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Prolog

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Nordkyperien, drei Jahre vor Theroias Untergang

»Dort ist es, Herr.«

Davaron blickte in die Richtung, die ihm der Menschenmann wies. Es war ein grober, kräftiger Kerl, ein Hirte, in Schaffell gekleidet und mit nichts als Stab und Messer bewaffnet. Eine Kapuze aus Wolfspelz bewies, dass er nicht mehr brauchte, um gefährliche Bestien zu erschlagen, und doch hörte Davaron Furcht in der rauen Stimme. Vor ihnen führte der Weg in eine tief eingeschnittene Schlucht, deren Ende hinter Windungen verborgen lag. Nur wenn die Sonne am höchsten stand, drangen ihre Strahlen bis zum Talgrund vor. Jetzt lag er im Schatten, und feuchte Kälte wehte Davaron entgegen. Kharnam. Der Ort, von dem alle nur flüsterten. Selbst die hartgesottenen Hexer der Barbaren.

Verächtlich verzog Davaron den Mund. Ein kalter Hauch, und schon zitterten die Menschen, als hätte das Nichts sie berührt. »Du hast den Tempel also noch nie mit eigenen Augen gesehen?«

Grimmig schüttelte der Mann den Kopf. »Es ist ein verfluchter Ort, Herr. Wer sich ihm nähert, kehrt nicht zurück.«

»Da habe ich anderes gehört.« Hinter vorgehaltener Hand wisperten sie es von Hexe zu Hexer, von Schamane zu Schamanin: In Antakores Tempel wurde die schwärzeste aller Künste gelehrt.

»Ich lüge nicht!« Empört richtete sich der Hirte auf. »Als ich ein Junge war, ging einer meiner Freunde hinein.« Sein Blick wanderte in die Schlucht, als hielte er noch immer Ausschau. »Er kam niemals zurück.«

»Dann stimmt es also nicht, dass ihr der Tochter des Dunklen Opfer darbringt?«

Im Gesicht des Kerls zuckte es, bevor er zu seiner grimmigen Miene zurückfand. »Es ist nichts Unrechtes daran, die Götter gnädig zu stimmen.«

Davaron lächelte spöttisch. »Nein.« Es ist bloß dumm. Wie konnten die Menschen glauben, dass sich die Götter durch die lächerlichen Gaben niederer Wesen bestechen ließen? Welch leichtes Spiel doch die Priester mit ihrem Mummenschanz hatten. Seit Jahren bereiste er nun die Menschenlande auf der Suche nach jener finsteren Magie, die in den Elfenlanden verboten war, doch die meisten Zauberer hatten sich als Scharlatane erwiesen. Allmählich war er es leid, falschen Fährten zu folgen und mit einfältigen Kerlen wie diesem zu reden. Sollte der Feigling ruhig umkehren, wenn er die Hosen voll hatte. Davaron fischte eine Silbermünze aus dem Beutel an seinem Gürtel und warf sie dem Hirten zu. »Für deine Mühen.« Dass der Mann sie geschickt auffing, sah er nur noch aus dem Augenwinkel. »Warte nicht auf mich«, riet er und trat in die Schatten der hohen Felswände.

Hinter ihm murmelte der Hirte noch etwas, doch Davaron schenkte ihm keine Beachtung mehr. Der Boden der Schlucht war mit Schutt und Geröll bedeckt, durch die ein schmales Rinnsal floss. Jetzt im Sommer rieselte es mal über die Steine, mal verschwand es darunter, aber Auswaschungen im Fels zeugten von den Wassermassen, die zur Schneeschmelze durch die Klamm tosten. Nur wenige Sträucher vermochten ihnen zu widerstehen, und sie alle behielten zerfetzte Zweige zurück, an denen noch getrocknetes Treibgut hing. Der Tempel musste dann unerreichbar sein. Existierte er überhaupt noch, oder hatten ihn die Fluten längst fortgerissen?

