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III

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Der Simplicissimus bringt ein Jahr später die Fortsetzung des Kriegsdiskurses mit erzählerischen Mitteln. Maßstab zur Beurteilung der scheinchristlichen Gesellschaft, die sich im Kriege eingerichtet hat und sich dabei selbst zerstört, ist ausdrücklich „das Gesetz vnd Evangelium/sampt den getreuen Warnungen Christi“137, näherhin das Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt, auf die sich auch Erasmus berufen hatte138:

Christus spricht/lieber eure Feinde/segnet die euch fluchen/thut wol denen die euch hassen/bittet vor die so euch beleydigen und verfolgen/auff daß ihr Kinder seyt euers Vatters im Himmel […]. Aber ich fande nicht allein niemand/der diesem Befelch Christi nachzukommen begehrte/sondern jedermann thät gerad das Widerspil […].

Dieser Maßstab wird durch ein naiv beobachtendes, noch unverbildetes Kind an die verkehrte Welt des „Teutschen Krieges“ herangetragen. Auch dieses Modell konnte Grimmelshausen bei Erasmus finden, der zur Veranschaulichung des Widerspruchs von menschlicher Bestimmung und Kriegspraxis einen solchen „newen gast“ einführt139:

Nuon thuo eins vnd erdenck ettwan ein newen gast/auß den stetten in Moene gelegen/da Empedocles jnne wonet/oder sunst auß einer welt […] in vnser welt komenn sei/der da beger zuo wissen was man hie thuo. So er nuon aller ding bericht hoeren würde […]. Darnach als er das gantz leben Christi/vnd auch sein gebott erlernt/begere von einer hochen warte zuo sehen/alles das er gehoert hett/[…] solt der nitt ein yedes thier dauon ergehoert hett/ehe ein menschen sein achten/dann eben den menschen? Demnach so er von einem Zeiger bericht welchs der mensch were/hin vnd wider sehen würde/wo die schar der Christen were/die des hymelschen lerers fürnemen nachuolgten/[…] ob er nit die christen sunst an einem yeden andern ort zuo wonen gedencken solt/dann in den gegenten/darinn er solch reichtumb/vberfluß, fleischlich begir/hochmuot/tyranney/vnmessig eer geitzigkeit/betrug/haß/zorn/vneinigkeit/zanck/streit/krieg/auffruor/vnd mit der kürtz aller ding die Christus hasset/[…] [sieht]?

Simplicius kann sich in diese verkehrte Welt „nicht schicken“140. Um zu überleben, kann er jedoch, wegen solch fundamentaler Kritik zum Narren zugerichtet und ins Kalbsfell gesteckt, auch für sich selbst die urchristlichen Prinzipien nicht lange durchhalten; schon bald zum Kriegsdienst gezwungen, ist er ständig in Gefahr, seinen Glauben an die Güte Gottes und die Verbesserbarkeit der Welt im Sinne der Bergpredigt durch das eigene Verhalten zu widerlegen. Sein Durchgang durch die Schrecken und Laster des Krieges veranschaulicht und bestätigt im ersten und zweiten Buch in allen „Particularitäten“ die Zustandsbeschreibung des Erasmus. Der Gesang der Nachtigall, im Lied des Einsiedels gedeutet als Lob der Natur auf ihren Schöpfer, wird dem „Geschrey der getrillten Bauren“ im Bereich der naturentfremdeten Menschen bzw. Christen gegenübergestellt. Nur der Vater des Simplicius verläßt die Gesellschaft kriegerischer Scheinchristen: der einzige Christ im Sinne der erasmianischen Friedensschriften. Die Suche nach der eigenen Identität ist für Simplicius mit zunehmender Bewußtheit die Suche nach Möglichkeiten eines friedlichen Lebens: Jupiterepisode (III, 3–6), Mummelsee-Episode (V, 12–16), die Reflexionen über die Lebensform der Ungarischen Wiedertäufer (V, 19), Traum vom höllischen Reichstag (Cont. 2–8) führen zu der resignierenden Einsicht, daß auf ein friedliches Zusammenleben der Christen in Europa wie der Menschheit insgesamt nicht zu hoffen ist und ein christliches Leben unter glücklichen Umständen „gantz wunderbarlicher weiß“ nur dem Einzelnen, dem Einsiedler, möglich ist, fernab von der unverbesserlichen Kriegsgesellschaft141. Der christliche Pazifismus des Erasmus ist damit auf seinen Kern, Wunschdenken, reduziert.

