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III

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Damit ist die Fragestellung angedeutet, an der sich Grimmelshausen in den auf die Joseph-Histori folgenden Schriften immer wieder abmüht. Wachsende Skepsis gegenüber der Moralität der absolutistischen Staatsordnung führt ihn zu der nun viel grundsätzlicheren Frage: Gibt es überhaupt eine Ordnungsform des menschlichen Zusammenlebens, die zu ihrer „Selbsterhaltung“ (ratio status) nicht in Konflikt mit vorrangigen moralischen Prinzipien gerät? Sowohl der Simplicissimus Teutsch als auch die späte Histori Proximus und Lympida bieten hierzu differenzierte Lösungsversuche an, die, wie die Joseph-Histori, ein erstaunlich hohes Maß an politikwissenschaftlicher Einsicht aufweisen. Ich kann in diesem Rahmen nur einige vorläufige Textbeobachtungen wiedergeben, die das Thema keineswegs erschöpfen.

Die politische Fragestellung ist im Simplicissimus zwar nicht die vorherrschende, doch enthält, auffällig genug, jedes der fünf Bücher einen Beitrag zum Problem einer gerechten, vor göttlichem und natürlichem Recht verantwortbaren Sozialordnung, und zwar in der für Grimmelshausen typischen Form des Diskurses. Diese Diskurse strukturieren nun ihrerseits die ganze Histori und ergeben, wie mir scheint, eine zusammenhängende politische Argumentation. Die besondere Erzählperspektive (aus der Sicht des Untertanen) ermöglicht ihm dabei, anders als in der Joseph-Histori, eine grundsätzlich an den konkreten Auswirkungen orientierte Kritik vorfindlicher und vorstellbarer Sozialordnungen.

Der politische Diskurs des ersten Buches ist als „Traum vom Ständebaum“ bekannt. Mit Blick auf die zeitgenössische Staatstheorie gelesen, erweist sich dieser Diskurs als Ausgangsbasis für die dann folgenden Ordnungsüberlegungen: Er führt die menschliche Sozietät in ihrem Naturzustand vor. Der Traum veranschaulicht den vernunftwidrigen, weil affektgetriebenen Zustand des homo homini lupus, des Krieges aller gegen alle. Wie die frühabsolutistischen Staatstheoretiker, etwa Contzen oder Hobbes, geht auch Grimmelshausen von einem vernunftwidrigen gesellschaftlichen Zustand des Menschen aus. Er verschärft diese Position des homo homini lupus (Hobbes), des homo animal morosum, mutabile, versutum, tectum, pervicax (Contzen) jedoch noch dadurch, daß er die vorgefundene ständische Gliederung, d.h. die vorgefundene geburtsmäßige Ungleichheit, Adel und Nobilistensucht, unter die Vernunftwidrigkeiten rechnet.

Im zweiten Buch nimmt der Autor in der Form des Narrendiskurses das Ständeproblem noch einmal auf und dehnt es auch auf den Regentenstand aus: „Von dem müheseeligen und gefährlichen Stand eines Regenten“ (93).98 Am Beispiel des Hanauer Regenten wird der Regentenstand insofern als vernunftwidrig hingestellt, als er blind, ohne Selbsterkenntnis, auf eigennützigen Machtgenuß und auf Machtsicherung gegenüber Konkurrenten aus ist:

dein gantzes Leben [ist] nichts anders als ein immerwährende Sorg und Schlaffbrechens/dann du must Freund und Feind förchten/die dich ohn Zweiffel/wie du auch andern zu thun gedenckest/entweder umb dein Leben/oder umb dein Geld/oder umb deine Reputation, […] oder umb sonsten etwas zu bringen nachsinnen […]. Ich geschweige hier/wie dich täglich deine brennende Begierden quälen/und hin und wider treiben/wenn du gedenckest/wie du dir einen noch grössern Nahmen und Ruhm zu machen/höher in Kriegs-Aemptern zu steigen/grössern Reichthum zu samlen/dem Feind einen Tuck zu beweisen/ein oder ander Ort zu überrumpeln/und in Summa fast alles zu thun/was andere Leut geheyet/und deiner Seelen schädlich/der Göttlichen Majestät aber mißfällig ist! […] wann alles wol mit dir abgehet/so hastu auffs wenigste sonst nichts/das du davon bringest/als ein böß Gewissen; Wirstu aber dein Gewissen in acht nemmen wollen/so wirstu als ein Untüchtiger bey Zeiten von deinem Commando verstossen werden […]. (125ff.)