Unwillkürlich beschleunigte Davaron seine Schritte, als ob er sich beeilen müsste, um die düstere Pilgerstätte noch vorzufinden. Der Legende nach hatte sich hier einst die Tochter des Dunklen verborgen – bevor ihr Vater sie ins Schattenreich entführte. Dass er sie dazu erst einmal töten musste, hatte ihn nicht aufgehalten. Der Gedanke ließ Davaron schaudern. Niemals hätte er der kleinen Mevetha etwas antun können. Sie war ihm das Kostbarste auf der Welt gewesen. Und die verfluchten Chimären hatten sie ihm genommen.

Mit einer Hand am Schwertgriff spähte er die steilen Wände empor. In seiner Heimat kreisten Harpyien über so schroffen, abgelegenen Schluchten. Schon bei der Erinnerung an ihre Schreie umschloss er die Waffe fester. Noch immer sah er vor sich, wie sie Eretheya und Mevetha in die Tiefe gestürzt hatten. Der Anblick hatte sich so tief in sein Gedächtnis eingegraben, dass die Bilder schärfer und eindringlicher waren als alles, was in der Gegenwart geschah. Zwei der Mörderinnen hatte er aufgespürt und mit Blut für ihre Taten bezahlen lassen. Eines Tages würde er sich auch an den anderen rächen, doch seit er gesehen hatte, wie Eretheyas Schönheit im Tod verwelkte, widmete er sich ganz der Suche nach einem Gegenmittel, einem Zauber, der ihr neues Leben schenken und ihm Frau und Kind zurückgeben würde.

Nur ein Geier zog am Himmel über der Schlucht seine Kreise. Seit Eretheyas Tod verabscheute Davaron sämtliche Aasfresser, aber immerhin war der Vogel nicht gefährlich. Bei Antakores Priesterinnen war er sich nicht so sicher. Dennoch musste er sie sprechen. Er würde sie sogar anbetteln oder bedrohen – alles, was nötig war, um ihnen ihre Geheimnisse zu entreißen. Zu lange schon zog er vergeblich umher. Dieser Tempel war seine letzte Hoffnung. Dass er auch hier nicht finden könnte, was er suchte … Er wagte es nicht einmal zu denken.

Beinahe unmerklich wichen die Wände zurück. Eben noch war die Klamm so eng gewesen, als hätte Davaron nur die Arme ausstrecken müssen, um zu beiden Seiten den Fels zu berühren, doch allmählich wurde sie breiter. Auch wenn der Talgrund noch immer im Schatten lag, reichte das Sonnenlicht tiefer hinab als zuvor. Wo im Frühjahr das Schmelzwasser von den Hängen herabschoss, türmte sich loses Gestein. Eher beiläufig ließ Davaron den Blick über Schutthaufen und Felswände schweifen, bis er eine glänzende Stelle bemerkte. Zwischen Farn und Flechten lugte glattes, dunkleres Gestein hervor. Irgendetwas war seltsam daran. Davaron blieb stehen und betrachtete die Felswand genauer. Wo Schmelzwasser und Frost dem Gestein weniger zugesetzt hatten, zeichneten sich flache Figuren ab. Ihre Umrisse verschwammen im Gewirr von gesprungenem, bröckelnden Fels und verschiedensten Flechten, doch Davaron konnte Beine, Körper und Köpfe erkennen. Ich bin auf der richtigen Spur.

Rasch ging er weiter. Hoffnung, aber auch Angst trieben ihn voran. Waren verwitterte Skulpturen alles, was von Kharnam geblieben war? Es konnte, es durfte nicht sein.