Der erste Anstoß dazu kommt von außen. Auf dem Höhepunkt seiner Kriegsverfallenheit begegnet der „Jäger von Soest“ dem „überstudierten Narren“, der sich einbildet, der auf die Erde herabgestiegene höchste Gott Jupiter zu sein und die Menschen für ihre Laster mit Krieg strafen zu müssen. In dieser erzählerischen Versuchsanordnung wird die herrschende Lehre gleich in zwei zentralen Punkten der satirischen Kritik überantwortet: einmal die Hoffnung, daß der moderne Fürstabsolutismus (auf ihn bezieht sich im Sinne der zeitgenössischen Herrscherpanegyrik die Jupiter-Allegorie142) und sein zentralistisches Staatswesen die Pazifizierung der europäischen Christenheit bringen werde, zum anderen die mit der absolutistischen Herrschaftsauffassung verknüpfte und neu bestärkte theologische Rechtfertigung des Krieges als einer Hauptstrafe Gottes zur Besserung der Menschen. Das Theodizee-Argument, das nicht „ahn sich selbst“, sondern nur für den einzelnen Gläubigen Überzeugungskraft hat, führt nach der bisherigen Lebenserfahrung des Simplicius in Aporien143:

Ach Jupiter, deine Mühe und Arbeit wird besorglich allerdings umbsonst seyn/[…] dann schickest du einen Krieg/so lauffen alle böse verwegene Buben mit/welche die friedliebende fromme Menschen nur quälen werden; schickestu eine Theurung/so ists ein erwünschte Sach vor die Wucherer/weil alsdann denselben ihr Korn viel gilt; schickestu aber ein Sterben/so haben die Geitzhäls und alle übrige Menschen ein gewonnen Spiel/in dem sie hernach viel erben; wirst derhalben die gantze Welt mit Butzen und Stil außrotten müssen/wenn du anders straffen wilt.

Bei einem späteren Zusammentreffen mit dem Narren in dessen Heimatstadt Köln, dem Zentrum traditionalistischer Theologie, kurz vor dem Friedensschluß von 1648 muß Jupiter denn auch selbst eingestehen, daß dieses Argument sich ad absurdum geführt hat. Die göttlichen Hauptstrafen haben nicht nur nicht zur Besserung der Menschen geführt, sondern diese noch viel schlimmer gemacht. Krieg und Frieden werden von den Menschen, insbesondere den gemeinen Leuten, auch gar nicht mehr unter dem Aspekt von Strafe und Lohn beurteilt, sondern unter dem Aspekt des materiellen Nutzens144, Jupiters Drohung geht ins Leere. Entsprechend kommt der höllische Reichstag nach dem Friedensschluß von Münster zu dem Resultat, daß für den Teufel Krieg und Frieden in gleicher Weise einträglich seien145: „könnte den Menschen/und zwar den Christen/ein geruhiger Fried/welcher den Wollust auf dem Rucken mit sich bringt/nicht schädlicher seyn als Mars?“

Damit ist aber nicht nur dem Hauptstrafen-Argument der Boden entzogen, sondern auch dem Friedensappell des Erasmus an die christlichen Fürsten, mit den Mitteln der Politik Frieden zu schaffen. Der Plan zur Pazifizierung der Welt, den Jupiter dem skeptischen Simplicius bei der ersten Begegnung entwickelt, sollte daher als Satire auf die mit dem absolutistischen Staat verbundenen Friedenshoffnungen verstanden werden146. Jupiter entwickelt die Utopie eines zentralistischen deutschen Machtstaats unter einem Führer, dem „Teutschen Helden“, der mit einer Hochenergiewunderwaffe die Herrschaft über die damalige Welt erringt und ein ewiges Friedensreich auf der Basis von sozialer Gleichheit begründet und durch eine vereinheitlichte Staatsreligion ideologisch absichert. Simplicius interessiert sich nicht so sehr für die sozialen und kulturellen Errungenschaften des Plans, sondern veranlaßt Jupiter durch geschickte Fragen, die brutalen Mittel zur Erreichung dieses ldealstaates preiszugeben: der Teutsche Held wird zunächst den Widerstand der alten ständischen Gewalten gegen seine politische Neuordnung Deutschlands und Europas brechen, indem er seinen Gegnern „auff einmal die Köpf herunder hawen“ wird, „also daß die arme Teuffel ohne Köpf da ligen müssen/ehe sie einmal wissen wie ihnen geschehen!“147 Ebenso wird er in den eroberten Gebieten „allen Zauberern und Zauberinnen […] die Köpf herunder hauen“ und auch „alle Mörder/Wucherer/Dieb/Schelmen/Ehebrecher/Huren und Buben auff die vorige Manier umbbringen“, auch diejenigen, die Widerstand leisten, „hinrichten“, gleichfalls die verrucht lebenden Fürsten, während die kriegerischen Fürsten mitsamt allen „Kriegsgurgeln in gantz Teutschland“ ins unterworfene Osmanische Reich deportiert werden sollen. Ähnlich blutrünstig wie die machtpolitischen Probleme werden die religiösen geregelt. Wer die vom „Teutschen Helden“ mit Drohung und Gewalt zustandegebrachte „geläuterte“ Einheitsreligion nicht anzunehmen bereit ist, „den wird er mit Schwefel und Bech martyrisiren/oder einen solchen Ketzer mit Buxbaum bestecken/und dem Plutone zum Neuen Jahr schencken“148.

