill von der Kaysas Segen herüber.

»Jetzt ist alles verloren«, murmelte Otreus.

Athanor 4: Die letzte Schlacht

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