Im natürlichen Zustand des Krieges aller gegen alle zur Befriedigung der eigenen Interessen und zur Gewährleistung der eigenen Selbsterhaltung ist moralisches Verhalten unmöglich; dieser Zustand wird als ausweglos dargestellt. Moralität des politischen Verhaltens ist im Sinne der frühabsolutistischen Staatslehre erst dann möglich, wenn überindividuelle bzw. überständische Ziele das politische Handeln leiten, wenn das Wohl der gesamten Sozietät, dessen Maßstab das Wohl des „gemeinen Mannes“ ist, den Vorrang hat vor den Partikularinteressen einzelner Stände.99

Einen solchen Staat entwirft Grimmelshausen diskursiv im dritten Buch in der sogenannten Jupiterepisode (Cap. 3–6). Es ist das Bild eines absolutistisch-zentralistisch regierten Machtstaates, der auch hier die Beseitigung der ständischen Herrschaft, also die Beseitigung von Privilegien und Ungleichheit zur Voraussetzung hat, von einem absoluten Herrscher mit Hilfe seiner von ihm eingesetzten Verwaltung – einer Auswahl aus den „klügsten und gelehrtesten Männern“ (212) – regiert wird, das Konfessionsproblem, das ein friedliches Zusammenleben stört, im Sinne einer „geläuterten“ irenischen Staatsreligion löst und durch ein umfassendes Bündnissystem den Frieden in Europa sichert. Auf Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen, möchte nur anmerken, daß der gesamte Diskurs große Ähnlichkeit mit dem „Grand Dessin“ des entmachteten Beraters des ersten Bourbonenherrschers Heinrich IV., des Herzogs von Sully aufweist, dabei jedoch die europäische Vormachtstellung Frankreichs in eine solche der „Teutschen Nation“ transponiert.100 Freilich: dieser Entwurf einer monarchischen Staatsordnung auf der Basis von iustitia und aequitas wird als eine Utopie, als ein Narrendiskurs ausgewiesen. Eine Instanz, die diesen Plan realisieren könnte, ist im Rahmen der Histori nicht zu finden; der „natürliche“ Krieg aller gegen alle geht weiter.

Die politischen Diskurse des vierten Buches bieten als Alternativen nur das Parasitenleben der Merodebrüder (Cap. 13) oder das des Räubers (Cap. 15–17), der, um zu überleben, „deß andern Todt“ sucht (335f.) und seine ratio status wie Olivier mit Berufung auf Machiavelli als die durchgängig praktizierte und praktizierbare rechtfertigt:

mein dapfferer Simplici, ich versichere dich/daß die Rauberey das aller-Adelichste Exercitium ist/das man dieser Zeit auff der Welt haben könnte! Sag mir/wie viel Königreich und Fürstenthümer sind nicht mit Gewalt erraubt und zu wegen gebracht worden? Oder wo könnte einem König oder Fürsten auff dem gantzen Erdboden vor übel auffgenommen/wenn er seiner Länder Intraden geneust/die doch gemeinlich durch ihrer Vorfahren verübten Gewalt zu wegen gebracht worden? Was könnte doch Adelicher genennet werden/als eben das Handwerck/dessen ich mich jetzt bediene? […] Mein lieber Simplici, du hast den Machiavellum noch nicht gelesen […]. (338)

Ob der Einwand des Simplicius berechtigt ist, daß nämlich eine solche Lebensform gegen göttliches, natürliches und positives Recht verstoße und darum unmoralisch sei, hält Olivier für eine Frage der Macht:

du bist noch Simplicius, der den Machiavellum noch nit studirt hat/könnte ich aber auff solche Art eine Monarchiam auffrichten/so könnte ich sehen/wer mir alsdenn viel darwider predigte. (339)

Die „böse“, „gottlose“ ratio status ist jedoch für Grimmelshausen wie für die theologisch begründete absolutistische Staatstheorie seiner Zeit unmoralisch und daher keine politische Alternative.