Langsam wurde die Schlucht noch breiter. Während sich die linke Wand und der Bach parallel zueinander krümmten, wich die rechte immer weiter zurück und beschrieb einen deutlich größeren Bogen. Der Boden stieg auf dieser Seite in mehreren Stufen an, und jede der Terrassen war mit Reliefen aus poliertem Gestein gesäumt, das sich dunkel vom umgebenden Fels abhob. Davarons Herz schlug schneller. Auf der höchsten Stufe zeichnete sich ein von Statuen flankiertes Portal ab. Er hatte den Tempel Antakores gefunden. Am liebsten wäre er hinaufgestürmt, um die Priesterinnen mit seinem Anliegen zu überfallen, sie bei den Gewändern zu packen und zu schütteln, bis sie seine drängenden Fragen beantworteten. Stattdessen straffte er die Schultern und stieg gemessenen Schritts die Terrassen hinauf. Er musste vorsichtig sein. Gegen Magie würde ihm die schwarze Rüstung, die er unter seinem grauen Umhang trug, nichts nützen. Er versuchte, fremde Zauberei zu erspüren, doch die mannshohen Figuren der Reliefe lenkten ihn ab. Im Vorübergehen sah es aus, als ob sie sich bewegten. In wildem Morden und Schlachten fielen grauenhafte Wesen über wehrlose Gestalten her, die ebenso gut Menschen wie Elfen darstellen konnten. Davaron wagte nicht, genauer hinzusehen, denn dazu hätte er den Blick zu lange vom Eingang abwenden müssen. Er erhaschte nur flüchtige Bilder – von zweiköpfigen Hunden, die an den Gliedmaßen niedergestreckter Opfer zerrten. Von Skorpionschwänzen, die in die Leiber stachen. Von Köpfen, aus denen sich Schlangen wanden.

Was hat das zu bedeuten? Noch nie hatte er von solchen Wesen gehört. Waren es Imerons geheimste Chimären, von denen Menschen und Elfen nichts ahnten? Hatten ihn die Harpyien in eine Falle, in einen Tempel ihres Schöpfers gelockt? Rasch sah er zum Himmel auf, während die Hand zum Schwert fuhr. Nichts. Nur graue Wolken, die sich langsam vor die Sonne schoben.

Wachsam näherte er sich dem Portal. Wo einst nur eine Spalte geklafft haben mochte, öffnete sich nun ein breites Tor. Geschickte Steinmetze – oder waren es Elfenmagier gewesen? – hatten es so kunstvoll aus dem Fels gehauen, dass es von Weitem wirkte, als besäße es ein von Säulen getragenes Dach. Steinerne Schlangen ringelten sich vermeintlich um die Säulen, so sorgsam poliert, dass jede einzelne Schuppe glänzte. Davaron musterte die beiden Statuen, die wie Wächter zu beiden Seiten des Eingangs aufragten. Doch es waren keine Krieger, sondern Frauen in langen Gewändern, Priesterinnen, die eine Hand zum Gebet oder zum Segen oder vielleicht doch zum Schlag erhoben. Um ihren Blicken zu begegnen, musste er den Kopf ein wenig in den Nacken legen. Sofort spürte er, wie sehr er damit seine Kehle entblößte. Nie zuvor war er auf einen solchen Gedanken gekommen, doch hier kam es ihm vor, als streife plötzlich ein kühler Hauch seine verwundbarste Stelle. Alarmiert pulsierte die Ader unter der dünnen Haut. Hastig senkte er das Kinn und ärgerte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Seit wann ließ er sich von ein paar leblosen Figuren ins Bockshorn jagen?

Das Seltsamste war jedoch ein düsterer Strauch, der als einzige Pflanze dem harten, trockenen Boden trotzte. An einer scheinbar wahllosen Stelle wuchs er nur wenige Schritte vom Tor entfernt. Die dornigen Ranken waren so dick und knorrig, dass sie Jahrhunderte alt sein mussten, und doch besaß der Strauch noch Blätter und eine einzelne schwarze Blüte. Eine schwarze Rose. Erwachsen aus Antakores vergossenem Blut. So hatte es ihm ein Schwarzmagier in Ithara erzählt, aber der Mann war nie in Kharnam gewesen. Weshalb hätte er ihm glauben sollen? Alles erweist sich als wahr. Durfte er hoffen, endlich am Ziel seiner Suche zu sein?