Der von Jupiter verkündete starke teutsche Friedensstaat ist folglich ein egalitärer Zwangsstaat der schlimmsten Art. Stärker als andere Utopisten der frühen Neuzeit betont Grimmelshausen den mörderischen Weg zu einer neuen, den „Universal-Frieden der gantzen Welt“ garantierenden politischen Ordnung. Im vorgegebenen Rahmen der politischen Allegorisierung der olympischen Götter ist darüber hinaus auch eine satirische Kritik der an der politischen Neuordnung beteiligten Personen, Fürst und Hofstaat, möglich; Grimmelshausen nutzt diese Möglichkeit, um zu zeigen, daß das politische Reformkonzept schon aufgrund der menschlichen Schwächen von Regent und Hofstaat unrealistisch ist. Simplicius provoziert Jupiter mit den Topoi der moralischen Mythologiekritik; die Olympier hätten bei den Menschen „allen Credit verloren“149:

du selbst/sagen sie/seyest ein Filtzlausiger Ehebrecherischer Hurenhengst/mit was vor Billichkeit du dann die Welt wegen solcher Laster straffen mögest? […] Mars sey ein Mörder und Rauber; Apollo ein unverschämter Huren=Jäger; Mercurius ein unnützer Plauderer/Dieb und Kuppler/Priapus ein Unflat/Hercules ein Hirnschälliger Wüterich/und in Summa die gantze Schaar der Götter sey so verrucht/daß man sie sonst nirgends hin als in deß Augei Stall logiren könnte/welcher ohne das durch die gantze Welt stinckt.

Mit einer Kanonade von Verwünschungen über die aufsässigen Menschen, seine Untertanen, bestätigt Jupiter den Verdacht des Simplicius; er droht mit drakonischen Zwangsmitteln; vom Idealstaat seines Teutschen Helden ist nicht mehr die Rede – der Unterschied ist realiter auch nicht groß. Und wenn Jupiter, der allegorische Inbegriff des absoluten Herrschers, schließlich vor den Augen der Soldaten „ohn einige Scham“ die Hosen herunterläßt, um sich seinen Flöhen zuzuwenden, „welche ihn/wie man an seiner sprencklichten Haut wol sahe/schröcklich tribulirt hatten“, dann ist der Anblick dieser bemitleidenswerten menschlichen Jammergestalt zugleich eine Antwort darauf, was von seinem Reformkonzept zu halten sei: nichts. Grimmelshausen desillusioniert die idealistische Selbstüberschätzung der „Götter dieser Welt“ und des absolutistischen Machtstaates als der angeblichen Voraussetzung für Frieden im Innern und nach außen.

Diese skeptische Einschätzung der menschlichen Friedensfähigkeit unter den konkreten politischen Bedingungen der Zeit wird in der Mummelsee-Episode (V, 10–17) ins Grundsätzliche erweitert. Die Erforschung des Sylphenreiches in der Tiefe des mit allen Gewässern der Erde verbundenen Schwarzwaldsees führt auch in der Frage nach Überwindbarkeit des Krieges ins „Centrum terrae“. Die von Erasmus beschworene naturhafte Friedensordnung, das ergibt sich aus der Befragung des Sylphenprinzen durch Simplicius, ist reklamierbar nur für Lebewesen, die keine Freiheit zur Sünde, keine Wahl zwischen moralisch richtigem und falschem Verhalten haben. Dies trifft für die paracelsischen Sylphen zu, die gemäß ihrem niederen Rang in der göttlichen Schöpfungsordnung (Engel-Mensch-Sylphen-Tier) „keiner Sünd/und dannenhero auch keiner Straff/noch dem Zorn Gottes/ja nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen“ sind, die in ihrem außermoralischen, nur auf „diese Zeitlichkeit“ beschränkten Status herrschaftsfrei und in Frieden leben können150. Dem Menschen jedoch, der mit einer unsterblichen Seele und Willensfreiheit zu deren Bewährung ausgestattet ist, geht die instinktartige Sicherheit des Verhaltens der Sylphen ab; die Freiheit auch zu sozialschädlichem Verhalten impliziert die Notwendigkeit von Herrschaft und schränkt die Möglichkeit eines friedlichen, herrschaftsfreien Lebens grundsätzlich ein.