Die politischen Diskurse des fünften Buches befassen sich daher folgerichtig mit den anthropologischen Vorbedingungen für eine moralische Lebensform, die entsprechend der Contzenschen Formulierung gewährleistet, „ex Dei lege gerere Rempublicam, iustitiam, aequitatemque tueri“. Die geradezu experimentell angelegte Konstruktion des Sylphenreiches in der Mummelsee-Episode (Cap. 10–17) führt zu dem Resultat, daß eine konfliktfreie Sozialordnung nur denkbar ist bei Lebewesen, die keine Freiheit zur Sünde, keine Wahl zwischen moralisch richtigem und falschem Verhalten haben. Die Sylphen sind „keiner Sund/und dannenhero auch keiner Straff/noch dem Zorn Gottes/ja nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen“ (417), und da jeder einzelne seiner gottgewollten, d.h. natürlichen Bestimmung entsprechend lebt, ist das Sylphenreich, politisch betrachtet, herrschaftsfrei: sie haben „ihren König nicht/daß er Justitiam administriren/noch daß sie ihm dienen sollten/sondern daß er wie der König oder Weissel in einem Immenstock/ihre Geschaffte dirigiere“ (418). Im menschlichen Bereich ist jedoch nach Grimmelshausen eine solche Voraussetzung zum friedlichen, herrschaftsfreien Zusammenleben aufgrund der andersartigen conditio humana, der Freiheit zur Sünde, zu sozialschädlichem Verhalten und der daraus resultierenden Notwendigkeit von Herrschaft nicht gegeben. Das Bild von den „Weltliche[n] hohe[n] Häupter[n] und Vorsteher[n]“, die in einer friedlich zusammenlebenden, ständisch gegliederten Sozietät „allein ihr Absehen auff die liebe Justitiam [haben], welche sie dann ohne Ansehen der Person einem jedwedem/Arm und Reich/durch die Banck hinauß schnur-gerad ertheilen und widerfahren lassen“ (426), kann daher keine in die Zukunft weisende Utopie sein, sondern ist Satire, da ja auch der Herrscher der conditio humana unterworfen ist und ein übermenschlicher „Teutscher Held“ ausbleibt.

Ein friedliches Zusammenleben ist, wenn überhaupt, nur außerhalb der staatlichen Ordnung möglich, und zwar in einer kleineren religiösen Sozietät, die durch strenge Selbstdisziplin die Freiheit zur Sünde einzuschränken sucht und so der conditio humana in besonderer Weise Rechnung trägt. Grimmelshausen veranschaulicht diese Überlegung am sehr positiv dargestellten Beispiel der Ungarischen Wiedertäufer (Cap. 19), jedoch im Rahmen der Histori scheidet auch diese Alternative aus; konfessionelle Gründe und die Aussichtslosigkeit, Gesinnungsgenossen zu finden, halten Simplicius von der Verwirklichung eines solchen Planes ab.

So bleibt nur noch die Lebensform der Einsiedelei, die allerdings wegen der hohen Anforderungen an die Selbstdisziplin auch wieder problematisch wird. Doch hat Grimmelshausen mit diesem Schritt die Ebene der politischen Argumentation bereits verlassen. Als Ergebnis der politischen Diskurse bleibt somit festzuhalten: die absolutistische Staatsform bietet, aus der Perspektive des Untertanen, keine Möglichkeit zu einem friedlichen, an den Prinzipien des göttlichen und natürlichen Rechts orientierten Leben, und andere realisierbare soziale Ordnungsformen sind für Grimmelshausen zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht auszumachen.

Diese grundsätzliche Skepsis hat Grimmelshausen auch in seiner späten Histori Proximus und Lympida nicht aufgegeben; jedoch gelangt er hier, wiederum in Auseinandersetzung mit der absolutistischen Staatsauffassung, zu einer anderen, von der frühabsolutistischen Staatslehre abweichenden Lösung. Auch hier wird (in einer „Vorrede“) zunächst ein düsteres, endzeitlich-chaotisches Panorama des Krieges aller gegen alle entworfen, wiederum in der christlichen Heilsgewißheit,101

daß dannoch der Allmächtige Gott die seinige/die ihn lieben/förchten/ehren und ihm dienen/[…] wunderbarlicher weiß erhalte/durchbringe/beschütze/beschirme/und endlich nach ihrer Beständigkeit/gleichsamb wie durch das Fewr probiert und geläutert/durch die Wellen des ungestümmen Meers dieser Welt/zu dem verlangten sicheren Gestad der ewigen Seeligkeit glücklich anlande. (16)