Entschlossen wandte er sich den drei Stufen zu, die von der Torschwelle in die Höhle emporführten. Da sie im Schatten lagen, vermochte er nicht zu sehen, was ihn im Innern erwartete. Der Vorplatz des Tempels mochte still und leer sein, doch die Stätte wirkte nicht verlassen. Irgendjemand fegte die Terrassen und hielt Reliefe und Statuen sauber, sonst hätten sich auch hier längst Moose und Flechten ausgebreitet. Langsam, um seinen Augen Zeit zu geben, sich an das Zwielicht zu gewöhnen, stieg Davaron die Stufen hinauf. Dahinter erwartete ihn ein Gang, an dessen Ende er bereits eine größere Kammer erahnen konnte. Zu beiden Seiten setzten sich die in den Stein gemeißelten Schlachtszenen fort, und sie zeigten dieselben Kreaturen, die sich an wehrlosen Opfern vergingen. Davaron beließ die Hand an der Waffe und beschwor sein bisschen Magie herauf. Verglichen mit Eretheya beherrschte er das Feuer nur lausig. Von seinem brachliegenden Talent für Erdmagie ganz zu schweigen. Es zu fördern, hätte allen nur unter die Nase gerieben, dass er ein widernatürlicher Bastard war.

Aus der Nähe entpuppte sich die Kammer als schwach erleuchteter Saal. Säulen aus schwarzem Marmor schimmerten im Schein einiger Öllampen, die in kleinen Wandnischen standen. Davaron glaubte, Blut zu riechen, und sah sich hastig um, doch vielleicht war es nur heißes Metall, denn mit glimmender Kohle gefüllte Becken spendeten Wärme und unstetes Licht. Zwischen ihnen standen Karaffen, Becher und große, mit Tüchern abgedeckte Körbe. Umherliegende Kissen wirkten, als hätte eben noch jemand auf ihnen gesessen, aber wo waren die Priesterinnen jetzt? Waren sie etwa vor ihm geflohen? Hinter Vorhängen schienen sich mehrere Ausgänge zu verbergen.

Misstrauisch schritt Davaron auf zwei große Statuen am anderen Ende der Halle zu. Die hintere stellte einen gewaltigen schwarzen Stier dar, der aussah, als wendete er sich gerade dem Besucher zu und richtete mit dem grimmigen Blick auch die tödlichen Hörner auf ihn. Fast wie ein halbkreisförmiger Wall umgab sein Rumpf die vordere Figur, die majestätisch über Davaron hinwegblickte. Von Weitem hielt er sie für einen Elfenkrieger, denn sie trug eine Rüstung und hielt einen Speer in der Hand. Doch als er sich näherte, bemerkte er weibliche Rundungen. In respektvollem Abstand blieb er stehen und sah zu den schönen, aber strengen Zügen der Kriegerin auf. Ein Helm verbarg ihre Ohren und das aufgesteckte Haar, und dennoch hatte er keinen Zweifel daran, eine Elfe vor sich zu haben.

»Knie nieder vor Antakore, Herrin über die Heere des Schattenreichs!« Die Stimme hallte so laut, dass sie von allen Seiten zugleich zu kommen schien.

Überrascht zuckte Davaron zusammen und fuhr herum, doch noch immer war niemand zu sehen. »Ich bin ein Elf«, erwiderte er und nahm die Kapuze ab, die zwar nicht sein Gesicht, aber seine Ohren verdeckt hatte. »Wir werfen uns nicht vor Göttern in den Staub.« Es mochte nicht die klügste Antwort sein, aber er würde nicht ausgerechnet vor der Tochter des Dunklen mit menschlicher Kriecherei anfangen.

Er spürte die Magie einen Lidschlag, bevor der Flammenkreis aufloderte. Zu spät, um das Feuer im Keim zu ersticken. Vielleicht hätte er es ohnehin nicht vermocht. Es war magisches Feuer, das keiner Nahrung bedurfte, geisterhaft bläulich und doch so heiß, dass seine Wangen in der Hitze spannten.