Der Kriegszustand der menschlichen Gesellschaft ist somit eine Folge der Willensfreiheit und wie die Freiheit zum Bösen nicht aufhebbar. Alternativen zur solchermaßen beschränkten condicio humana sind zwar vorstellbar, würden aber den Menschen als Gattung überfordern und werden durch die Realität der Romanhandlung ständig widerlegt. Das ideale Bild, das Simplicius vor dem Sylphenkönig von seiner Zeit entwirft, daß nämlich die „Weltliche hohe Häupter und Vorsteher“ in einer friedlich zusammenlebenden Sozietät „allein ihr Absehen auf/die liebe Justitiam [haben], welche sie dann ohne Ansehen der Person einem jedwedern/Arm und Reich/durch die Banck hinauß schnurgerad ertheilen und widerfahren lassen“151, kann daher keine in eine bessere Zukunft weisende Utopie sein, da es die Menschen zu Sylphen degradiert. Grimmelshausen nimmt, indem er von Simplicius die Verkehrtheit der Menschenwelt satirisch darstellen läßt, die menschliche Willensfreiheit ernst, nicht nur wie Erasmus deren positive Aspekte, sondern gerade auch deren unaufhebbare negative Seite. Das ermöglicht ihm schließlich einen glaubwürdigen Zugang zum Theodizee-Argument152:

Was könnte die Güte Gottes davor/wenn euer einer sein selbst vergisset […]/seinen viehischen Begierden den Ziegel schiessen läst/sich dardurch dem unvernünfftigen Viehe/ja durch solchen Ungehorsam gegen Gott/mehr den höllischen als seeligen Geistern gleich macht? Solcher Verdammten ewiger Jammer/worein sie sich selbst gestürtzt haben/benimmt drum der Hoheit und dem Adel ihres Geschlechts nichts/sintemal sie so wol als andere/in ihrem zeitlichen Leben die ewige Seeligkeit hätten erlangen mögen/da sie nur auff dem darzu verordneten Weg hätten wandlen wollen.

Bleibt noch die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens innerhalb einer kleineren, außerstaatlichen Sozietät zu erwägen, die freiwillig, durch strenge Selbstdisziplin die negativen Aspekte der Willensfreiheit einschränkt und in Abkehr von der verkehrten Welt in Frieden lebt. Simplicius „erfindet sich“ daher eine Art zu leben, „die mehr Englisch als Menschlich seyn könnte“; er orientiert sich dabei sehr konkret an der „Manier“ der Wiedertäufer und der jüdischen Esseer153:

da war kein Zorn/kein Eifer/kein Rachgier/kein Neid/kein Feindschafft/kein Sorg umb Zeitlichs/kein Hoffart/kein Reu! Im Summa/es war durchauß eine solche liebliche Harmonie, die auff nichts anders angestimbt zu seyn schiene/als das Menschlich Geschlecht und das Reich Gottes in aller Erbarkeit zu vermehren […].

Simplicius verwirft diese Möglichkeit als für ihn aufgrund äußerer (politisch-konfessioneller) und innerer Widersprüche (idealistische Überforderung der menschlichen Natur) nicht realisierbar. Selbst die nun noch verbleibende Möglichkeit der Einsiedelei auf dem Mooskopf wird als eine solche Überforderung veranschaulicht und eingeschränkt. Die „mehr Englisch als Menschliche“ zweite Einsiedelei auf der exotischen Kreuzinsel setzt, wie die Continuatio folgerichtig zeigt, eine besondere Begnadigung voraus, sie ist für Simplicius aus eigener Willenskraft nicht erreichbar. Einzig in dieser paradiesischen Einsamkeit, fern von der europäischen Kriegsgesellschaft, scheint ein friedliches Leben im Einklang mit dem Liebesgebot Christi möglich. Doch Grimmelshausen ironisiert abschließend dieses Argument, mit dem Simplicius sich gegenüber den holländischen Seefahrern zu rechtfertigen versucht, die ihm die Rückkehr nach Europa anbieten. Indem Simplicius sich auf den Propheten Jonas beruft154, widerlegt er sich selbst. Der selbstgerechte Jonas mußte von Gott erst gezwungen werden, das sündige Ninive zur Umkehr aufzurufen; Feindesliebe läßt sich eben nur unter Feinden praktizieren, nicht im bequemen menschenleeren Südseeparadies. Dem tragen die simplicianischen Schriften Rechnung. Im Seltzamen Springinsfeld, im Rathstübel Plutonis und im Ewigwährenden Kalender begegnet der Leser dem zurückgekehrten alten Simplicissimus, der sich vorbildlich, mit Rat, wirksamen Schriften und sozialer Tat, um den christlichen Frieden wenigstens in seinem begrenzten oberrheinischen Wirkungskreis müht.

Grimmelshausen

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