Die folgende Histori zeigt dann auch exemplarisch, am Beispiel des letztlich unaufhaltsamen Aufstiegs des verarmten, aber tugendhaften Adeligen Proximus in den Stand eines regierenden Fürsten, die Wirksamkeit der providentia Dei, der „gütigen Vorsehung des allmächtigen“ (127) auch im politischen Bereich.102 Das entspricht der antimachiavellistischen Argumentation der Joseph-Histori. Jedoch ist hier die Möglichkeit, gemäß der theologisch fundierten frühabsolutistischen Staatsauffassung als Politiker moralisch handeln zu können, nicht mehr so optimistisch beurteilt wie in der Joseph-Histori von 1666; andererseits gibt sich Grimmelshausen auch nicht mehr mit der bloßen Aporie des zugleich moralischen und politischen Handelns zufrieden, die er im Musai dargestellt hatte. Hinzu kommt, daß er auch die im Simplicissimus erwogene Alternative der Einsiedelei mitreflektiert und ausdrücklich ausscheidet; Proximus wird von seinem Vater zu einem dem Evangelium gemäßen Leben in der Welt gemahnt:

Du wirst und sollest zwar kein Monachus oder Einsidler werden/wie ich etwan auch selbst einmal zuthun gesinnet/sintemahl du auch mitten in der unruhigen gottlosen Welt ein stilles Gott wolgefälliges Leben führen kanst […]. (83f.)

Damit hat Grimmelshausen seine Argumentationsmöglichkeiten weiter eingeschränkt und die Frage nach der Moralität der absolutistischen Ordnungsform menschlichen Zusammenlebens verschärft. Die Alternative, die er in diesem Spätwerk anbietet, geht denn auch über die bisherigen Lösungsversuche hinaus: er stellt der absolutistischen Ordnungsform die republikanische gegenüber.

Als der fromme Fürst Proximus erkennt, daß er, um sich und seine Herrschaft zu erhalten, d.h. seiner ratio status gemäß zu handeln, in Konflikt mit seinem kaiserlichen Lehnsherrn und dessen konfessionell verbrämter Machtpolitik gerät, weicht er den machtpolitischen Konsequenzen seines Regentenamtes aus und resigniert; er tritt sein Fürstentum dem kaiserlichen Kronprinzen „gegen Darlegung eines grossen Stück bares Geltes“ (141) ab, „versilbert“ auch das Erbteil seiner Gemahlin Lympida und begibt sich mit seiner Familie und seinem Vermögen in die Republik Venedig, wo er „leütseelig“ aufgenommen wird, „weil er sich mit so ansehnlichen bey sich habenden Mittlen zu ihnen einzukauffen mehr als genugsamb versehen befande“ (141). Er stellt sein Vermögen ganz in den Dienst der ratio status der Republik: er legt das „Fundament“ zum „annoch vorhandenen allgemeinen“ Staatsschatz, er stiftet „zur Beförderung des Gottes Diensts“ Kirchen und steuert aus seinen Mitteln bereitwillig bei, „was etwan des gemeinen Wessens Erhaltung hie/da unnd dort zu seiner Beschütz: vnd Auffnemmung bedes durch Waffen unnd in andere Weg erforderte“ (141). Diese vorbehaltlose Orientierung am Gemeinwohl bewirkt, daß „er: der erst ankommene Frembtling/bey derselben Republic denen alten Geschlechtern/als der aller-getrewste Patriot/wo nicht vorgezogen/doch ihnen gleich geschätzt“ wird. Daß auch sein nichtadeliger Gefährte Modestus „in die Zahl der alten edlen Geschlechter“ aufgenommen wird, ist in der Histori eine weitere Konsequenz aus dem in diesem Staate geltenden Gleichheitsprinzip, das nicht auf dem Geburtsadel beruht, sondern auf dem rechtmäßig, durch göttliche Vorsehung und persönliche Tugend erworbenen, dem Gemeinwohl verpflichteten (Geld)Vermögen.