»Wer der Herrin keinen Respekt bezeugt, ist hier nicht willkommen«, belehrte ihn die unsichtbare Priesterin. »Du kannst nur Diener oder Opfergabe sein.«

Davaron griff mit seiner Magie nach den Flammen. Sein Talent reichte selten aus, um magisches Feuer zu erzeugen, doch er konnte die Hitze lenken, teilte sie wie einen Vorhang und schritt unverletzt aus dem Flammenkreis hinaus. Nicht, um zu fliehen, sondern auf die Statue Antakores zu. Er würde das Knie nicht beugen, niemals, vor niemandem, aber er verneigte sich, bevor er sich erneut nach der Priesterin umsah. »Ich weiß nicht, ob mir Eure Herrin geben kann und will, was ich suche, aber wenn es so ist, bin ich bereit, ihr jeden Dienst zu erweisen, den sie verlangt.«

Fünf Priesterinnen traten hinter Säulen und Vorhängen hervor. Zwei lächelten spöttisch, während ihn die anderen abschätzend musterten. Erstaunt bemerkte er, dass es Elfen waren. Wann hatten sie die Elfenlande verlassen? Wie lange lebten sie schon hier? Dem rotblonden bis rotbraunen Haar nach zu urteilen, gehörten sie den Töchtern Piriths an, doch es gab keine Geschichten über Frauen seines Volks, die in die Welt gezogen und nicht zurückgekehrt waren. Über etwas so Ungewöhnliches hätte man noch Jahrhunderte später gesprochen.

»Wir wissen, wer du bist«, behauptete die Priesterin, die sich ihm am nächsten befand. Ihre Augen waren groß und dunkel, zu dunkel für eine Frau mit flammend rotem Haar. Das magische Feuer spiegelte sich für einen Moment in der Schwärze, bis es lautlos erlosch. »Du wurdest uns angekündigt.«

Ach, wirklich?, dachte Davaron schmunzelnd. Wenn sie ihn mit solchen Sprüchen beeindrucken wollte, musste sie schon mehr aufbieten.

»Du bist gekommen, weil Antakore aus Blut neues Leben verheißt.«

Davaron lächelte unverbindlich. Warum sonst sollte jemand nach Kharnam kommen, als um Blutmagie zu erlernen?

Die Priesterin kam näher. Im Gegensatz zu ihrer Herrin trug sie keine Rüstung, sondern ein dunkles Kleid, das die weißen Arme unbedeckt ließ. »Bist du wirklich bereit, alles zu tun, um deine tote Frau zu neuem Leben zu erwecken?«

Vergebens versuchte Davaron, sich nichts anmerken zu lassen. »Woher wisst Ihr das?« Nie hatte er jemandem erzählt, warum er die schwarzen Künste erlernen wollte. Lieber hatte er gelogen, als seine wahren Gründe zu verraten.

»Wir haben von deiner traurigen Geschichte gehört, Davaron von den Söhnen und Töchtern Piriths. Wir wussten, dass dich deine Suche zu uns führen würde.«

»Ihr könnt Eretheya zurückholen?« Davaron merkte, dass er wie ein aufgeregter Junge klang, und bemühte sich um Beherrschung. Rasch rief er sich die grausamen Szenen auf den Reliefen ins Gedächtnis. Er musste auf der Hut bleiben.

»Es steht nicht in unserer Macht, eine Seele aus dem Schattenreich zu rufen«, erwiderte Antakores Dienerin. »Um diese Gunst wirst du die Herrin selbst anflehen müssen. Vielleicht legt sie bei ihrem Vater ein gutes Wort für dich ein – wenn du dich als würdig erweist.«

War ja klar. Davarons Hoffnung fiel in sich zusammen wie der magische Flammenkreis. »Und was habt Ihr mir stattdessen anzubieten?«

»Setz dich.« Bestimmt und einladend zugleich deutete die Priesterin auf die Kissen zwischen den Körben und Kohlenbecken. »Othere wird es dir zeigen.«

Zwei andere Dienerinnen Antakores holten Öllampen aus den Nischen und stellten sie zu beiden Seiten einer dritten Priesterin auf, die sich auf einem der Kissen niedergelassen hatte. Sie musste wohl Othere sein, und aus irgendeinem Grund wollten die Frauen, dass er genau sah, was sie tun würde. Argwöhnisch wartete Davaron ab, bis sich keine Priesterin mehr hinter seinem Rücken befand – zumindest falls sich niemand irgendwo versteckte. Erst dann nahm er ebenfalls auf den Polstern Platz und rückte sein Schwert so zurecht, dass es mühelos hervorgleiten würde, wenn er daran zog.

Othere schien die älteste der Priesterinnen zu sein. Ihr kastanienbraunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und Davaron sah die kaum wahrnehmbare Erschlaffung der Lider, die mattere Haut, die kleinen Anzeichen, die das hohe Alter einer Elfe verrieten. Wie erbärmlich dagegen die Menschen dem Tod entgegenverfielen …

Das Aufblitzen einer Klinge zerschnitt den Gedanken. Erst jetzt fiel Davaron die unscheinbare dunkle Scheide an Otheres Gürtel auf. Wo hatte er nur seine Augen gehabt? Sie alle trugen die gleiche Waffe. Verbarg ein Zauber die Dolche vor den Blicken der Opfer? Unwillkürlich näherten sich seine Finger dem Schwertgriff, spannten sich Beine und Rücken zum Sprung. Doch die Priesterinnen schenkten ihm keine Beachtung. Eine von ihnen hob ein dunkelbraunes Lamm aus einem der Körbe. Sobald sie es aufnahm, begann es zu zappeln. Kurze Bocksbeine strampelten in der Luft herum. In Davarons Anspannung mischte sich Unbehagen. In den Elfenlanden war das Schlachten von Lämmern, Ferkeln und Kälbern verpönt. Das Sein hatte ihnen nicht das Leben geschenkt, damit man es ihnen wieder nahm, bevor sie ausgewachsen und selbst zu Eltern geworden waren. Nur so blieb der Kreislauf des Lebens erhalten. Dass Menschen gegen diese Regel verstießen, gehörte zu ihrer barbarischen Natur, aber Elfen …

Sie dienen der Tochter des Dunklen. Ihre ganze schwarze Magie verstieß gegen die Gebote des Seins. Gereizt verscheuchte er die eigenen Skrupel. Wenn er nicht bereit war, sich auf die Seite des Nichts zu schlagen, hätte er gar nicht erst herkommen sollen. Was kam es darauf an, ob ein dümmliches Schaf ein wenig länger sein dümmliches Leben führte? Niemand hatte seine Tochter gefragt, ob sie schon sterben wollte, und nun war sie tot. Er würde sie zurückbringen, auch wenn es hundert Leben kosten sollte.

Die Priesterin hatte das Lamm in Otheres Schoß gelegt, wo das Strampeln von einem Moment auf den anderen versiegte. Obwohl die Augen weit geöffnet waren, sank das Tier schlaff gegen den Körper der Priesterin. Fast schon behutsam bettete Othere das Lamm, sodass der Hals auf ihrem linken Arm zu liegen kam, und mit derselben Andacht führte sie den Dolch. Gebannt sah Davaron zu, wie die Klinge durch die Haut des Opfers schnitt. Er hatte eine schnelle Geste erwartet, nach der das Blut dramatisch über die Versammelten spritzte, doch stattdessen rann es nur auf Otheres Arm hinab und schlängelte sich in roten Bögen über die Haut.