Die Frage nach einer Ordnungsform der menschlichen Sozietät, die zu ihrer „Selbsterhaltung“ nicht in Konflikt mit vorrangigen moralischen Prinzipien gerät, wird demnach von Grimmelshausen in dieser Histori im Unterschied zum Simplicissimus positiv entschieden. Der Staat, der Moralität ermöglicht, ist die Republik der gleichberechtigten, strikt am Gemeinwohl orientierten Patrioten. Allerdings übersieht der Autor nicht, daß dieses gleiche Recht nur eine Funktion des (Geld) Vermögens sein kann. Ist diese Bedingung erfüllt, dann ist, wie er resümierend feststellt, ein herrschaftsfreies Zusammenleben möglich:

Haben also der edel Proximus und seine vnvergleichliche Lympida an disem Ordt eine ihrem Sinn vnd Humor nach/allerbequembste Statt gefunden/allwo sie geruewiglich beydes Gott vnd den Menschen: den Armen privat Persohnen vnd dem gemeinen Wessen dienen konden/wo sie weder mit Regierung über andere sich bemühen dörffen noch mit vnderthänigen Diensten einem tyranischen Gewalt zugehorsammen gezwungen waren […]. (142)

Daß Grimmelshausen hier keine Staatsutopie skizzieren will, sondern in den realen politischen Verhältnissen der Republik Venedig eine Alternative zur absolutistischen Staatsform erblickt, geht auch daraus hervor, daß er abschließend das Venedig seiner Histori in das Venedig der zeitgenössischen staatstheoretischen Diskussion überführt. Er belegt seine Auffassung mit einem Zitat aus dem Venedig-Kapitel in Georg Hornius’ Orbis politicus (1669). Für den Staatsrechtler Hornius aber ist die Republik Venedig103

ein vollkommenes Muster einer allervollkommenesten Republique/und könnte von Menschlichem Verstande nichts ersonnen werden/was Solche nicht allbereit beobachtet und ihr zu Nutze gemacht hätte: Je näher nun eine jede Republique der Venetianischen kommet/ie vollkommener sie zuhalten ist.

Hornius steht mit dieser Auffassung nicht allein. Abgesehen davon, daß der Venezianer Garzoni als ein Gegner der absoluten Erbmonarchie bei all seiner Ausgewogenheit in der Darstellung politischer Sachverhalte die „Venedische Republica“ als vorbildlich rühmt,104 kann sogar Contzen, der rigorose Verfechter der absoluten Monarchie, die Vorzüge dieser Republik nicht in Abrede stellen und muß die Republik Venedig zumindest als Ausnahme gelten lassen.105

Ein Vergleich mit diesen und anderen staatstheoretischen Quellen macht deutlich, daß Grimmelshausen auch in den Einzelheiten seiner Venedigdarstellung sehr genau informiert ist, so etwa hinsichtlich der patriotischen ratio status, des Staatsschatzes, der Nobilitierung aufgrund des Vermögens, der ungestörten Religionsausübung bei grundsätzlich römisch-katholischer Staatsreligion, der im damaligen Europa als vorbildlich geltenden sozialen Einrichtungen. Noch im frühen 18. Jahrhundert gilt aus ebendiesen Gründen die Republik Venedig „als ein Wunderwerck und rechtes Muster von einer wohlbestellten Policey“, als „herrlichste und berühmteste“ Republik in Europa.106

Dennoch wird man Grimmelshausen in dieser Frage noch nicht als Vertreter des frühaufklärerischen Staatsdenkens bewerten dürfen. Er bleibt bei der älteren theologisch fundierten Staatsauffassung. Es hat seine Entscheidung für die republikanische Alternative zur absolutistischen Staatsform sicherlich erleichtert, daß er auch diese Alternative theologisch begründen kann. Wie aus den Schlußsätzen der Histori hervorgeht, verweist ihn die Republik Venedig auf die christliche Utopie des „Himmlischen Jerusalem“, dessen „Bürger vnd ewige Inwohner“ ebenfalls keiner Herrschaft mehr unterworfen sind. Seine sarkastische Kritik am Absolutismus französischer Provenienz am Schluß des Rathstübel Plutonis107 versteht sich von diesen Ergebnissen seines politischen Nachdenkens her fast von selbst.

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