Was würde nun geschehen? Welchem Zauber sollte der Tod des seltsam reglosen Lamms mehr Macht verleihen? Othere tat nichts. Sie saß einfach nur da und sah zu, wie ihr das Blut über den Arm floss. Ungeduldig rutschte Davaron auf seinem Kissen herum, bis ihm ihr abwesender Blick auffiel. Der Blick, der verriet, dass sie Magie anwandte. Und im gleichen Moment sah er es. Die Veränderung ging so langsam vor sich, dass sie ihm bis dahin entgangen war. Otheres Lider strafften sich. Die grauen Haare verschwanden, dunkelten von den Wurzeln her nach, bis sie mit dem rötlichen Braun der anderen Strähnen verschmolzen. Ihre Haut gewann den gesunden Schimmer der Jugend zurück, und Davaron begann zu begreifen, dass sie älter, viel älter war, als er sich auszumalen vermochte. Wie ein Schwamm sog sie die Lebenskraft des Lamms in sich auf. Schon sah er vor sich, wie Eretheyas mumifizierter Körper unter diesem Zauber zu neuer Schönheit erblühte. Wie die brüchige Haut wieder geschmeidig wurde. Wie sich die Lippen in neuer Fülle über die Zähne schoben und das schreckliche Totengrinsen verschwand. Alle Grausamkeiten, die der Tod ihrem Körper zugefügt hatte, würden von der Blutmagie rückgängig gemacht. Wenn es mir gelingt, sie aufzuerwecken.

Der Gedanke ernüchterte ihn ein wenig. Seine Skepsis kehrte zurück. »Seid Ihr sicher, dass ich die Lebenskraft auch auf andere übertragen kann?«

»Das hängt von deinem Talent ab und wird sich weisen, wenn wir dich unterrichten«, antwortete die Priesterin, die bislang als Einzige zu ihm gesprochen hatte.

Davaron betrachtete sie mit neuen Augen. Womöglich war sie Tausende Jahre alt. »Aber selbst, wenn es dir nicht gelingt, was wird dich daran hindern, deine Frau den Zauber zu lehren, sodass sie sich selbst zu heilen vermag?«

Wie er es auch drehte und wendete, alles setzte voraus, dass er sie zum Leben erweckte, dass er ihre Seele aus dem Schattenreich stahl. Aber wenn es so weit war, würde er die Blutmagie brauchen. »Welchen Preis verlangt Ihr dafür?«

Das Lächeln der Priesterin ließ Davaron an eine Spinne denken, die eine Fliege einlud, sich in ihrem Netz auszuruhen. »Du musst dich der Gnade unserer Herrin ausliefern. Nur dann wird sie geneigt sein, dir zu geben, was du suchst.«

»Das sind leere Worte«, erwiderte Davaron gereizt. »Sagt, was Ihr wollt!«

»Es gibt ein Ritual …«

Täuschte er sich, oder schauderte die Priesterin schon bei der Vorstellung?

»Wenn du es ausführst, werden wir deinen Wunsch erfüllen.«

Um Zeit zu gewinnen, stand Davaron auf. An diesem Angebot musste es einen Haken geben. Argwöhnisch versuchte er, in ihrer Miene zu lesen. »Wenn es selbst ein dahergelaufener Fremder wie ich durchführen kann, warum tut Ihr es nicht einfach selbst?«

»Weil es mich das Ewige Licht kosten würde.«

Davaron stutzte. Antakores Dienerinnen legten also keinen Wert darauf, sich nach dem Tod in das Reich ihrer Herrin zu begeben. Wie alle Elfen wollten sie ins Ewige Licht eingehen, um wiedergeboren zu werden. Was schert es mich? »Ihr frevelt doch ständig«, wandte er ein und deutete vielsagend auf Othere. »Habt Ihr Eure Seelen nicht längst verwirkt?«

Lächelnd näherte sich die Priesterin einem der abgedeckten Körbe und schlug das Tuch zurück. Anstelle eines weiteren Lamms kamen aufgeplatzte Eier zum Vorschein. Kleine Schlangen wanden sich aus den Schalen hervor. »Für jedes Leben, das ich nehme, stifte ich neues – ganz, wie es uns das Sein befiehlt.« Erneut richtete sich ihr Blick auf Davaron. »Doch was du für uns tun wirst, kann selbst mit tausend neuen Leben nicht gesühnt werden.«

Sie verlangt meine Seele. Fast hätte Davaron vor Bitterkeit gelacht. Was außer seiner Seele war ihm überhaupt noch geblieben? Und doch würde er sie geben – für Eretheya.

Athanor 4: Die letzte Schlacht

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